Nachricht | GK Geschichte 1968 – Deutungen und Folgen

Peter Birke und Bernd Hüttner vom GK Geschichte verfassten den Leitartikel des vierteljährlich erscheinenden Journals der Rosa-Luxemburg-Stiftung, RosaLux 1_2008, zum Schwerpunkt »1968«.

In der medialen Öffentlichkeit erscheinen heute das Jahr 1968 und seine Jahrestage als so weit entfernt, dass sich nicht nur um die Kommune I und ihre Helden, sondern sogar um die gesamte Rebellion herum eine ebenso florierende wie harmlose Erinnerungsindustrie entwickeln konnte. Gleichzeitig, so zumindest unsere These, sind viele gesellschaftlichen Debatten und eine zeitgemäße politische Analyse der heutigen Verhältnisse ohne eine Befassung mit „1968“ nicht zu verstehen bzw. zu leisten. Welche Brüche und Verbindungslinien sind in diesem Zusammenhang wichtig, was bedeuten die „1968er Jahre“ für heute, aber auch: was bedeutet die aktuelle gesellschaftliche Situation für die Rezeption und Historiografie dieser „globalen Revolution“?

In einem Vortrag aus dem Jahre 1988 betont Immanuel Wallerstein, dass die Sozialproteste um 1968 zwei wichtige Elemente enthalten: Einerseits kommt es zu einem global sich artikulierenden Bruch mit den Vergesellschaftungsformen des modernen Kapitalismus, andererseits zu einem grundlegenden Konflikt zwischen der "alten" Arbeiterbewegungs-Linken und ihrer an einer Eroberung der Staatsmacht orientierten Praxen und einer "neuen", informellen, auf Selbstorganisation und Selbstverwaltung setzenden Linken. Die Frage, wie sich dieser Konflikt zwischen alter, an einer Eroberung der Staatsmacht orientierter und „neuer“ Linker vermittelt, ist unseres Erachtens völlig offen. Fest steht aber, dass die schematische Polarisierung zwischen den zwei Politikformen, die sich hinter den Schlagworten „alt“ und „neu“ verbirgt, aktuell an vielen Punkten aufbricht. Nicht zuletzt wäre für eine Partei, die sich selbst gerne als "neue Linke" bezeichnet, zu prüfen, inwieweit sie in der geschichtlichen Tradition, Aktualität und Uneingelöstheit "globalen Revolution", in den „langen 1968er Jahren“ zwischen 1967 und 1973 steht.

Deutungen

 „1968“ wird als Chiffre für viele Erscheinungen benutzt. Da ist im globalen Norden eine Revolte gegen die Disziplinargesellschaft, also gegen Fließband, Kleinfamilie und „Massengesellschaft“. Viele, die damals revoltierten und protestierten, trieb der Wunsch nach Befreiung, nach weniger gesellschaftlichen Zwängen und politischem Muff. In einigen der realsozialistischen Länder war die Reform des Sozialismus durch mehr kulturelle Liberalität, betriebliche Selbstverwaltung wie auch durch innerparteiliche Demokratie umkämpft. Aus heutiger Warte wird „1968“ als letzte und gleichwohl vertane Chance für einen demokratischen Sozialismus angesehen, die auch zur Schaffung von mehr dringend benötigter ökonomischer Effizienz hätte dienen können.

Es gibt verschiedene Deutungen der Ereignisse rund um „1968“. Eine ist, dass die Proteste um „1968“ in den strukturellen Wandel der westeuropäischen Gesellschaften seit dem Wirtschaftsboom in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre eingeordnet werden müssen. Zu denken sei vor allen an die Bildungsexpansion oder die Herausbildung einer eigenständigen Jugendkultur.

Dagegen gibt es mindestens drei „Lesearten“, die die Rolle der Ereignisse gegenüber den Strukturen stärker betonen:

„1968“ wird als „Kulturkampf“ der libertären und antiautoritären Linken gegen Realismus und Pragmatismus denunziert. Als Folgen werden Sexualisierung, Verwahrlosung, Autoritätsverfall, Geburtenrückgang und sozialdemokratische Gleichmacherei kritisiert.

Eine positive Leseart, die aber ihren Frieden mit den Verhältnissen gemacht hat, lautet: „1968“ führt zur „Neu- und Umgründung der Bundesrepublik“, die dadurch in den „Kanon der westlichen Demokratien“ aufgenommen wird. Die Proteste werden als eine Art Katalysator einer „Fundamentalliberalisierung“ gesehen und in eine Erfolgsgeschichte eingeschrieben.

Eine Lesart, die wir stark machen wollen ist, dass „1968“ eine Revolte war, die die Verhältnisse in der Bundesrepublik grundlegend in Frage gestellt hat. Während in einigen Bereichen wichtige Verbesserungen erreicht wurden (Veränderung der Geschlechterverhältnisse, im Bildungssystem usw.), sind viele Emanzipationsforderungen bis heute uneingelöst.

Folgen

„1968“ veränderte nicht nur das politische System, sondern auch den Alltag, die Äußerungsformen der Sexualität und der Geschlechterverhältnisse, die Arbeitswelt, die Erziehung, die Kultur. Während dies auch im westeuropäischen Maßstab so gesehen wird, zeigen sich in der deutsch-deutschen Geschichte gewisse Verschiebungen: Was in der Bundesrepublik stärker sichtbar erscheint, existierte in der DDR bestenfalls untergründig und, wie etwa im Protest gegen die Intervention der Warschauer Pakt-Armeen gegen den Prager Frühling, punktuell. Erst zwanzig Jahre später kam es zu einer neuen Debatte um die Reform des Sozialismus. 1968 wirkt im Laufe der Jahre weit in den Alltag und in die Gesellschaft hinein. Vier inhaltliche und ein organisatorischer Punkt sind uns wichtig.

Die Revolten der „1968er Jahre“ strebten eine Politisierung des „ganzen Lebens“ an.  Stärkster politischer Ausdruck davon war, auch bereits in Abgrenzung gegenüber den Erfahrungen zwischen 1967 und 1969,  die zweite Frauenbewegung.

Eine weitere Folge der „1968er“ war, dass das linke Fortschrittsdenken in Frage gestellt wurde. Dies äußerte sich in der Umwelt- und Atomkraftbewegung, aber auch in der Wissenschaftskritik allgemein. Eine Historiographie der „Stufenmodelle“, wie sie auch im westlichen Marxismus weit verbreitet war, wurde in diesen Bewegungen erschüttert.

Wichtig ist uns der „von unten“ erfolgte Angriff auf die Lohn- und Fabrikarbeit. Viele wollen jetzt nicht mehr nur über die Größe des Kuchens bestimmen, sondern auch darüber, wie und von wem er gebacken wird. Sprich: Weniger und vor allem anders arbeiten, andere Produkte herstellen.

Zugleich mit diesem Angriff wurden Grundlagen der kapitalistischen Produktionsweise erschüttert: die Regulation des Arbeitsmarktes, die geschlechterspezifische Arbeitsteilung. Doch viele Elemente der Kritik der „neuen“ Linken wurden schließlich individualisiert und durch neoliberale Politikformen absorbiert.

Nicht zuletzt kam es um 1968 es zur einer Erweiterung linker Politikformen, die Ablehnung von Stellvertreterpolitik, eine Kritik an Delegations- und Repräsentationsprinzip, also den Prinzipien, die konstitutiv für Parteien waren und sind: Auch hier stellt sich wieder die Frage nach dem Verhältnis zwischen „alter“ und „neuer“ Linker.

1968 war mehr, als DIE LINKE darstellt, als Partei kann sich also nicht so einfach in diese Tradition stellen, es ist nur eine historische Wurzel der LINKEN. Es ist weiter konstitutiv für eine wirklich neue Linkspartei, wie sie mit den Folgen des Bruchs von 1968 umgeht, wie sie diese öffentlich verhandelt und in sich integriert. Also, wie sie heute auf die selektive Aufnahme der von den Protestbewegungen formulierten von „Sozialkritik“ und Künstlerkritik“ in und durch den Neoliberalismus reagiert. Die Bedeutung von Subjektivität und Individualisierung wird in der Linken bislang nicht ausreichend erkannt und zu gering oder falsch eingeschätzt.

Es ist wichtig, auf die Bedeutung von 1968 für die theoretische und praktische Geschichte der heutigen gesamtdeutschen Linken immer wieder hinzuweisen: Was bedeutet es zum Beispiel für den Subjektbegriff, wenn man diesen mit den Debatten um eine Reform des Sozialismus und die Herausbildung eines neuen Subjekttyps zusammen denkt, wie sie auch im realen Sozialismus (Ende) der 1960er Jahre stattfanden? Oder die Organisationsmodelle der Alternativbewegung der Post-1968er im Westen mit parteiförmigen Organisierungen konfrontiert? Sind die Forderungen der feministischen Bewegung eigentlich eingelöst?<o:p></o:p>

Es wäre – für eine emanzipatorische Perspektive - an der Differenz zwischen hegemonialer Rede und institutioneller Praxis und an einer tendenziellen Uneingelöstheit der Forderungen von “1968” festzuhalten. Das zweite meint, dass zum einen viele Forderungen, etwa nach mehr Mitbestimmung oder nach dem Ende der weltwirtschaftlichen Ausbeutung schlicht nicht erfüllt sind.

Zum anderen kann man kritisch prüfen, ob die Rede von Demokratisierung oder Liberalisierung wirklich einer  Überprüfung an der Realität standhält. Ein Beispiel ist die „Innere Sicherheit“. Die westdeutschen 1970er Jahre, die heute in der Geschichtswissenschaft und in der sozialstaatlichen politischen Linken als Muster an Demokratisierung oder Liberalisierung gelten, waren die Phase mit den meisten Berufsverboten, der polizeilichen Einhegung und Niederschlagung von sozialen Bewegungen, von der „Terrorhysterie“ ganz zu schweigen, oder gar der ausgefallenen "Demokratisierung hinter dem Werkstor".

Das, was die Protestbewegungen wollten und innerhalb ihrer Aktionen auf die Tagesordnung setzten, ist heute nicht oder nur auf merkwürdig verdrehte Weise eingelöst. Der Versuch, die Geschichte neu zu erzählen ist damit zugleich der Versuch, ihr emanzipatorisches Potential neu zu begründen. Noch ist unklar, wie „1968“ vierzig Jahre danach thematisiert werden wird. Es deutet sich allerdings bereits an, dass die beiden Varianten einer „liberalen“ Rezeption, die Warnung vor „Terror“ und „Gewaltförmigkeit“ einerseits und die Lobpreisung der „Fundamentalliberalisierung“ andererseits erneut eine erhebliche Rolle spielen werden.

So wie die aktuellen Protestbewegungen waren die historischen Proteste Mehr und Anderes, sie gingen über die offiziellen und staatlichen Definitionen und Zuschreibungen hinaus, ihr Protest war kreativer, experimenteller, lag zwischen den Teilungen in „alt“ und „neu“, „militant“ und „friedlich“, „Reform“ und „Revolution“ entwickelte einen eigenen Sinn und eine eigene Legitimität. Daran gilt es anzuknüpfen.

Dr. Peter Birke, Historiker, freier Mitarbeiter der RLS

Bernd Hüttner, Politikwissenschaftler, Regionalmitarbeiter der RLS in Bremen und Koordinator des Gesprächskreis Geschichte der RLS

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