Nachricht | GK Geschichte Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest; München 2008

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Für das Jahr 1968, so zitiert Norbert Frei den amerikanischen Autoren George Katsiaficas, können „Studentenproteste“ für 56 Länder nachgewiesen werden, darunter 22 in Europa. Frei, seit 2005 Professor für Zeitgeschichte in Jena, gilt als seiner der profilierten linksliberalen deutschsprachigen Historiker und ist bislang vor allem für seine Publikationen zum Nationalsozialismus und dessen Wirkungen auf die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft bekannt. Mit seinem neuen Buch zum Jubiläumsthema „1968“ hat er einen preiswerten, ausgewogenen und im positiven Sinne soliden Überblicksband vorgelegt, der sich vor allem an ein populärwissenschaftliches Publikum richtet und weniger an die wissenschaftliche Gemeinde.

Frei gliedert sein Werk nach einer Reportage zum Mai 68 in Frankreich in fünf Kapitel: Im ersten stellt er ausführlich die Vorgeschichte von „1968“ und das Ereignis selbst in den USA dar. Im zweiten erzählt er unter der Überschrift „Ein deutscher Sonderweg?“ die Geschichte von „1968“ in Westdeutschland, im dritten dann am Beispiel von Japan, Italien, den Niederlanden und Japan, die in weiteren Ländern des globalen Nordens. Das vierte widmet sich, etwas kurz geraten, den Ereignissen in der Tschechoslowakei, der DDR und Polen. Im letzten Kapitel fragt er nach den Folgen und Auswirkungen. Ein gegliedertes Literaturverzeichnis und ein Personenindex schließen den Band ab.
Bei den Passagen zu den USA fällt auf, wie stark die AktivistInnen damals auch davon motiviert sind, dass sie am Unterschied zwischen dem Selbstbild der USA einerseits und ihrem Rassismus nach innen und ihrem Imperialismus nach außen andererseits, nahezu verzweifeln. Frei erzählt die Geschichte vor allem rund um den amerikanischen SDS (und seine Vorläufer) und die dort prominenten Akteure. Im Dezember 1969 schließlich löst sich der SDS auf.
Nahezu unbekannt dürfte sein, dass es auch in Japan ein „1968“ gegeben hat, während es in Großbritannien ein starke und traditionsreiche „new left“ und eine ebenso ausgeprägte Gegenkultur gab, die freilich wie in anderen Ländern auch, im kommerzialisiert war. In der Tschechoslowakei kommen die Reformimpulse anfänglich aus der Partei – und werden schnell niedergeschlagen, in Polen werden zur Zurückdrängung des Protestes munter antisemitische Klischees verwendet.
Das umfangreichste Kapitel behandelt die Bundesrepublik. Hier sei die Bedeutung des Nationalsozialismus und seiner Folgen ein Alleinstellungsmerkmal, denn schon Anfang der 1960er Jahre ist die intergenerationelle Auseinandersetzung ein Thema an Schulen und auch in der Öffentlichkeit; der undogmatische Marxismus überwintert in den Poren der verstaatlichten Arbeiterbewegung und Arbeiterkultur. Bis zur Mitte der 1960er Jahre war nicht etwa Berlin, sondern Frankfurt/Main das intellektuelle Zentrum der Linken. Durch und mit dem SDS verlagerte sich das Geschehen nun immer mehr nach Berlin, das auch mehr in der Aufmerksamkeit der Medien steht. Wird heute immer mehr dazu übergegangen, „1968“ in ein langes Jahrzehnt des Protestes und der Modernisierung einzuordnen, so war, dies wird bei der Lektüre deutlich, das Jahr 1967 ein unheimlich „kurzes“ , da intensives, mit Versammlungen, Demonstrationen und Kongressen vollgestopftes Jahr. Im Mai 1968 werden dann in Bonn die Notstandsgesetze verabschiedet, und der Zenit der Bewegung ist überschritten. Im Frühjahr 1970 löst sich der SDS, bzw. was noch von ihm übrig war, auf, und es begann das, was andere AutorInnen die Entmischung nennen: Die „Studentenbewegung“ genannte Sozialrevolte transformiert sich in einen, von JungsozialistInnen bis zum bewaffneten Kampf reichenden, im engeren Sinne politischen Kern. Dieser ist aber Bestandteil eines sehr weitreichenden kulturindustriellen Bassins, das wiederum durchsetzt ist mit akademischen und künstlerischen Subkulturen.
Im Abschlusskapitel positioniert sich Frei gegen die Thesen von Götz Aly und auch die von Wolfgang Kraushaar, er weist darauf hin, dass „1968“ gerade im globalem Maßstab auch Ungleichzeitigkeiten hatte und dass wir es hier mit einer Vielzahl von Motiven zu tun haben und nicht zuletzt damit, dass es sich bei „1968“ um eine Erfindung handelt: Die Chiffre „1968“ ist auch das „Ergebnis von Intepretation und Imagination“. Das Buch trägt seinen Untertitel „Globaler Protest und Jugendrevolte“ zurecht, denn Frei konzentriert sich auf StudentInnen/Jugendliche (wobei man wissen sollte, dass es 1968 nur circa 300000 StudentInnen gibt) als Akteure; und er gibt einen Einblick in das Phänomen von „1968“ als globalem Ereignis. Es hilft dabei, den von Frei selbst konstatierten Umstand, „1968“ sei „überkommentiert und untererforscht“ etwas weiter abzubauen. Die „große analytische Erzählung des ´unwahrscheinlichen Jahres` in der Bundesrepublik“, deren Fehlen Frei ebenfalls kritisiert, steht weiterhin noch aus. Man darf gespannt sein, wer sie sich zu schreiben wagt.

Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest; dtv München 2008, 286 Seiten (15 EUR)

Manuskript eines Beitrages, der in utopie kreativ Heft Juli/August 2008 erschienen ist.