Publikation Demokratischer Sozialismus Sechs Thesen zur Perspektive der Linkspartei: offene Fragen, Probleme, Herausforderungen

von André Brie. Im modernen sozialen Konflikt genügt ein Anti-Neoliberalismus nicht als gesellschaftliche Perspektive. Für das Ziel einer sozialen Demokratisierung müssen Eigentums- und Machtfragen wieder offensiv gestellt werden.

Information

Reihe

Online-Publ.

Autor

André Brie,

Erschienen

August 2005

Bestellhinweis

Nur online verfügbar

  1. Die Linkspartei. kann bei der wahrscheinlichen Bundestagswahl am 18. September mit einem großen Wahlerfolg rechnen, der die parteipolitische Tektonik in Deutschland heftig erschüttern würde. Die gegenwärtig stabilen Umfragewerte von 10 bis 12 Prozent für die neue Linkspartei sind nicht überraschend, wenngleich ein zweistelliges Wahlergebnis und das Ziel, drittstärkste Kraft im Deutschen Bundestag zu werden auch erst real erreicht werden müssen. Erstens gibt es ein in den letzten Jahren spürbar gewachsenes Wählerinnen- und Wählerpotenzial links von der SPD (und den Grünen) in Höhe von bundesweit mindestens 15 Prozent. Es besteht zu fast zwei Dritteln aus enttäuschten bisherigen SPD-, teilweise auch CDU-Wählerinnen und Wählern, bzw. sogenannten Nichtwählerinnen und Nichtwählern, vorrangig in den westdeutschen Bundesländern, die die SPD bereits seit Jahren politisch und kulturell nicht mehr binden konnte. Die linke Selbstdefinition dieser Menschen und ihre durchaus komplexe Übereinstimmung mit politischen Einschätzungen und Forderungen der PDS waren bekannt. Dennoch war die Barriere gegenüber der PDS aus geschichtlichen und kulturellen Gründen sowie aufgrund der Schwäche der Partei in Westdeutschland auch anderthalb Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung praktisch unüberwindbar. Zweitens waren das Aufeinanderzugehen von PDS und WASG sowie die für viele Menschen spektakuläre Bereitschaft Oskar Lafontaines und Gregor Gysis, sich an die Spitze einer eindeutigen Alternative zur neoliberalen Politik zu stellen, genau jenes Signal, das der Protesthaltung und den Hoffnungen vieler Menschen entsprach, die diese Politik als soziale Bedrohung, Spaltung und Ausgrenzung erleben. Angesichts des Fehlens einer politischen Aufbruchstimmung und der Schwäche alternativer sozialer Bewegung bedurfte es dieser starken Symbolik, um die weit verbreitete Passivität und Resignation zwar nicht in eine aktive gesellschaftliche Bewegung, aber wenigstens (und schlagartig) in ein reales alternatives Wählerpotenzial zu verwandeln.

  2. Damit sind aber auch erste Probleme und Herausforderungen offenkundig, die sich einer nachhaltigen Perspektive der Linkspartei entgegenstellen. Die Linkspartei hat, wenn sie keine großen Fehler macht, eine beträchtliche Sicherheit auf den Wahlerfolg am 18. September. Sie hat jedoch ganz und gar keine Sicherheit auf eine dauerhafte Perspektive und darauf, die mögliche und notwendige parteipolitische Plattform einer modernen, neuen Linken in Deutschland zu werden. Das ist weniger eine Frage danach, wie lange und wie wirksam Gysi, Lafontaine und Bisky für diese Neukonstituierung der Linken stehen, obwohl dahinter – bei aller Wertschätzung – zwar eine ganze Reihe kompetenter, aber nicht einmal im Ansatz ähnlich massenwirksamer und integrativer Persönlichkeiten stehen. Die eigentlichen Probleme sind jedoch viel größer: Die Linkspartei profitiert aktuell von massiver politischer Enttäuschung über die etablierten Parteien und der Erosion der traditionellen sozialdemokratischen Milieus. Letzteres ist im übrigen nach meiner Überzeugung nicht nur der Abkehr der SPD von sozialer und demokratischer Politik geschuldet, sondern auch den tiefgreifenden sozialstrukturellen Veränderungen in den modernen Gesellschaften, insbesondere der sozialen und kulturellen Ausdifferenzierung in allen gesellschaftlichen Klassen und Schichten. Auch die Linkspartei wird sich dauerhaft auf keine gefestigten Milieus und nur in der Minderheit auf Stammwähler stützen können, vor allem dann nicht, wenn sie eine Politik der sozialen Gerechtigkeit, Kohäsion und Solidarität nicht mit Antworten auf die große Differenziertheit und Individualität von Lebensplanungen der Menschen verknüpfen kann. Darüber hinaus sind drei unmittelbare Defizite der Linkspartei wahrscheinlich ohnehin schwer bestreitbar: erstens ihre Überalterung und die Schwierigkeiten, sich kulturell jungen Menschen zu öffnen (der gelegentliche Kandidaten-Jugendkult in der PDS ändert daran nichts), zweitens die Männerdominanz in PDS und mehr noch WASG und die dramatisch rückläufige reale Aufmerksamkeit für feministische Politik, drittens die geringen Berührungspunkte mit den neuen gesellschaftskritischen Bewegungen, mit kritischen Intellektuellen und europäischer und internationaler linker Diskussion.

  3. Dabei geht es, wie in allen anderen politischen und programmatischen Fragen, aber nicht um – die ebenfalls erforderlichen – Antworten, die in Parteistuben oder Parlamenten ausgearbeitet werden, so überzeugend sie im einzelnen auch sein mögen. Es geht um die gesellschaftliche Resonanz, die Veränderung des geistigen und politischen Klimas, ohne das die perfektesten Konzepte politisch irrelevant bleiben. Es geht um Gegenhegemonie, die den Neoliberalismus im gesellschaftlichen Protest und in parlamentarischer Arbeit grundlegend in Frage stellt und ihn – da liegen die derzeit größten Defizite – mit modernen, realistischen Alternativen herausfordert. Dazu bedarf es sicherlich größter intellektueller, kommunikativer und politischer Anstrengungen, von denen ohnehin nicht übermäßig viel zu sehen ist. Seitens der PDS-Führung wurde unmittelbar nach Schröders Entscheidung, die Bundestagswahlen vorzuziehen, das „Ende der akademischen Diskussion“ über eine Öffnung zur WASG verlangt. Erst unter dem Druck der Erklärung Oskar Lafontaines, er sei bereit für ein linkes Bündnis zu kandidieren, wurde zwei Tage später die Kehrtwende um 180 Grad vollzogen. Problematischer ist jedoch, dass diese Diskussion durch den Parteivorstand zuvor weder „akademisch“ noch gar politisch in der PDS geführt worden war. Es gibt in der PDS zahlreiche, oft auch überzeugende und differenzierte Konzepte gegen Hartz IV und die Agenda 2010, für eine gerechtere Steuer- und Finanzpolitik, immer wieder neu erfundene Vorstellungen für eine sich selbst tragende Wirtschaftsentwicklung in Ostdeutschland oder für eine Wertschöpfungsabgabe, mit der eine radikale, sozial gerechte und solidarische, wirtschaftlich vernünftige und zukunftsfähige Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme erreicht werden könnte. Was es aber in den letzten Jahren kaum gab (mit der bemerkenswerten Ausnahme des Bisky-Buches „So viele Träume“) sind intellektuelle Impulse und Angebote in die Gesellschaft hinein und die Beteiligung an der intellektuellen und gesellschaftlichen Diskussion. Da dominieren der Monolog und die Scheu, sich auf aktiv auf den Dialog mit den Andersdenkenden und Kritikern einzulassen. Es fehlen auch Kraft und Bereitschaft gleichermaßen, die Auseinandersetzung um ein politikfähiges friedens- und sicherheitspolitisches Konzept zu führen oder die in der PDS weiter als in jeder anderen politischen und sozialen Organisation gediehenen Vorstellungen eines öffentlich geförderten Wirtschaftssektors zum faszinierenden und strategischen Projekt eines starken dritten Wirtschaftssektors zu bündeln, der bürgergesellschaftliche Eigentumsformen, kommunale soziale Daseinsvorsorge, soziale und ökologische Nachhaltigkeit, regionalisierte Wirtschaftskreisläufe und den Ausbau der kulturellen Infrastruktur verbinden könnte. Die gesellschaftliche Resonanz auf die politische Protesthaltung der PDS bzw. der Linkspartei ist nicht gering und oft positiv. Die Resonanz auf die alternativen Konzepte ist dagegen klein. Die Zeit, als der Parteivorstand sich einen offiziellen Vertreter der katholischen Kirche zum Streit über die Sozialpolitik, Ernst-Ullrich von Weizsäcker zur Debatte um ökologische Nachhaltigkeit einlud oder gar sich vom Parteienforscher Peter Lösche persönlich sagen ließ, dass die PDS die biederste Partei Deutschlands sei, liegt fast ein Jahrzehnt zurück.

  4. Doch das ist nur die eine Seite, nicht einmal die schwierigste. Es bedarf etwas noch Wichtigerem: einer Gesellschaft, zumindest wesentlichen Teilen der Gesellschaft, die nicht nur protestieren und resignieren oder allenfalls die Standards der Vergangenheit verteidigen (was natürlich dennoch bedeutsam ist), sondern die neuen Antworten, die beispielsweise Vorstellungen einer bürgergesellschaftlichen Demokratie, einer emanzipatorischen Neugestaltung sozialen Zusammenhalts und sozialer Solidarität, einer europäisierten und internationalisierten Gesellschaft und Wirtschaft selbst diskutiert und deren politische und soziale Bewegungsformen primär außerhalb von Parteien entwickelt. Davon ist die deutsche Gesellschaft zur Zeit noch weit entfernt. Ziemlich stabil haben in Meinungsumfragen des vergangenen Jahrzehnts etwa 80 Prozent der Menschen grundsätzliche gesellschaftliche Veränderungen verlangt, während zugleich 75 Prozent sie für unmöglich hielten. Die gesellschaftliche Resonanz auf die politische Protesthaltung der PDS bzw. der Linkspartei ist ganz und gar nicht gering und oft positiv. Die Resonanz auf die alternativen Konzepte ist dagegen klein. Resonanz aber ist keine Einbahnstraße, wenn man nicht wieder in gefährlichen und aussichtlosen elitären Avantgardismus verfallen will. Die Gesellschaft, vor allem die kritischen sozialen Bewegungen und deren Debatten müssten auch starke Resonanz in der Linkspartei finden. Wie jedoch soll dieses Problem gelöst werden, so lange es an gesellschaftlicher Zuversicht, starken sozialen Bewegungen und gesellschaftlicher Gegenhegemonie fehlt? Ich bin da nicht so pessimistisch, denn erstens sehe ich den politisch derzeit so vorherrschenden Neoliberalismus bereits in einer geistigen Krise. Zweitens scheint meiner Meinung nach Franz Walter in seinem „Zeit“-Artikel (23/2005) „Republik im Abschied“ Recht zu haben, wenn er zum erwarteten Wahlsieg der CDU/CSU/FDP schreibt: „Die Deutschen werden eine Regierung wählen, von deren Projekt, Rhetorik und auch Leitfiguren sie jetzt bereits die Nase voll haben... Der Neuliberalismus rückt zwar an die Macht – aber im Grunde hat der Kern der Gesellschaft ihn längst hinter sich gelassen.“ Ich teile insbesondere seine Ansicht, dass „künftig... immer deutlicher (wird), wie zerstörerisch sich der Veränderungsfaktor auswirkt, welche Destruktivkräfte der entregulierte Kapitalismus entfaltet... Diese Entwicklung wird das Bedürfnis nach sozialregulativen Ideen und sozialintegrativen Instrumenten wieder erhöhen. Es mag sogar sein, dass der Staat als innerer Freiheits- und Friedensgarant positiv zurückentdeckt wird. Man wird über integrative Tätigkeits- und Organisationsmuster diskutieren, auch über eine neue , viel stärker beteiligungsorientierte Restrukturierung des Politischen.“ Drittens bestehen doch die mehr oder minder wirksamen Akteure dieser neuen gesellschaftlichen Debatten und eines neuen geistigen und politischen Klimas schon: linke soziale Bewegungen zu antirassistischen, internationalistischen, feministischen, friedenspolitischen und sozialökologischen Fragen und eine gar nicht so kleine Schicht kritischer Intellektueller. Ulrich Brand, Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac, meinte in der „Frankfurter Rundschau“ vom 13. Juli 2005: „Sowohl PDS wie auch WASG sind für beide Spektren bislang nicht attraktiv.“ Diese Kritik muss ernstgenommen werden. Ich halte sie für zutreffend. Das liegt weniger am guten Willen in der PDS/Linkspartei, an mangelnder Achtung dieser sozialen Bewegungen (hinsichtlich der Intellektuellen allerdings sieht es anders aus), schon gar nicht an den vielen schönen Absichtserklärungen. Die programmatischen Berührungspunkte sind nicht gering, wenngleich auch widersprüchlich. Das gemeinsame Interesse an einer „inhaltlich-strategischen und organisatorischen Rekonstruktion einer pluralen Linken“ ist groß. Aber die persönlichen, kulturellen und konkreten, praktischen politischen Berührungspunkte sind auf beiden Seiten defizitär. Die Vorbehalte in den linken sozialen Bewegungen gegenüber Parteien, die Befürchtungen hinsichtlich eigener Instrumentalisierung oder der Anpassung linker Parteien an „parlamentarisch-repräsentative Abläufe“ (Brand) sind groß. Brand sieht zwar in der PDS „interessante Entwicklungen“, aber „ein nichtinstrumentelles Verhältnis“ setze Vertrauen voraus. Das aber kann meiner Meinung nach nur durch kompetente, kontinuierliche und kritische Arbeitskontakte, durch hochkarätige eigene Angebote und eine Öffnung der Linkspartei gegenüber linken Bewegungen und Intellektuellen erreicht werden. Das bedeutet jedoch nicht, jedenfalls ganz und gar nicht primär, Repräsentanten dieser Kräfte für die Linkspartei kandidieren zu lassen, sondern die Öffnung für deren Themen und Diskussionen, für deren Kritik und die Fähigkeit, auch in den Parlamenten oder in Landesregierungen anti-neoliberale, systemkritische Ansprüche zu politisieren. Die in der PDS über die legitime Verteidigung des Erreichten hinaus diskutierten Konzepte einer Wertschöpfungsabgabe, Bürger- und Erwerbstätigenversicherung oder der sozialen Grundsicherung könnten sich den beginnenden Debatten der globalisierungskritischen Bewegung über Konzepte wie globale öffentliche Güter, neue Eigentumsformen in der "Wissensgesellschaft" (freie Software, Copyleft), über Beteiligungshaushalte und die Stärkung kommunaler Demokratie ("Reclaiming the State") stellen. Nichtsdestotrotz wird eine Partei mit so großer kommunal- und landespolitischer Verankerung und Akzeptanz wie die PDS auch verantwortbare und realistische Antworten auf knallharte haushaltspolitische Fragen, zur Entwicklung von Kommunalabgaben, zu den Bedingungen für Kindertagesstätten, Theater oder örtliche und regionale arbeitsmarktpolitische Themen geben müssen.

  5. Die eben diskutierte Frage ist von grundsätzlichster, aber auch von einer besonderen aktuellen Bedeutung. Meiner Meinung nach sprechen die von Franz Walter in der „Zeit“ erwähnten Bedingungen, aber auch die programmatische und intellektuelle Schwäche der CDU/CSU und FDP sowie die tiefen Widersprüche innerhalb der Union und mit der FDP dafür, dass anders als in früheren Jahrzehnten keine lange schwarz-gelbe Regierungsperiode zu erwarten ist. Schon 2009 sind andere parlamentarische Kräfteverhältnisse möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Dass die Linkspartei 2005 unter keinen Umständen für eine Koalition mit der SPD und den Bündnisgrünen zur Verfügung steht, ist Konsens und angesichts der „rot-grünen“ Regierungspolitik sowie der Entstehungsgeschichte der Linkspartei unausweichlich. Was aber 2009? SPD und Grüne werden in der Opposition versuchen, wieder etwas mehr linkes Profil zu entwickeln; mit welcher Glaubwürdigkeit sei dahingestellt. Vieles lässt sich gegenwärtig nicht ernsthaft einschätzen. Aber eine Situation, in der die Linkspartei aus arithmetischen Gründen Bestandteil einer Koalition würde, die nicht zu wirklich anti-neoliberaler Politik fähig und bereit ist, würde dieser Partei ihre Existenznotwendigkeit und –möglichkeit entziehen. Vier Jahre sind vielleicht viel Zeit für Initiativen, Gesetzesvorschläge und Reden im Bundestag. Sie sind wenig in der Gesellschaft. Deshalb ist die geistige und politische Arbeit in die Gesellschaft hinein und gemeinsam mit ihren kritischen Teilen um keinen weiteren Tag aufschiebbar. Falls 2009 die bereits von Gysi und Lafontaine nicht ausgeschlossene Koalition mit der SPD möglich sein sollte, dann nur in einem anderen geistigen Klima der Republik, nur mit einer SPD, die zu ihren sozialen und demokratischen Wurzeln zurückfindet, nur für eine tatsächlich andere Politik, tatsächlich sozial gerecht, europäisch binnenwirtschaftlich orientiert, ziviler, nachhaltig, emanzipatorisch.

  6. Nur die Fähigkeit, der Demontage des Sozialstaates wirksamen politischen Widerstand entgegen zu setzen und ihn mit öffentlich überzeugenden Alternativen sowie einer emanzipatorischen, aufklärerischen und solidarischen Politik zu verbinden, wird auch geeignet sein, dauerhaft zu verhindern, dass Protest von Rechts vereinnahmt und fremdenfeindlich, rassistisch und nationalistisch kanalisiert wird. Doch ich bin überzeugt, dass die Linkspartei einer solchen Strategie und Politik auch eine kapitalismuskritische und demokratisch sozialistische Grundlage geben muss. Der Kampf um die linkere Sozialdemokratie wird der gesellschaftlichen Verantwortung und der Perspektivfähigkeit einer neuen Linkspartei nicht ausreichend gerecht. Anti-Neoliberalismus wird in einer Rückbesinnung oder auch Erneuerung keynesianistischer Politik nicht mehr zureichend sein. In einer Zeit der fast katastrophalen politischen und geistigen Defensive der kapitalismuskritischen Linken und der faktischen Tabuisierung von Macht- und Eigentumsfragen müssen endlich auch diese wieder offensiv gestellt werden, denn die systemimmanenten Spielräume für die dringend gewordene soziale Demokratisierung und die demokratische Sozialisierung der Gesellschaft sind offenkundig erschöpft. Das findet gegenwärtig in politikrelevanter Weise weder in der PDS noch in der WASG statt, schon gar nicht in einer Form, die Millionen Menschen in ihren aktuellen Interessen und Erfahrungen anspricht, denn mit parteikommunistischer Orthodoxie ist kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Diese Auseinandersetzung muss mit jenem Teil der WASG geführt werden, der gesellschaftskritische und über die Kapitaldominanz hinausweisende Ziele ablehnt. Linke soziale Bewegungen können, müssen aber nicht eine so weitgehende Zielsetzung haben, die Linkspartei schon. Wie auch immer er sich die Antwort vorgestellt haben mag, Ralf Dahrendorf hat diese Herausforderung schon vor Jahren in seinem Buch „der moderne soziale Konflikt“ beschrieben, ohne dass die demokratische kapitalismuskritische Linke bisher fähig und bereit gewesen wäre, sie mit zeitgemäßem Inhalt aufzugreifen und zum Gegenstand realer Politik zu machen: „Es gibt Zeiten, in denen soziale Konflikte und ihre wissenschaftliche Erörterung einen fundamentalen oder konstitutionellen Charakter annehmen... Das war im achtzehnten Jahrhundert der Fall...; es gilt am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wieder. In solchen Zeiten stehen die Spielregeln von Herrschaft und Gesellschaft selbst zur Diskussion.“ Der neoliberale Mainstream, darunter die Parteien von CDU/CSU und FDP bis zu den Grünen und der SPD, stellen die bisherigen Spielregeln tatsächlich grundsätzlich zur Disposition, allerdings ohne öffentliche und „wissenschaftliche Erörterung“ des angestrebten und praktizierten Paradigmenwechsels, sondern mit der propagandistischen Behauptung, mit der Lüge, sie lediglich zu erneuern. Die Linke dagegen, auch die PDS und die WASG,  verharrt primär in einer Abwehrhaltung und schickt sich in die eigene Situation von Defensive und Schwäche. Um nicht missverstanden zu werden, diese sind erstens real und die Schlussfolgerung kann meiner Meinung nach zweitens auch kein gesellschaftspolitischer Fundamentalismus sein, keine Schwarz-Weiß-Alternative, kein verstaubter verbaler Revolutionarismus, keine Reduzierung auf einen gesellschaftlichen Bruch ohne gesellschaftliche Kontinuität, im Gegenteil: Die Alternative zur Marktgesellschaft ist vor allem die entschiedene Demokratisierung der Politik und Gesellschaft. Und ohne politischen Realismus und ohne Realpolitik, auch das sage ich verkürzt und bewusst abstrakt, wird es nicht möglich werden, die „Spielregeln von Herrschaft und Gesellschaft“ von links, mit einer kapitalismuskritischen Tendenz politisch und gesellschaftlich wirksam zur Diskussion zu stellen.

***

Ulrich Brands Resümee ist auch meines, sofern es nicht als mangelndes Selbstbewusstsein und mangelnder Kampfgeist einer Linkspartei oder antiparlamentarisch verstanden wird, was auch Brand fern liegt: „Eine Partei kann nur ein Teil gesellschaftlicher Veränderungen sein und das Engagement von Millionen von Menschen für eine bessere Gesellschaft in unterschiedlichen Zusammenhängen nicht ersetzen. Sie kann dieses Engagement auch nicht einfach herstellen, sondern allenfalls in umsichtigem Handeln für bestimmte Fragen bündeln. Ansonsten werden wir ein kurzes Strohfeuer erleben, das zum x-ten Male und unterstützt von den herrschenden Kräften die Illusion des Parlamentarismus nährt.“