Pressemeldung | Was bleibt

In Berlin wurde das Handbuch »Deutsche Zeitgeschichte 1945 bis 2000« vorgestellt (junge welt, 10.3.2006)

Mit »archivalischer Asymmetrie« umschrieb der Historiker Hermann Weber vor über zehn Jahren vornehm die Quellenlage zu DDR- und bundesdeutscher Geschichte. Die Archive des ostdeutschen Staates stehen offen, er ist »abgeschlossenes Sammelgebiet«, die des anderen sind bis Anfang der 70er partiell der Forschung zugänglich. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis einigermaßen Gleichstand erreicht ist. Ungeachtet dieser Situation hat die herrschende Geschichtsschreibung ein klares, nämlich politisches Geschichtsraster für die DDR, während die Bundesrepublik »die wahre Menschengeschichte« darstellt.

So umriß Verleger Jörn Schütrumpf (Karl Dietz Verlag) am Donnerstag auf einer Pressekonferenz in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin die Konstellation, in die das von Clemens Burrichter, Detlef Nakath und Gerd-Rüdiger Stephan herausgegebene Handbuch »Deutsche Zeitgeschichte 1945 bis 2000« gerät. Fast 40 Autorinnen und Autoren aus Ost und West arbeiten in drei großen Abschnitten (Historischer Überblick, Schwerpunkte der gesellschaftlichen Entwicklung in beiden deutschen Staaten, Entwicklung der Politikfelder) den Forschungsstand ihres jeweiligen Themas auf. 90 Seiten umfaßt allein der Anhang mit Auswahlbibliographie, Personen- und Abkürzungsregister.

Orientierungsofferte

Das 2001 gestartete Projekt zähle »zu den bedeutendsten der Rosa-Luxemburg-Stiftung«, erklärte Evelin Wittich, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der Stiftung. Bundesweit seien daher bis jetzt bereits 15 Veranstaltungen zwischen Jena und Bremen zur Vorstellung des Resultats geplant.

Es handele sich um ein »reines Multiplikatorenwerk«, hob Mitherausgeber Burrichter, emeritierter Wissenschaftshistoriker aus Erlangen, hervor, und zwar um ein »linkes Handbuch«. Bei der SPD sei unter dieser Voraussetzung nicht viel zu holen gewesen, bei der PDS aber auch nicht. In einer Zeit, in der »Orientierungsofferten Jugendliche nicht erreichen«, wolle man einen »Rahmen für Orientierungswissen« geben. Die Ziele des demokratischen Sozialismus – Freiheit, Gleichheit, Solidarität – seien aber in der SPD abgeschafft, bei der PDS habe es eine Zeitlang »begriffliches Gedümpel« gegeben.

Offensichtlich war es ein »Kraftakt«, wie Gerd-Rüdiger Stephan formulierte, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Der Aufwand war hoch in jeder Hinsicht. Dutzende Mitarbeiter arbeiteten allein an Zeittafel, Gesamtbibliographie und Personenlexikon, die auf der beigelegten CD erfaßt sind. Obwohl die Autoren honorarfrei schrieben, beliefen sich die Kosten für die Rosa-Luxemburg-Stiftung auf eine Summe zwischen 150 000 und 200 000 Euro. Ein solches Unternehmen, so Burrichter, sei nur möglich in der im Osten entstandenen »zweiten Wissenschaftskultur«, nicht mit den »Verwöhnten« in staatlich besoldeten Instituten.

Gesellschaftsgeschichte

Worin liegt die Leistung des Bandes aus der Sicht seiner Macher? Der parallele Ansatz sei ein Unikat, so der Verleger. Neu sei etwa etwa die von Jörg Roesler im einleitenden Beitrag untersuchte Geschichte der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in beiden deutschen Staaten. Er gewinne damit einen völlig anderen Blick auf die zumeist ähnlichen Probleme, vor denen DDR und Bundesrepublik standen, und setze an die Stelle einer »piefigen Politikgeschichte« Geschichte der Gesellschaften. Auseinandergegangen seien die Entwicklungen erst in den 80er Jahren, als sich die DDR nicht in der Lage zeigte, die wissenschaftlich-technische Revolution zu bewältigen.

Der erste Satz des Vorwortes der Herausgeber lautet: »Die Existenz eines Einheitsstaates in der deutschen Geschichte war die Ausnahme«. Das, so Detlef Nakath im Gespräch mit jW, war Ausgangspunkt für die Frage, warum beide deutsche Staaten mit dem Kampfbegriff »Wiedervereinigung«, der im Buch vermieden werde, in den 50er Jahren arbeiteten und sich dennoch parallel entwickelten. Vor allem seien aber die zehn Jahre nach dem Zusammenschluß 1990 erstmals bearbeitet worden.

Ein Band dieser Art und dieses Umfangs sei etwas, »was bleibt«, meinte Schütrumpf. Der Verlag war so kühn, 2 000 Exemplare zu drucken, hofft also auf bleibende Verbreitung.

Clemens Burrichter/Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.): Deutsche Zeitgeschichte von 1945 bis 2000. Gesellschaft – Staat – Politik. Ein Handbuch. Karl Dietz Verlag, Berlin 2006, 1360 Seiten mit CD-ROM, Subskriptionspreis bis 30. April 75 Euro, danach 98 Euro