Nachricht | Roland Roth/ Dieter Rucht (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Frankfurt 2008

Soziale Bewegungen im Überblick: Drei Besprechungen des Handbuches Soziale Bewegungen

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Gottfried Oy,

Ein Kompendium über „die“ sozialen Bewegungen in Deutschland seit Kriegsende ist, gelinde gesagt, ein gewagtes Unterfangen. Einmal, weil der enzyklopädische Anspruch dem Eigensinn des Gegenstandes zuwiderläuft. Und zum anderen, weil sich – je nach Blickwinkel – immer eine Bewegung finden lässt, deren Bedeutung in einer solchen Überblicksdarstellung nicht ausreichend dargestellt wird. Die sozialen Bewegungen der letzten sechzig Jahre dennoch in einem Handbuch würdigen zu wollen, hat sicher auch damit zu tun, dass die wenigen institutionell abgesicherten Bewegungsforscher in der Bundesrepublik an der Reputation ihrer Fachrichtung arbeiten müssen – und das auch mittels solcher Publikationen versuchen.
Jenseits des groben Überblicks über Frauen-, Umwelt- oder Menschrechtsbewegungen geht es den Herausgebern Roland Roth und Dieter Rucht um die Rolle sozialer Bewegungen in der Geschichte der Bundesrepublik und der DDR und damit um die Frage, was sie bewirkt haben und heute noch bewirken. Ausgangspunkt ist dabei der empirische Befund der Politikverdrossenheit, der sich auf die konventionellen Formen der politischen Partizipation bezieht, während bewegungsförmiges Engagement deutlich zugenommen hat: „Dieses Faktum wird zwar weithin anerkannt, aber das gesellschaftspolitische Gewicht, die Botschaften und die demokratiepolitischen Herausforderungen des Bewegungssektors bleiben umstritten.“
Roth und Rucht sehen soziale Bewegungen als eines der zentralen Merkmale der Moderne, als Ausdruck der Fähigkeit einer Gesellschaft, sozialen Wandel aktiv gestalten zu können. Dazu gehört etwa, gemeinsam Ziele formulieren zu können, eine gewisse Beständigkeit im Engagement, mit Öffentlichkeit als Ort der Austragung von Konflikten umgehen zu können und schließlich den Anspruch der Gesellschaftsveränderung immer auch mit der Idee der Selbstveränderung zu verknüpfen. Diese Aspekte unterscheiden sie deutlich von anderen Formen der Organisation politischen Interesses, wie etwa Parteien, aber auch Bürgerinitiativen oder die auf globalen Terrain agierenden so genannten Nichtregierungsorganisationen.
21 Bewegungen werden im Handbuch untersucht, wobei eine einheitliche Struktur der Beiträge die Vergleichbarkeit erleichtert und den Schwerpunkt deutlich auf einen lexikalischen Überblick legt. Was da allerdings gegenübergestellt wird, ist nicht immer so ohne weiteres vergleichbar: Ein Beitrag über die Arbeiterbewegung steht neben anderen über verschiedene single-issue Bewegungen und, ganz dem Verfassungsschutzbericht angelehnt, werden Linksradikalismus und Rechtsextremismus als Bewegungen abgehandelt - als ob es nicht in jeder sozialen Bewegung verschiedene politische Strömungen geben würde.
Die Herausgeber selbst liefern neben diesen Überblicksartikeln eine pointierte Interpretation von Bewegung und Wissenschaft. Den tatsächlichen Entwicklungen unangemessen, entwickelte sich in der deutschsprachigen Diskussion erst in den siebziger Jahren ein prägender Begriff, der sich am Leitthema Demokratisierung orientierte. In der Folge ist von einer „Normalisierung von Protest“ und der „Bewegungsgesellschaft“ die Rede. Eine einseitige Fixierung auf die so genannten neuen sozialen Bewegungen, ihre postmaterialistischen Werte und ihren Abschied vom Klassenbegriff habe schließlich dafür gesorgt, dass die soziale Frage auch in der Forschung bis in die neunziger Jahre vernachlässigt wurde. Der heutigen Bewegungsforschung attestieren Roth und Rucht zwar einen Verlust an „Großinterpretationen“ und eine Hinwendung zu Theorien „mittlerer Reichweite“, dafür verfüge sie über exakte analytische Fragestellungen und ein ausgefeiltes methodisches Instrumentarium.
Bleibt die Frage nach der Wirkungsgeschichte. Ein gesellschaftliches Problem bestimmen zu können und breitenwirksam zu thematisieren, schließlich kollektive Lösungen vorzuschlagen - agenda setting zu betreiben - diesen Aspekt sozialer Bewegungen sehen Roth und Rucht als ihren größten Erfolg an: „Viele soziale Themen bleiben unterhalb dieser Schwelle". Darüber hinaus gibt es aber auch Auswirkungen auf den so genannten harten Politikbereich wie auch auf die politische Kultur und die Alltagswelt. Kurzum: Soziale Bewegungen werden zu der zentralen demokratischen Herausforderung liberaler Staaten, denen die Innovationskraft ihrer bürokratisierten Institutionen versiegt.
Sind dann die sozialen Bewegungen nicht letztlich die Retter des Staats, den sie einmal bekämpft haben? Diese Frage bleibt leider ungestellt, kann aber auf Grundlage des umfangreichen Materials, das dieser Band zur Verfügung stellt, diskutiert werden.


Roland Roth/ Dieter Rucht (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch. Campus Verlag, Frankfurt am Main/New York 2008, 770 Seiten, 49,90 Euro

Dr. Gottfried Oy ist Mitglied des Gesprächskreises Geschichte der RLS.

Die linke Monatszeitung analyse und kritik hat den Band erstaunlich unkritisch besprochen (in ihrer Ausgabe vom 15.8.2008).

Für H-Soz-u-Kult hat ihn Dorothee Liehr vom Historischen Seminar der Universität Zürich relativ nichtssagend rezensiert (Link zum Beitrag)