„Die 68er Bewegung in der Schweiz: Politisches Engagement als Lebensinhalt und als Lebensform 1965-1978“: das ist der Name eines Forschungsprojektes, in dem die Herausgeberin des vorliegenden Bandes unter der Leitung von Brigitte Studer (Universität Bern) und Jean Batou (Lausanne) arbeitet. Das Projekt soll in erster Linie die biographischen und subjektiven Ebenen von „1968“ erschließen helfen. Zwar fehlen Angaben zu den AutorInnen des hier anzuzeigenden Bandes, ihre Beiträge dürften in der Regel aus studentischen Abschlussarbeiten entstanden sein, während das Buch selbst wohl im Zusammenhang des 2010 sein Ende findenden Projektes steht.
„1968–1978“ enthält ein ausführliches Vorwort und sodann 23 Beiträge, die den vier Kapiteln „Die schweizerische 68er Bewegung im Kontext der globalen Protestwelle“, „Die internationale Solidarität als politisches Engagement“, „Die Geschlechterbeziehungen im Fokus der 68er Bewegungen“ und „Gegenkultur und Reaktion des Establishments“ zugeordnet sind. Acht der Beiträge sind in französischer Sprache verfasst.
Marianne Studer lässt in ihrem Artikel die gemeinsamen kognitiven Orientierungen der 68er Revue passieren, um dann den Subjektivismus und die „Betroffenheit“ als zentrale politische Praxis zu reflektieren. Marica Tolomelli vergleicht nochmals 1968 in der Bundesrepublik und in Italien. Das zweite Kapitel widmet sich einem bis heute wichtigen Feld der schweizerischen Linken, dem Internationalismus. Die internationale Solidaritätsbwegung darf in der Schweiz als eines der am besten historisch erforschten Aktionsfelder der 1968er und ihrer NachfolgerInnen gelten, auch aus diesem Grunde wurden dazu im letzten Jahrzehnt etliche Veröffentlichungen (auto-)biografischer und organisationsgeschichtlicher Couleur vorgelegt. Manuel Schär untersucht die Wandlungen, die der Begriff „Entwicklung“ um 1968 herum in der Schweiz erfuhr und die verkürzt mit dem Satz “Von der Modernisierungs- zur Dependenztheorie“ umschrieben werden können. Konrad Kuhn stellt mit der „Erklärung von Bern“ einen wichtigen entwicklungspolitischen Akteur der 1970er Jahre näher vor. Marc Griesshammer berichtet über die Vietnamsolidarität in der Schweiz und Marcel Dreier untersucht am Beispiel der politischen Arbeit zu einigen afrikanischen Ländern, wie durch die Vorherrschaft eines „sehnsuchtsvollen Romantizismus“ in der antiimperialistischen Solidaritätsarbeit die konkrete historische Realität des Modells „nationaler Befreiung“ allzu oft aus dem Blick geriet. Schließlich berichtet Nuno Pereira über die schweizerische Solidaritätsarbeit zu Portugal.
Das nächste Kapitel widmet sich der (neuen) Frauenbewegung und der Veränderung der Geschlechterbeziehungen. Anfang 1975 fand in der Schweiz die erste öffentlich wahrnehmbare Auseinandersetzung zwischen der etablierten und der neuen Frauenbewegung statt. Die feministischen Proteste gegen den 4. Schweizerischen Frauenkongress waren zugleich der Auftakt der national koordinierten „Abtreibungskampagne“, wie Renate Schär berichtet. Stefan Bittner nimmt in seinem Beitrag wieder das Motiv des „Romantischen“ auf und untersucht am Beispiel einer Aussteiger-Gruppe ein Beispiel aus den experimentell-emotionalen Subkulturen. Das in der Forschung zu „1968“ immer wieder aufgegriffene Phänomen der transnationalen Kommunikation und Interaktion ist das Leitmotiv des Beitrages von Ariane Tanner. Sie berichtet über die Entstehung der bis heute existierenden Kommune „Longo mai“, die auf der Grundlage eines transnationalen Projekts unter Beteiligung verschiedener AktivistInnen aus Österreich und der Schweiz entstand. Die „Zürcher Produzentengalerie“ (Produga) ist ein Beispiel für kollektives Handeln von Kunstschaffenden. Die Produga arbeitete ab 1972 in und für die Neue Linke; sie gestaltete vor allem Plakate, am bekanntesten wurde ihre Arbeit für die Anti-Atombewegung Ende der 1970er Jahre. Sarah Minguet untersucht die „harte Reaktion“ der Verwaltung der Universität Lausanne auf die vom französischen Mai inspirierten Studierendenproteste und ihre Bemühungen, unter anderem durch eine enge Zusammenarbeit mit den Polizeibehörden, die Proteste zu kontrollieren. Der Gegenkulur widmet sich wiederum abschließend Maria Tortajada. Sie zeigt, wie das „nouveau cinéma suisse“ neue visuelle Formen von Repräsentation entwickelte.
2008 erschienen zwei Bände, die „1968“ und die Folgen am Beispiel der beiden wichtigen deutschschweizerischen Städte Bern und Zürich thematisierten. Der Band „1968-1978“ kann in diese Reihe der in Buchform publizierten gesammelten Mikrostudien eingeordnet werden. Der einleitende Beitrag von Studer geht zwar etwas tiefer, argumentiert aber nur entlang von Linien, die in der deutschsprachigen Debatte gängig sind. Eine Kontextualisierung innerhalb der schweizerischen Kultur- und Sozialgeschichte findet in den Beiträgen nur fragmentarisch statt. Insofern ist der Band auch kein – wie angesichts seines Titels vermutet werden könnte – Beitrag zur Debatte um die Boom-Jahre des Fordismus, sondern begrenzt sich eher auf die Bewegungsgeschichte im engeren Sinne.
Janick Marina Schaufelbuehl (Hg.): 1968–1978. Ein bewegtes Jahrzehnt in der Schweiz. Une décennie mouvementée en Suisse; Chronos Verlag: Zürich 2009. 334 Seiten, 31 Euro 31
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Silke Mende, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen hat am 14. März 2011 das Buch auf HSozuKult besprochen (zum Text).