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Kommentar zum chronischen Bürgerkrieg in der Türkei und der Strategie der PKK im Nahen Osten

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Ferda Koç,

Tayyip Erdoğan bei der Zeremonie zum Tag der Republik am Mausoleum des Staatsgründers Ataturk in Anitkabir, Oktober 2016 (REUTERS/Umit Bektas)
Tayyip Erdoğan bei der Zeremonie zum Tag der Republik am Mausoleum des Staatsgründers Ataturk in Anitkabir, Oktober 2016, REUTERS/Umit Bektas

In der kontrovers geführten linken Debatte um die so genannte kurdische Frage vertritt der Autor Ferda Koç die These, dass die Türkei einen, in wachsendem Maße, ethnisch-konfessionell aufgeladenen Mehrfrontenkrieg in der gesamten Region führt. Vor diesem Hintergrund kritisiert Koç die aktuelle Strategie und Taktik der kurdischen Organisationen in der Türkei und in Syrien.
 

Die AKP verfolgt das Ziel, sich als Kriegsmacht eines von ihr angezettelten Bürgerkriegs zu etablieren. Die PKK ist indes offensichtlich nicht willens, eine Politik zu verfolgen, die den Bürgerkrieg aufhalten könnte. Sie verantwortet Bombenanschläge, bei denen selbst die kurdische Bevölkerung nicht unterscheiden kann, ob sie vom IS oder doch von der TAK verübt wurden. Die Lösung der „kurdischen Frage“ in der Türkei von einem „Frieden im Nahen Osten“ abhängig zu machen und dafür einen ethnisch-konfessionellen Bürgerkrieg in der Türkei in Kauf zu nehmen, nützt weder dem Kampf um Demokratie noch dem nationalen Befreiungskampf.

Politisch gesehen gibt es keinen Unterschied zwischen den Bomben, die auf den Plätzen in Bagdad, in Damaskus und im Jemen explodieren und denen, die in Diyarbakır, in Suruç, auf dem Taksim-Platz in Istanbul oder in Kızılay in Ankara hochgehen. Politisch und militärisch gesehen besteht auch kein Unterschied zwischen dem grausamen Gemetzel der Kriegsmächte in Aleppo, Falludscha, Mossul und Sindschar und dem Gemetzel und der Zerstörung in Cizre, Nusaybin, Sur und Şırnak. Der Bürgerkrieg in der Türkei entwickelt sich als letztes Glied in einer Reihe provozierter Bürgerkriege im Nahen Osten, die eine ethnisch-konfessionelle Gestalt angenommen haben. Offensichtlich wird er nicht nur als ein türkisch-kurdischer, sondern auch als ein sunnitisch-alevitischer Krieg gestaltet.

Mehrfrontenkrieg

Unmittelbar nach dem Anschlag der TAK – Freiheitsfalken Kurdistans – in Beşiktaş wurden unter Rufen der AKP-Regierung nach Vergeltung Büros der HDP angegriffen. Mehr als dreihundert leitende Mitglieder sowie zwei Abgeordnete der HDP wurden verhaftet. Hierin zeigte sich die Entschlossenheit der AKP, die kurdische Frage auf eine „bewaffnete Konfrontation“ einzugrenzen, obwohl die vergangenen 32 Jahre bezeugen, dass aus einer solchen Auseinandersetzung kein Sieger hervorgeht. Doch der AKP geht es nicht mehr um einen Sieg; sie provoziert den Bürgerkrieg, um sich als Kriegsmacht zu etablieren. Die Führung der AKP entwirft ihre Zukunft mittels eines türkisch-kurdischen und sunnitisch-alevitischen Bürgerkriegs, in dem sie das politisch-militärische Zentrum der „Türken und Sunniten“ stellt. Aus diesem Grund schürt sie die Feindschaft gegen Kurden, Aleviten und Frauen sowie gegen eine säkulare Lebensweise.

Ihr erster Schritt, die Türkei zum Teil des Krieges im Nahen Osten werden zu lassen, bestand in der aktiven Mitwirkung bei der Provokation eines „Bürgerkriegs“ in Syrien. Dies führte zur „Pakistanisierung“ der Türkei. Das Land wurde in einen logistischen Stützpunkt für jihadistische Banden wie den IS und die Al-Nusra-Front verwandelt. Den zweiten Schritt der AKP stellte die Verquickung der kurdischen Frage in der Türkei mit der kurdischen Frage in Syrien dar, indem sie den IS auf Kobanê hetzte.

Auf der Grundlage dieser beiden Schritte wurden die Kontraguerilla, das Militär und der gesamte Sicherheitsapparat sukzessive islamisiert. Die Speerspitzen der Kontraguerilla, die Sonderkommandos der Polizei (PÖH) und der Gendarmerie (JÖH) sowie „autonome“ Banden, wurden zu aggressiven Verfechtern einer im Gewand des „Osmanismus“ gekleideten rassistisch-konfessionalistischen „türkisch-islamischen Synthese“. Sie schickten sich an, mit Unterstützung der Justiz und anderer Behörden, KurdInnen, AlevitInnen und SozialistInnen zu terrorisieren. Auf der politischen Ebene reift diese türkisch-islamische Synthese in Form einer Koalition zwischen der AKP, der MHP und „Ergenekon“ – einem militärisch-zivilen Netzwerk – sowie einer „Präsidialverfassung“ heran.

Die gesellschaftliche Grundlage und die Kräfte des Bürgerkriegs in der Türkei entwickeln sich im Zuge des Krieges im Nahen Osten. Vor unseren Augen entwickelt sich ein „Bürgerkriegsstaat“. Gestützt wird er nicht nur von militärischen Sicherheitseinheiten wie PÖH-JÖH, jihadistischen Banden und ihren „zivilen“ Unterstützernetzwerken, sondern auch von privaten militärischen Unternehmen wie „SADAT“ und „zivilen“ Vorfeldorganisationen wie die „Osmanischen Vereinigungen“, die von der Regierung gelenkt werden. Hinzu kommen die Medientruppe der Regierung, ihre Trolle in den sozialen Medien sowie die AKP-Justiz.

Strategie der PKK im Nahen Osten

In der Folge verließ die PKK ihre Linie, die Lage in der Türkei ins Zentrum ihrer strategischen Ausrichtung zu stellen. Fortan bestimmten die Stellungskämpfe in Syrien und im Irak über die Front in der Türkei. Die „schleierhaft“ erscheinende gegenwärtige Linie der PKK sollte in diesem Rahmen bewertet werden. Nachdem sie den seit März 2015 anhaltenden Provokationen der AKP, einen Krieg anzuzetteln, zunächst widerstand, nahm die PKK schließlich doch die Kriegserklärung an. Indem sie das tat, ließ sie sich auf die Politik der AKP ein, die Türkei in eine weitere Front des Krieges im Nahen Osten zu verwandeln. Damit verabschiedete sie sich praktisch von der Strategie, den bewaffneten Kampf in der Türkei aufzugeben, die Lösung der kurdischen Frage im Rahmen einer Demokratisierung innerhalb der Türkei anzustreben und die kurdische Bewegung in eine Bewegung zu verwandeln, die die ganze Türkei umschließt (HDP-HDK Projekt).

Dieser Strategiewechsel machte die gesamte politisch-repräsentative Macht der kurdischen Bewegung, die in vielen Kommunen Kurdistans die Bürgermeister und mit der HDP die drittstärkste Partei im Parlament stellte, funktionslos. Zugleich drängte dieser Politikwechsel Abdullah Öcalan an den Rand.

Ist die PKK mit diesem Strategiewechsel einer Provokation durch Erdoğan erlegen?

Aufgrund der Verquickung der AKP mit den Jihadisten war sich die PKK durchaus bewusst, dass in Syrien keine Strategie in Übereinstimmung mit der AKP möglich war. Die Errungenschaften in Rojava über Bord zu werfen, war für die PKK unvorstellbar. Vieles weist darauf hin, dass die PKK mit dem Angriff auf Kobanê zu der Ansicht gelangte, dass die AKP sich nicht nur vom Friedensprozess in der Türkei abgewendet hatte, sondern auch mit ihrer Politik in Syrien zum Scheitern verurteilt war. Anstatt auf eine Wiederaufnahme des Friedensprozesses basierend auf den Verhandlungen auf der Gefängnisinsel Imrali, auf der Abdullah Öcalan festgehalten wird, zu drängen, entschied sich die PKK für eine Lösung im nahöstlichen Rahmen.

Eigentlich war die PKK schon mit der US-Invasion im Irak im Jahr 2003 zu der Feststellung gelangt, dass sich die politischen Bedingungen im Nahen Osten zugunsten der „Kurden“ verschoben. Mit dem Bürgerkrieg in Syrien und dem Vorstoß des IS auf Mossul erhielt die PKK die Chance, eine Führungsrolle im Nahen Osten, versinnbildlicht durch die Kämpfe in Kobanê und dem Sindschar-Gebirge, zu erlangen. Sie entwickelte auf verschiedenen Ebenen Beziehungen zu den drei großen Mächten – USA, Russland und Iran –, die über den Ausgang des Bürgerkrieges in Syrien bestimmen werden.

Die Prognose der PKK ist, dass die Niederlage der jihadistischen Kräfte in Syrien Erdoğans Herrschaft einen tödlichen Stoß versetzen, ihn abseits des Verhandlungstischs im Nahen Osten platzieren werden, und dass ein legaler Status für Rojava sowie die Teilnahme an der Offensive gegen den IS im Irak die PKK zu einer anerkannten Teilnehmerin am Prozess der politischen Neugestaltung des Irak und Syriens machen wird. Im Lichte dieser Prognose bewertet sie den Kampf im „türkischen“ Teil von Kurdistan als eine Verlängerung der Front in Syrien.

Dass die PKK nicht willens ist, eine Politik zu verfolgen, die den von der AKP angezettelten Bürgerkrieg stoppen könnte, zeigt sich in den trotz großer Tragödien immer und immer wieder von neuem gestarteten „Barrikaden-Kriegen“, die Ohnmacht und Resignation hervorriefen, aber keine populare Unterstützung durch einen Volksaufstand erhielten. Es zeigt sich aber auch in den Bombenanschlägen auf ein Polizeirevier in Diyarbakır, auf Sicherheitskräfte an einer Bushaltestelle im Zentrum von Ankara (Kızılay) und in der Nähe eines Fußballstadiums in Istanbul (Beşiktaş), bei denen selbst die kurdische Bevölkerung nicht unterscheiden kann, ob sie vom IS oder doch von der TAK verübt wurden.

Zwar erklärt die PKK immer wieder, die Anschläge der TAK dienten der Vergeltung, sie zielten auf militärische Einheiten. Doch verursachen die Bombenanschläge regelmäßig den Tod von ZivilistInnen, sie erzeugen Angst und Panik innerhalb der Bevölkerung. Steigt der Druck aus der HDP und der demokratischen Öffentlichkeit, solche Anschläge klar zu verurteilen, distanziert sich die PKK stärker und ergänzt, dass sie Anschläge, bei denen ZivilistInnen zu Schaden kommen, nicht gut heiße.

Die Behauptung, die TAK sei unabhängig von der PKK, ist aber nicht glaubwürdig. Es ist allgemein anerkannt, dass die TAK Attentate verübt, zu denen sich die PKK nicht offen bekennen kann. Die PKK hat keine praktischen Schritte unternommen, um diese „Gewissheit“ zu widerlegen. Hinweise, wonach die AttentäterInnen in PKK-Camps ausgebildet werden und auf die logistische Unterstützung der PKK angewiesen sind, wurden von ihr nicht entkräftet. 

Zwickmühle des Krieges

Während die PKK die Lösung der kurdischen Frage mittels Friedensverhandlungen im Rahmen des Krieges im Nahen Osten anvisiert, nimmt sie die Politik der AKP, den Krieg im Nahen Osten in einen Bürgerkrieg der Türkei zu verwandeln, durchaus zur Kenntnis und positioniert sich als eine Partei dieses Bürgerkrieges. Doch ein ethnisch-konfessioneller Bürgerkrieg wie im Nahen Osten erzeugt eine Stimmung des reaktionär-rassistischen Wahns, aus dem sich der von Erdoğan angeführte Faschismus erhebt, den zu stoppen und „den Bürgerkrieg zu verhindern“, sich ein Großteil der sozialistischen Bewegung in der Türkei verpflichtet fühlt.

Die Sozialdemokratie hingegen betrachtet den Bürgerkrieg, basierend auf ihrem Reflex den Staat zu schützen, als unausweichlich und positioniert sich an der „Seite des Staates“. Dass sich der Staat bereits in einen „türkisch-sunnitischen Bürgerkriegsstaat“ verwandelt hat, bildet die wichtigste innere Spannung, die diese Positionierung innerhalb der Sozialdemokratie erzeugt. Die innere Spannung paralysiert nicht nur die Sozialdemokratie, sondern versperrt zugleich der linken Bewegung den Weg. 

Kurz, wir befinden uns wieder in einem dieser Momente, in dem die politische Schere zwischen dem Kampf um Demokratie in der Türkei und dem nationalen Kampf des kurdischen Volkes auseinandergeht. Bis dato hat dieses Auseinanderdriften weder der sozialistischen Bewegung der Türkei noch der kurdischen Bewegung genutzt. Ganz im Gegenteil: Während ein Auseinanderdriften beide Oppositionsbewegungen schwächte, gingen sie aus einer Annäherung immer gestärkt hervor.

Diejenigen, die diese Tatsache aufgrund der Erwartung, ein Frieden im Nahen Osten werde die Türkei demokratisieren und zugleich den Kurden einen politischen Status bescheren, ignorieren oder als unbedeutend hinstellen, müssen daran erinnert werden, dass die gleichen Erwartungen an die EU-Beitrittsverhandlungen gerichtet wurden. Da ein möglicher „Frieden im Nahen Osten“ von den hegemonialen Mächten und imperialistischen Zentren bestimmt sein wird, sollte nicht erwartet werden, dass dieser Prozess ein anderes Resultat als bei den EU-Beitrittsverhandlungen hervorbringt.

Es ist keine vernünftige Politik der PKK, die Lösung der kurdischen Frage in der Türkei von einem Frieden im Nahen Osten abhängig zu machen und dabei einen ethnisch-konfessionellen Bürgerkrieg auch in der Türkei in Kauf zu nehmen. Denn das Mächtegleichgewicht in der Region, gekennzeichnet durch ein Geflecht von gegenseitigen Interessen und Abhängigkeiten der imperialistischen Zentren (einschließlich Russlands) und der reaktionären Staaten (Iran, Syrien und Türkei), schließt eine endgültige Niederlage oder Ausgrenzung jeglicher in der Region präsenten Staaten aus. Es ist durchaus möglich und auch wahrscheinlich, dass ein chronischer Bürgerkrieg, bei dem reaktionäre Kräfte die Initiative haben, den offenen Faschismus in der Türkei permanent macht und zum Status quo erhebt. Durchaus nicht unwahrscheinlich ist, dass eine Türkei mit diesem Status quo gemeinsam mit den reaktionären Kräften der Region und den imperialistischen Zentren am „Friedenstisch des Nahen Ostens“ eine Vereinbarung zum Nachteil der kurdischen Bevölkerung in der Türkei aushandelt und sie damit zu „Leidtragenden eines politischen Status“ macht, den die kurdische Bewegung in anderen Regionen errungen hat.


Ferda Koç ist Publizist und Redakteur der Zeitschrift Halkın Sesi sowie des Internetportals sendika.org. Sendika.org wurde in den vergangenen Monaten insgesamt 13 mal verboten und macht nun als sendika14.org​ weiter.

Die Veröffentlichung des Beitrags erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Infobriefs Türkei. Der Artikel wurde von Infobrief Türkei aus dem Türkischen übersetzt. Er basiert auf den am 23.3.2016 und 13.12.2016 in sendika.org veröffentlichten Artikeln des Autors.