Pressemeldung | Konterrevolution zwischen Kirchenbänken

„Sozialismus als Tagesaufgabe“: ein Vortragsabend mit Gysi und Lafontaine – und unwilligen Genossen (Tagesspiegel, 6.11.2005)

Als Walter Ulbricht Berlin im Sommer 1945 fit machte für die Segnungen des Sozialismus, gab er klare Vorgaben: „Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen die Macht haben.“ Das klappte anfangs ganz gut, bis sich im Arbeiterbezirk Wedding ein alter Kommunist als Stadtrat für Kirchenfragen einstellte, „es muss schließlich jemand da sein, der den Pfaffen uff die Finger schaut“. Ulbricht soll getobt haben. Ein selbst ernannter kommunistischer Kirchenrat war nicht unbedingt das, was er dem Westen als Muster eines demokratischen Prozesses präsentieren wollte.

Von Gregor Gysi ist bekannt, dass er ein anderes Demokratie-Verständnis hat als Ulbricht, und auch zur Kirche pflegt er ein sehr viel entspannteres Verhältnis. In der Versöhnungskirche in Friedrichshain traf sich der Vorsitzende der Bundestagsfraktion der Linkspartei am Freitagabend mit seinem Amtskollegen Oskar Lafontaine. Die beiden plauderten über ein nicht eben klerikales Thema: „Sozialismus als Tagesaufgabe“. Die Auferstehungskirche ist ein wuchtiger Backsteinbau, errichtet in den wilhelminischen Jahren, die für Deutschlands Sozialisten bekanntlich keine sehr glücklichen waren.

Die Moderation des Abends übernimmt die Autorin Daniela Dahn. Sie sitzt zwischen den beiden eloquenten Sozialisten und trägt, politisch korrekt, ein rotes Tuch und eine rote Kette um den Hals. Frau Dahn ist politisch nicht ganz unumstritten, was sie Sätzen zu verdanken hat wie diesem: „Mit Blick auf die von mir erlebte poststalinistische DDR und die finanzstalinistische BRD scheint mir: Die Summe der Repression ist immer gleich.“ An diesem Abend beschränkt sie sich auf das Zitieren von Literatur, die andere Autoren verfasst haben, etwa Gregor Gysi und Oskar Lafontaine.

Knapp 400 Zuhörer sind gekommen. Alte, Junge, auffallend viele Frauen. Gysi hält als Erster seinen Vortrag. Er spricht über den Sozialismus in der Tradition der Befreiungsideologie der vergangenen tausend Jahre, über Eigentum, Markt und Regulierung. Er kommt auf zwei Lacher und einen Applaus in 18 Minuten, für seine Verhältnisse ein bescheidenes Ergebnis. Auch ein begnadeter Redner wie Gregor Gysi tut sich schwer, wenn er ein theoretisches Politikseminar auf Volkshochschulniveau halten muss.

Lafontaine reagiert sofort auf den so verhalten geäußerten Zuspruch. Der Saarländer hält sich nicht lange mit Theorie auf, er spricht über Rentenkürzung, Arbeitszeitverlängerung und sonstige Folterinstrumente des Neoliberalismus. Jetzt wird das Publikum munter, es gibt mehr Lacher und der Applaus wird lauter, doch die Veranstaltung bleibt ein wenig dröge. Das liegt zwar an den beiden Rednern, ist ihnen aber nur bedingt anzulasten. Wenn zwei einer Meinung sind und sich das fortlaufend bestätigen, kann sich schwerlich eine spannende Diskussion entwickeln.

Spannend wird es erst, als das Publikum mitdiskutieren darf. Es melden sich fast ausschließlich Mitglieder der im Osten eher unterrepräsentierten Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit zu Wort. Der Westflügel des neuen Linksbündnisses hat eine Schar junger Männer und Frauen mitgebracht. Sie tragen orange Leibchen und verteilen den „Berliner Appell“. Das ist ein Brandbrief gegen alle Parteien rechts der neuen Linken, in dem kein einziges Mal das Wort „Sozialismus“ vorkommt. Die WASG-Leute im Publikum wollen wissen, warum der PDS-Wissenschaftssenator Thomas Flierl Absenkungsverträge in der Charité durchdrückt, warum die Busse nicht die ganze Nacht durchfahren – ja, warum der Senat nicht viel mehr Geld ausgibt, wenn auch keines da ist. Jetzt vereinigt sich die Linke im Auditorium. Auch die vielen grauen Köpfe, mutmaßlich schon zu realsozialistischen Zeiten dem Sozialismus zugetan, murren, als Lafontaine und Gysi die Politik des Senats verteidigen. „Berlin ist pleite. Wo wart ihr denn, als der Diepgen regiert hat?“, ruft Gysi. „Besser wir machen das, als die CDU.“ Lafontaine erhält hämischen Beifall, als er rhetorisch fragt: „Sollen wir uns denn lieber gar nicht an Regierungen beteiligen?“

Nach zwei Stunden Sozialismus-Debatte verlassen die orangenen WASG-Aktivisten geschlossen das Kirchenschiff. Allzu lange kann das hier nicht mehr dauern, und irgendjemand muss den Sozialisten am Kirchentor ja noch die letzten Exemplare des „Berliner Appells“ in die Hand drücken. Frau Dahn hat schon mal dezent angedeutet, „dass Sozialismus Tages- und nicht Nachtaufgabe ist“, doch Lafontaine und Gysi denken gar nicht ans Aufhören. Es geht hier um ihr linkes Bündnis, und es soll kein Bündnis der Ignoranten sein. Eine weitere halbe Stunde später ruft Gysi kämpferisch in die Menge: „Noch vor einem Jahr dachte ich, die wollen keine neue Linke in diesem Land. Jetzt aber haben wir eine Chance. Lasst sie uns nutzen und nicht kaputtmachen!“ Ein schönes Schlusswort. Nein! Daniela Dahn streut noch schnell eine Sentenz von Romain Rolland ein, und so verfliegt die Aufbruchstimmung. Brav und leise löst sich die Versammlung auf. Zu Fuß sind es fünf Minuten bis zur Frankfurter Allee, die früher Stalinallee hieß und das Prestigeobjekt war von, genau!, Walter Ulbricht. Der hätte es sich wohl nie träumen lassen, dass die führenden Sozialisten des Landes mal in einer Kirche tagen.