Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - Staat / Demokratie - NSU-Komplex Das NSU-Tribunal hat getagt

Für die Aufklärung, im Namen der Gerechtigkeit, in Gedenken an die Opfer

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«Für die Aufklärung, im Namen der Gerechtigkeit, in Gedenken an die Opfer, gemeinsam mit ihren Angehörigen und Betroffenen» – dies war die Formel am 17. Mai im Schauspiel Köln, wo vor 600 Besucher*innen das Tribunal «NSU-Komplex auflösen» eröffnet wurden; unter anderem von der Auschwitz-Überlebenden Esther Béjarano. An fünf Tagen wurden die Netzwerke des sog. Nationalsozialistischen Untergrunds und seine Unterstützerstrukturen beleuchtet, das Gerichtsverfahren am OLG München kritisch hinterfragt und das Verhalten der Öffentlichkeit in den Jahren vor und nach der Selbstenttarnung des NSU 2011 betrachtet.

Dabei wurde konsequent die Perspektive der von Rassismus betroffenen Menschen eingenommen. Im Gegensatz zu anderen Tribunalen wie etwa dem Russel Tribunal zum Vietnamkrieg 1966 oder jenem zu den Berufsverboten in der BRD 1978 oder auch dem Londoner Tribunal von Willi Münzenberg zum Reichstagsbrand 1933 standen hier die Betroffenen und ihr Wissen im Zentrum, während die zahlreichen Prominenten und  Expert*innen lediglich ihre Erkenntnisse beitragen sollten. Dieses Grundprinzip wurde vielleicht in dem Moment am sichtbarsten, als der Bruder des ermordeten Theodoros Boulgarides sich nicht zufrieden gab mit den Erläuterungen einer bekannten antifaschistischen Journalistin und Mitarbeiterin des NSU-Bundesuntersuchungsausschusses und weiterführende Erklärungen verlangte. Der Perspektivwechsel im Fordern des Betroffenen und im Stottern der Expertin markierte eine Zäsur in der Weltgeschichte der Tribunale.

In zahlreichen Formaten – Lesungen, Theateraufführungen, Berichten, Ausstellungen und Diskussionsrunden – berichteten Angehörige der Mordopfer, die Geschädigten der Bombenanschläge, aber auch Hinterbliebene anderer aus rassistischen Tatmotiven Ermordeten von der systematischen Stigmatisierung, die sie Seitens ermittelnder Behörden, berichtender Medien und verantwortlicher Politiker*innen ausgesetzt waren. Bis heute wird die Aufklärung behindert, agieren bewaffnete Naziterrorist*innen – durchsetzt und geschützt von unzähligen V-Personen des Verfassungsschutzes –, und wird den Opfern eine angemessene Entschädigung verweigert.

Das NSU-Tribunal wollte all das anprangern und ändern. Dafür verfasste es eine 64seitige Anklageschrift, die sie am Samstag Abend vor rund 1000 Menschen der Öffentlichkeit vorstellte. Angeklagt wurden nicht nur zahlreiche Neonazis, die Teil der unmittelbaren Terrorstruktur waren bzw. sind, sondern auch ranghohe Geheimdienstler, die diese Netzwerke ausgiebig bewirtschafteten und heute deren Spuren akribisch zu verwischen suchen. Ebenso angeklagt wurden Politiker*innen, die statt an der Seite der angegriffenen unbescholtenen migrantischen Bürger*innen zu stehen, von integrationsunwilligen Parallelwelten fabulierten und diese Menschen dadurch schutzlos machten. Auch Beamte der Polizeibehörden wurden angeklagt, da sie ausschließlich gegen die Opfer ermittelten und über Jahre wissentlich Falschinformationen in den Bekanntenkreis verbreiteten, die zur gesellschaftlichen Isolation der Angehörigen führte. Medienvertreter*innen, die diese Politik der rassistischen Spaltung über Jahre mitbefeuerten, sind ebenfalls in der Anklage des Tribunals benannt. Laut den Organisator*innen des Tribunals machen diese Personen den Komplex NSU aus. 

Hinter dem Tribunal steckt das Ziel, ein gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen nicht nur für das Unrecht gegenüber migrantischen Betroffenen von Rechtsterrorismus und Rassismus, sondern auch für die Chance, die in einer solidarischen, postmigrantischen «Gesellschaft der Vielen» liegt. Eine Demokratie, die diesen Namen verdient, muss den Angriff auf Migrant*innen als einen Angriff auf die gesamte Gesellschaft begreifen.

Gerahmt wurde das Tribunal von einer beispiellosen Zusammenkunft antirassistischer und migrantischer Initiativen und Gruppen. Auf Workshops, in Ausstellungen, Foren und anderen Runden wurde um die Möglichkeit solidarischer Bündnisse und antirassistischer Strategien gerungen. Dabei lag der Fokus immer auf dem transformatorischen Potential migrantischer Kämpfe, was erfreulich wenig zu tun hatte mit den gegenwärtig üblichen antirassistischen Politiken akademischer identitärer Positonierungskonzepte. Die Kraft der Angehörigen der Opfer des NSU und anderer Opfer, unter ihnen die Familie Bektaș aus Berlin oder die Witwe von Ramazan Avcı aus Hamburg, verbaten jegliche Ermächtigung autoritärer Konzepte. Statt Betroffene gegeneinander auszuspielen war das Tribunal vielmehr dem Ziel verpflichtet, die rassistische Spaltung in unser Gesellschaft – Bedingung für den NSU-Terror – zu überwinden. Auch fanden sich weder Flyer zur nächsten G20-Demo, noch Infostände irgendwelcher Organisationen. Auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung als wichtiger Kooperationspartner war zwar maßgeblich durch die inhaltliche Arbeit ihrer Referenten, nicht aber repräsentativ engagiert.

Das Tribunal hat ein wichtiges Zeichen gesetzt. In Zeiten relativer Bewegungsarmut und linker Fraktionierung hat es verdeutlicht, wie groß das Bedürfnis und das Potential ist, sich auf eine migrantisch-situierte, demokratische und solidarische Perspektive einzulassen, die ausgehend von den Narrativen der von Rassismus Betroffenen umfassende gesellschaftliche Teilhabe zu thematisieren im Stande ist. Eine echte Chance für die Mosaiklinke, ihre Konzepte zu überprüfen.

Die in den letzten Jahren geknüpften Bündnisse unzähliger Einzelpersonen und Initiativen, das erarbeitete umfangreiche Material, die gründlich recherchierten Dokumente der Aufklärung und die Anklage gegen knapp hundert Personen, die für den NSU-Komplex verantwortlich gemacht werden, geben zukünftig genügend Anlass, den Gedanken des Tribunals weiterzuentwickeln und zu verbreiten. Der erste Schritt dafür ist getan.

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