Publikation Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Kapitalismusanalyse - Soziale Bewegungen / Organisierung - Rassismus / Neonazismus - Erweiterung des Terrains Die Macht der Migration

Vassilis Tsianos: «Die Grenzüberschreitung ist per se Politik und ein aktiver Beitrag zur Demokratisierung Europas.»

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Reihe

Online-Publ.

Autor

Vassilis Tsianos,

Erschienen

Mai 2017

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Nur online verfügbar

Vassilis S. Tsianos
Vassilis S. Tsianos, Foto: Privat

Vassilis S. Tsianos, Migrationsforscher, Kanak-Attak-Aktivist, zur Macht der Migration und ihrem Beitrag für eine radikaldemokratische Erneuerung Europas.

Unter dem Titel «Die Erweiterung des Terrains. Migrationspolitik als Transformationsprojekt. Eine Baustellenbesichtigung» befragt unser Autor Günter Piening zehn ausgewiesene Expert*innen im Bereich der Migrations- und Rassismusforschung zu Perspektiven (post-)migrantischer Interventionen. Die einzelnen Gespräche thematisieren das europäische Grenzregime, globale Bürgerrechte, die Rolle des Wohlfahrtstaates in den Klassenauseinandersetzungen, die Solidarität in betrieblichen Kämpfen, die Geschlechterfrage in postkolonialen Verhältnissen, die Kämpfe der Geflüchteten um Teilhabe und die Stärke (post-)migrantischer Lebenswelten. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie Migration als ein Vermögen begreifen, die soziale Frage in einem demokratisierenden Sinn zu beantworten. Unser Dossier «Migration» setzt damit der gesellschaftlichen Polarisierung, die gegenwärtig vor allem um die Frage von Einwanderung, Teilhabe und Bürgerrechte kreist, eine linke Position jenseits national-sozialer Kurzschlüsse entgegen.
Bis Ende Juni 2017 veröffentlichen wir jeden Montag eines der insgesamt zehn Expertengespräche.

Günter Piening:  Im Bemühen Migration mit marxistischem Instrumentarium zu untersuchen, wird in Deutschland besonders häufig – auch von Ihnen – auf dem italienischen Post-Operaismus aufgebaut. Was macht diesen Ansatz so attraktiv für die Analyse von Migrationsprozessen und deren Transformationspotenzial?

Vassilis Tsianos: Kurz gefasst: Für mich hat Kapitalismuskritik etwas mit den Subjekten der sozialen Kämpfe zu tun und basiert nicht auf Wertkritik und den damit verbundenen Assoziationen bis hin zu diesem verhängnisvollen Geschichtsdeterminismus. Für die Betrachtung der Migration heißt das: Die linke Vorstellung, dass Migranten vorrangig Opfer und Objekte von Kapitalverwertung sind und Migration vor allem dazu dient, die Arbeiterklasse durch Differenzierung der Arbeitskraft und durch Rassismus zu spalten, finde ich nicht angemessen. Migration ist Mobilität von Arbeitskraft. Das Konzept der «Autonomie der Migration» setzt Ausbeutungskritik und die grenzüberschreitende Macht dieser Transit-Subjekte in Verbindung und erlaubt, die dadurch ausgelösten Dynamiken in den «Klassenverhältnissen» der Einwanderungsgesellschaften zu verstehen.

Ich dachte immer, dass diese Dynamik durch die Klassen selbst kommt und nicht von einer bunten Truppe von Heimatlosen, die vom Flüchtling über den Vertragsarbeiter bis zum Jet-Setter reicht.

Dass wir die Klassenverhältnisse unterbewerten, ist ein immerwährender Vorwurf, aber er ist falsch. Erstens: Migration ist nicht abstrakte Mobilität, ist keine Chiffre für die wundervolle Welt des Kosmopolitismus. Migration hat immer den Stallgeruch des Ghettos, der ethnischen Unterschichtung des Arbeitsmarktes und des globalen Elends. Zweitens: Zwangs-Mobilität und der Kampf für die Freiheit von Festsetzung durch den Patron war immer ein Aspekt der der gelebten Erfahrung der globalen Arbeiterklasse, besser: Klassen. Wir sehen Migration als eine Klassenkategorie, die die Mobilität im Klassenbildungsprozess mitdenkt.

Migration versetzt die Subalternen der Welt in die Lage, die herrschenden metropolitanen Gesellschaften des Nordens herauszufordern.

Warum von Subalternen und Ausbeutungsverhältnissen und nicht von Kapitalismus reden ?

Kapitalismuskritik als Kritik warenförmiger Vergesellschaftung ist für mich selbstverständlicher Bestandteil jeder Gegenwartsanalytik, man kann keine ernstzunehmende Analyse der Gegenwart ohne sie betreiben. Aber es gibt eine Reihe von Ausbeutungs- und Diskriminierungsverhältnissen, die nicht deckungsgleich mit dem Projekt der kapitalistischen Verhältnisse sind – rassistische, sexistische, kulturzentristische Verhältnisse, Verhältnisse der Produktion und Regierung von Differenz.
 

Globale Subalternität

Wenn wir nicht von der Arbeiterklasse reden, sondern von globaler Subalternität, dann suchen wir auch ein Verständnis für die postkoloniale Moderne und ihr Verhältnis zum Kapitalismus. Wir brechen mit dem methodologischen Eurozentrismus einer marxistischen Vulgata, der darin besteht, dass die Geschichte der Arbeiterbewegungen als vorgängig für die Durchsetzung einer universalistischen sozialistischen Befreiungskultur behauptet wird. Das Gegenteil ist der Fall: Es war und ist der globale antikoloniale Kampf der Subalternen, der eine Alternative zur männlich und arbeitszentrierten Vorstellung von Gleichheit etabliert und damit das Verhältnis von race, gender, class neu gefasst hat.

Für mich bleiben diese operaistischen Begrifflichkeiten und Ansätze ziemlich vage und beliebig. Da bin ich leider doch wohl ein Stück Traditionalist geblieben. Worin besteht denn nun die Macht der Migration, ihr transformatorisches, den Kapitalismus transzendierendes Potenzial?

Ohne ein wenig Operaismus geht es aber nicht. Der Operaismus hatte die Fabrik und den Widerstand gegen die Disziplinierungsverhältnisse zum Ausgangspunkt und hat darin die Mächtigkeit der Klasse neu erfunden. Der Widerstand gegen die Kontrolle des Kapitals verräumlichte sich im Fabrikkampf. Der Postoperaismus geht davon aus, dass das Potenzial für soziale Transformation die Wände der Fabrik hinter sich gelassen hat und die gesamte gesellschaftliche Produktion und Reproduktion erfasst hat. Ein Stichwort wäre etwa die Entgrenzung von prekären Arbeits- und Lebensverhältnissen, ein anderes die Entgrenzung von Residualismus, da sind wir bei der Migration – der erwünschten wie der nicht erwünschten.

Die Institution der Grenze ist eine der letzten totalen Disziplinierungsinstitutionen der europäischen Gesellschaften.

In der Migration sammeln sich Erfahrungen im Umgang mit dem Nord-Südgefälle und vor allem mit dem Grenzkontrollregime und dem Überwachungsstaat. Die Institution der Grenze ist eine der letzten totalen Disziplinierungsinstitutionen der europäischen Gesellschaften. Eine Grenzkritik zu artikulieren, die nicht abstrakt bleibt, sondern die gelebten Erfahrungen der Transit-Migranten und ihre Form der Grenzunterwanderung zur Basis hat – ohne diese Erfahrungswelt zu heroisieren oder exotisieren wie im klassischen linken Internationalismus – das macht die Stärke dieses Ansatzes aus.

Aber was verändern diese Kämpfe um Grenze in den Kräfteverhältnissen der europäischen Gesellschaften, in der EU insgesamt?

Die Praxis der Grenzüberschreitung ist per se Politik. Migration hat mit drei Aspekten zu tun, die bei den nationalisierten Arbeiterklassen nicht vorkommen: Grenze, Zugehörigkeit, Differenz. Diese Grunderfahrungen bringt die Migration als Mobilität innerhalb der Prozesse der Klassenzusammensetzung ein. Die Art und Weise, in der Migration das europäische Grenzdogma attackiert, ist ein aktiver Beitrag zur Demokratisierung der Grenze und der europäischen Gesellschaften insgesamt. Genau das ist ihr Beitrag zur großen Transformation.

 
Institution der Grenze: Frontex
«Die Institution der Grenze ist eine der letzten totalen Disziplinierungsinstitutionen der europäischen Gesellschaften. Ich sehe in den digitalisierten und anderen migrationspolitischen Kontrollpraktiken Testläufe für gesamtgesellschaftliche Anwendungen.» (Vassilis Tsianos) Demonstration vor der Frontex-Zentrale in Warschau, 2008, CC BY 2.0, Noborder Network
Die autoritäre Transformation Europas

Linke Politik hieße letztlich, das Mosaik dieser gelebten Erfahrung der Migration in Formen zu überführen, die Verbindungen mit anderen politischen und sozialen Bewegungen ermöglichen. Die internationale Migration, so wie wir sie durch die Verhinderungsanstrengungen an der europäischen Grenze wahrnehmen, stellt die Frage, wie wir mit der autoritären Transformation der europäischen Gesellschaft umgehen. Das ist das zentrale Demokratisierungsprojekt, für das wir hier zuständig sind, und nicht die Festgenommen an der Grenze. Ich sehe in den digitalisierten und anderen migrationspolitischen Kontrollpraktiken Testläufe für gesamtgesellschaftliche  Anwendungen. Das ist ein großes Terrain für uns metropolitanen Politiksubjekte mit und ohne Migrationshintergrund.

Nun zeigt sich die alteingesessene europäische Arbeiterklasse gar nicht erfreut über diese konstitutive, das Grenzregime in die Defensive zwingende Macht der globalen Subalternen. Man sieht darin mehr eine Konkurrenz, die die eigene Durchsetzungsfähigkeit schwächt, als einen Träger von Kompetenzen zur Erweiterung des Terrains.

Die europäische Arbeiterbewegung war immer geprägt von einer gewissen Unentschiedenheit im Umgang mit den globalen Subalternen. Aber es waren die britischen Arbeiter*innen, die auf Zucker in ihrem Tee verzichtet haben, es waren die französischen Arbeiter*innen, die die ersten gemeinsamen lokalen Aktionen mit algerischen Gastarbeiter*innen versucht haben. Erst die Blockade der gelebten Erfahrung der transnationalen Zusammensetzung der Klassen führte zu Nationalismus, Antisemitismus und Antimigrantismus. 

Eine schlimme Rolle spielt dabei die Entwicklung des europäischen Wohlfahrtsstaates. Jede Form der Einführung vom Wohlfahrtsstaat war verbunden mit einem bewussten Umgang damit, wer ausgeschlossen wird. Das waren die Frauen, das waren die polnischen Arbeiter*innen im wilhelminischen Reich, die noch kolonialen Arbeitssubjekte in Frankreich und England. Die Einführung einer graduellen Egalität zugunsten des weißen Facharbeiters war immer geprägt von rassistischen, sexistischen und auch klassenmäßigen Ausschlüssen.

Verlassen wir ein wenig die Arbeiterklasse und betrachten den Bezug von zivilgesellschaftlichen und linken Gruppen auf die Kämpfe der Migration. Was wäre linker Transnationalismus heute?

Transnationalismus ist kein Internationalismus, kein ideologisches Projekt zur Erreichung einer Einheit, wie es etwa im Begriff «Solidarität» aufgehoben ist. Ich komme aus einem Teil der griechischen eurokommunistischen Linken, der niemals gute Erfahrungen mit Solidarität hatte. Solidarität war immer verbunden mit Formen von Abhängigkeit im Namen einer egalitären Adressierung, die de facto zur Korruption derjenigen führten, die die Solidarität anmahnten.
 

Linker Transnationalismus

Wir sollten einen Schritt zurückgehen und Formen der Intimität, ja der Komplizenschaft betrachten, Formen der Übernahme von Verantwortung auch für Dinge, die man nicht sofort versteht. Das würde ich unter linkem Transnationalismus verstehen. Transnationalismus bedeutet etwa, eine transnationale Liebschaft – und die Konsequenzen zu tragen; bedeutet, plurilokal zu leben und zu kämpfen; bedeutet diese ganze Palette von Belastungen auszuhalten, die man haben kann, wenn man mit transnationalen Subjekten umgeht – die große Familie, die plötzlich abends uneingeladen in die Wohnung kommt, und nicht weg geht, die Schulden, die nicht zurück bezahlt werden, kulturelle Exzesse der Veruneindeutigung.

Ist das nicht ein wenig zu kleinteilig, um die deutsche, die europäischen Gesellschaften zu demokratisieren, um gleiche Rechte für Alle durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass «kein Mensch illegal» leben muss?

Ich kann mir keinen auf Emanzipation ausgerichteten Transnationalismus vorstellen, der nicht imstande ist, auch auf die basalen Formen der Sozialität der Subalternen einzugehen.

Optimistisch stimmt mich, dass dieses ja millionenfache Praxis ist, und sie findet nicht mehr in den Hinterhöfen der Republik der statt, sondern im Zentrum dessen, wo Demokratie, Differenz und postnationaler Republikanismus ausgehandelt wird. Ich rede von den 20 Prozent in Europa, die selbst Migrationsgeschichte haben. Rechnen wir auch die sozialen Verhältnisse dazu, die nicht direkt mit Migration zu tun haben, sehen wir, dass eine demografische Mehrheit in diesen Prozessen der Intimität, des Inbeziehungsetzens eingebunden ist. Die aktuelle Form der Migration ist eben nur ein Teilaspekt der gesamten Migrationsherausforderung. Deshalb ist die Figur der postmigrantischen Gesellschaft so ergiebig.

Eure Solidarität ist immer eine begrenzte.

Da wären wir ja schon bei der Willkommensbewegung, der nachgesagt wird, dass sie den Erfahrungsraum der postmigrantischen Gesellschaft regional und sozial ausdehnt und Lernerfahrungen vertieft und verbreitet. Kritiker heben demgegenüber den Paternalismus und Rassismus in dieser Bewegung hervor. Wie ist Ihr Verhältnis zur Solidaritätsbewegung?

Ich habe widersprüchliche Gefühle. Ich war bei der Überreichung von Kleidung durch eine ältere mehrheitsdeutsche Lady. Aber die syrische Geflüchtete wollte dieses nicht annehmen – Klassenstolz. Und ich merkte, wie sauer diese sich Solidarisierende war. Das ist für mich extrem deutsch. Eure Solidarität ist immer eine begrenzte, hat mit Überlegenheits-Habitus zu tun.

Bauchschmerzen bereitet mir auch die Überthematisierung der Figur der Flucht auf Kosten der Geschichte und Gegenwart der Migration. Ich habe ein Problem, wenn wir nicht mehr über die Situation der Gefängnisse und den überproportionalen Anteil von Gefangenen mit Migrationsgeschichte reden oder wenn wir racial profiling wie dieses Jahr in Köln nicht thematisieren können.

Ich sehe aber auch die vielen anderen Geschichten – die Autokonvois, die unbescholtenen Bürger*innen, die sich plötzlich als Schlepper kriminalisiert sehen - das sind großartige Momente eines postmigrantischen Transnationalismus. Aus dem Blickwinkel der postmigrantischen Gesellschaft könnte man sagen: Es ist das erste Mal, dass die deutsche Mehrheit ein Verständnis von Migration entwickelt hat, das nicht kriminalisierbar war, wo die Migrant*innen nicht unter dem Generalverdacht eines «falschen Asylanten» standen. Sie waren zum ersten Mal richtige «Refugees»!

Und dann häuften sich die Angriffe, kam die Normalisierung rassistischer Gewalt in Wort und Tat. Und die vom Neoliberalismus prekarisierten Underdogs laufen zur AfD, weil sie fürchten, die paar Cent, die sie verdienen, mit den Habenichtsen von draußen teilen zu müssen ...

Das ist Quark. Wenn wir die soziale Textur der AfD anschauen – mit und ohne Sachsen - fällt auf: 1. die Geschlechterverhältnisse – betroffene Männlichkeit. 2. Es geht um Mittelklasse, z.B. in Sachsen die Handwerker und Selbstständigen im Kontext von schrumpfenden Städten. Diese Mittelschicht, die Angst davor hat, dass sie nicht mit der gleichen Geschwindigkeit hinzugewinnt, ist die soziale Basis von Brexit, Trump und AfD.
 

Der Neoliberalismus vor seiner autoritären Phase

Der Neoliberalismus ist angegriffen und baut nach einer vergleichsweise liberalen Phase, in der mit Toleranz- und Diversitätskonzepten und der Durchsetzung des Integrationsparadigmas die brauchbaren Teile der migrantischen Arbeitskraft in die Leistungsgesellschaft eingepasst wurden, jetzt auf oligarche Formen der Hegemonie. Er wird reaktionär, ohne die neoliberale Verwertungslogik zu ändern. Dabei spielen die konservativen Reformeliten eine zentrale Rolle. Die treibenden Kräfte tragen Namen wie Thilo Sarrazin, nicht wie Karl Malocher. Das sind diejenigen, die neue Grenzen haben wollen, die in Europa eine national verfasste Leistungsgesellschaft anstreben, die wieder über race und white supremacy funktioniert. 

Auf jeden Fall muss eine auf Emanzipation und Menschenrechte ausgerichtete Migrations- und Partizipationspolitik diese Entwicklungen in den Fokus nehmen, denn der Rechtsruck bestimmt derzeit die Spielräume. Eine linke Antwort ist, dass eine bessere Sozialpolitik die beste Prävention gegen Rassismus und antimigrantische Stimmungen ist. Stimmen Sie zu?

Als wir vor Jahren erstmals vom Prekariat gesprochen haben als dem neuen Gesicht der Arbeitsgesellschaft, war der erste politische und strategische Reflex der linken Parteien in Europa: ein besserer Sozialstaat muss her!

Dieser Reflex der linken Parteien hat mich nie besonders überzeugt. Die Geschichte des Sozialstaates ist auch die Geschichte der europäischen Disziplinargesellschaft. Wir können nicht darüber reden ohne die Vergewaltigung der Kinder in den Heimen, ohne die Bekämpfung jeder Autonomie der Jugend, ohne den autoritären Umgang mit Abtreibung, die Kämpfe um die Liberalisierung von Drogen, ohne die Kämpfe für plurale familienähnliche Formen mit zu berücksichtigen. Der Sozialstaat ging immer auf Kosten der Subalternen und der Differenz.

Die Bemühung für Umverteilung und einen starken Wohlfahrtsstaat nimmt immer etwas in Kauf: Der Preis für ein Stückchen soziale Sicherheit ist die Einschränkung von Freiheit und Selbstbestimmung. Das kann nicht die Antwort eines linken Projektes sein. Das können auch die Nationalisten machen, und das machen sie ja auch.

Unsere Stärke ist die Verbindung von Gleichheit und Freiheit, die Verbindung eines radikaldemokratischen Gestaltungsbegehrens mit einer flächendeckenden auf Nachhaltigkeit orientierten sozialen Partizipation und Inklusion. Der Wohlfahrtsstaat ist reformierbar nur unter der Bedingung, dass wir ihn radikaldemokratisch gestalten. Dieses gilt gerade für die postmigrantischen Gesellschaften mit ihren verschachtelten Ein- und Ausschlüssen.


Vassilis Tsianos ist Professor an der Fachhochschule Kiel. Seine Arbeitsbereiche sind Soziologie der postmigrantischen Gesellschaft, Rassismuskritik, Stadt- und Migrationssoziologie und Digitale Grenzen Europas. Er gehört zu den Initiatoren von Kanak Attak, deren Manifest den Startschuss für eine Umorientierung der Migrationsforschung legte. Tsianos ist im deutschsprachigen Raum einer der führenden Analytiker der Kämpfe um Grenze und Kämpfe der Migration. Sein gemeinsam mit Dimitris Papadopoulos und Niam Stephenson geschriebenes Werk «Escape Routes. Control and Subversion in the Twenty-first Century» (London: Pluto Press, 2008) erlaubt durch die Analyse der «Unwahrnehmbaren Politik» (imperceptible politics) einen vertieften Blick auf die Kämpfe der Migration.

Das Interview fand statt am 17.1.2017. 

 

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