Nachricht | International / Transnational Was die Zukunft bringt

Kurze Eindrücke vom Europäischen Programmatik-Workshop der RLS in Stockholm, 9./10. Juni 2006

Wodurch unterscheiden sich programmatische Texte der Linken derzeit von solchen der Rechten? Man kann es mit einem Kinofilm vergleichen. Früher machten sich Konservative und Liberale mit Recht darüber lustig, dass linke Programmatik einer Schnulzen-Dramatik folgte. Erst der Blick auf eine großartige, sonnige, konfliktarme Zukunft, wo alle haben was oder wen sie brauchen; dann die dunklen Wolken der Jetztzeit, die mit den dramaturgischen Verwirrungen des Kapitalismus vieles düster erscheinen lassen; schließlich aber, nachdem alle endlich an einem Strang ziehen und für den Sozialismus kämpfen, löst sich alles doch in Wohlgefallen auf (was man auch gleich hätte haben können, wenn der politische Gegner es einem nicht so schwer machen würde).
Heute ist das völlig anders. Programmatische Texte der Linken folgen der Dramaturgie des Horror-Films. Die Welt ist erst mal schlecht; es gibt nur Elend und Misere, Armut, Arbeitslosigkeit, Krieg, Folter, Tsunamis. Und das hat keinen höheren oder tieferen Grund, sondern ist nur dem Wirken des Bösen geschuldet – wobei der Serienkiller auch kein T-Shirt mehr trägt mit »C« für »Capitalism«, sondern eins mit »NL« für »Neoliberalismus «. Wenn der zur Strecke gebracht ist, lässt sich wieder aufatmen. Ob’s dann wirklich toll ist? Wen schert’s, so wie NL gewütet hat. Deshalb sind, auch das ein Novum in der Geschichte der politischen Lager, linke Texte heute meist deutlich kürzer als die der politischen Konkurrenz. Der Plot ist einfach schneller erzählt.
Am 9. und 10. Juni 2006 taten sich auf einem Seminar in Stockholm einige zusammen, die damit nicht zufrieden sind. »Was heißt ›links‹ und ›Sozialismus‹ heute? Zur programmatischen Entwicklung der Europäischen Linken« hieß der Titel des Workshops, zu dem sich die RLS und ihre schwedische und norwegische Partnerorganisation trafen, das Centre for Marxist Social Studies (CMS, Schweden) bzw. die Manifesto Foundation (Norwegen). Es ging um strategische Projekte, aber auch um Visionen: Was kann ein erneuertes links Projekt anbieten? Was lässt sich aus dem Leben und der Welt noch machen, außer sie am Selbstmord zu hindern?
»Sozialistischer Individualismus« war der programmatische Titel des ersten Blocks (der zugrunde liegende Text von Magnus Marsdal war unlängst auch in der UTOPIE kreativ zu lesen), der gleich mit dem provozierenden Einstieg beginnt: »Der Neoliberalismus ist einfach nicht individualistisch genug!«, »Macht und Eigentum«, der zweite Block, war der Frage gewidmet, was Vergesellschaftung von Produktion heute bedeuten kann. »Sozialismus als Transformationsprojekt« (M. Brie, auf der RLS-Seite online) schließlich behandelte die Erneuerung sozialistischer Vision als einer libertären Utopie ebenso, wie die Anforderungen einer Strategie, die revolutionäre Ansprüche mit Kooperation, Problemlösung und Lernprozessen zusammen bringt.
Ungewöhnlich war auch die Form des Workshops. Anstatt vieler Einzelvorträge konzentrierte man sich auf die ausgewählten Basis-Texte und kurze Kommentare dazu. Das Ergebnis war ein außerordentlich diskussionsreiches, sehr produktives Wochenende, das im nächsten Jahr fortgesetzt werden soll. Eine Dokumentation der Debatte wird im Laufe des Jahres online zur Verfügung gestellt werden.
Dass die Mischung der Vorbereitungsgruppe nach Nationalitäten nur dann eine prima Sache ist, wenn dabei die Quotierung nach Geschlechtern nicht völlig in Vergessenheit gerät, wurde zu Recht von einer schwedischen Teilnehmerin angemerkt. Aber die schwedische Linkspartei ist ja auch ganz offiziell eine sozialistische und feministische Partei. Was südlich der Ostsee heute kaum eine Linkspartei so dezidiert von sich behaupten würde. Von wo sich wieder ein Bogen zum Stil der Programmatik schlagen ließe, weil Frauen im Allgemeinen lieber Schnulzen sehen als Horror-Filme, Männer dagegen...