Nachricht | Staat / Demokratie - International / Transnational - Asien - Westasien - Türkei «Marsch für Gerechtigkeit»: Zu wenig, zu spät?

Die Kemalisten entdecken die Gerechtigkeit. Kommentar von Ismail Küpeli.

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«Marsch für Gerechtigkeit», Türkei 2017
Ankara, 16. Juni 2017: CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu am zweiten Tag des Protests «Marsch für Gerechtigkeit» (adalet) REUTERS/Osman Orsal

Sehr lange hatte die türkische Oppositionspartei CHP keinen wirksamen Widerstand gegen das repressive und autoritäre Vorgehen der AKP-Regierung geleistet. Im Gegenteil: Die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten der prokurdischen Partei HDP geschah mit Unterstützung der CHP im Parlament. Nun wurde auch ein CHP-Abgeordneter verhaftet und die Kemalisten rufen zu einem «Marsch für Gerechtigkeit» auf.

Am 14. Juni wurde der CHP-Abgeordnete Enis Berberoğlu wegen «Spionage» und «Unterstützung einer terroristischen Organisation» zu 25 Jahren Haft verurteilt. Am Tag danach rief der Vorsitzende der kemalistischen Partei, Kemal Kılıçdaroğlu,  zu einem «Marsch für Gerechtigkeit» auf. Der Marsch soll von Ankara nach Istanbul zu dem Gefängnis führen, in dem Berberoğlu inhaftiert ist. Der Aufruf zu einem solchen Protest auf der Straße ist für  Kılıçdaroğlu ein großer Schritt, hatte er doch zuvor innerhalb der CHP derartige Proteste zu unterbinden versucht und immer wieder dazu aufgerufen, ausschließlich im Parlament politisch tätig zu sein. Inzwischen befindet sich der Marsch auf halber Strecke bei der Kleinstadt Düzce und umfasst einige tausend Teilnehmer*innen.

Während der Marsch für die CHP einen Wandel hin zu offener Opposition gegenüber der türkischen Regierung markiert, bleibt die linke und kurdische Opposition skeptisch. So erklärte die HDP zwar ihre Unterstützung für den CHP-Marsch, sie erinnert aber gleichzeitig an die fatale Entscheidung der Kemalisten  im Mai 2016. Damals hatte das Parlament mit Stimmen der Regierungspartei AKP und den Opposititionsparteien CHP und der ultrarechten MHP die Immunität aller 59 HDP-Abgeordneten aufgehoben. Vielen von Ihnen wird die «Mitgliedschaft in einer  terroristischen Organisation» vorgeworfen und es wurde Klage gegen sie erhoben. Im November 2016 wurden schließlich die beiden Parteivorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sowie zehn weitere Abgeordnete der Partei inhaftiert. Sie sind bis heute in Haft und es ist nicht absehbar, ob und wann sie freigelassen werden. In einigen Fällen, so etwa gegen die beiden Parteivorsitzenden, gab es bereits die ersten Verurteilungen zu Haftstrafen. Die CHP ihrerseits hat seither mit keinem Wort die Inhaftierung der HDP-Abgeordneten kritisiert.

Mehr noch: Nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 hatte die CHP-Parteiführung sogar ihre Unterstützung für die AKP-Regierung deutlich gezeigt. Der gemeinsame Auftritt von CHP-Parteichef Kılıçdaroğlu mit Staatspräsident Erdoğan und Devlet Bahçeli, dem Parteivorsitzenden der MHP, am 7. August 2016 in Istanbul versinnbildlichte die Haltung der CHP-Führung zur AKP-Regierung. Als „staatsloyale“ Opposition hat es die CHP nicht geschafft, den auf den versuchten Putsch folgenden de facto Staatsstreich der AKP und die Massenverhaftungen adäquat zu kritisieren. Mehr als 54.000 Menschen wurden seither inhaftiert, darunter über 160 Journalist*innen und viele HDP-Oppositionspolitiker*innen. Und als das autokratische Präsidialsystem im April dieses Jahres mittels eines – mutmaßlich manipulierten – Referendums etabliert wurde, weshalb die die CHP-Basis zu Straßenprotesten aufrief, intervenierte die Parteiführung umgehend und sorgte dafür, dass die Kemalisten sich nicht an den Protesten beteiligten.

Noch ist nicht absehbar, ob sich der «Marsch für Gerechtigkeit» zu einem Fokus der Opposition gegen die autokratische Regierung von Recep Tayyip Erdogan entwickeln wird. Entscheidend wird dabei sein, ob sich die anderen Oppositionskräfte trotz ihrer Skepsis gegenüber der CHP-Parteiführung, anschließen. Ebenso wenig ist klar, wie die Regierung reagieren wird. Bisher äußerte sie sich vergleichsweise zurückhaltend. Staatspräsident Erdoğan drohte jedoch implizit damit, Kılıçdaroğlu festnehmen zu lassen, während Ministerpräsident Yıldırım höhnisch kommentierte, Kılıçdaroğlu solle lieber den Schnellzug nehmen, statt zu laufen. Dass der Marsch gewaltsam gestoppt wird oder sich am Zielort ergebnislos auflöst, ist ebenso möglich wie die Entstehung eines Bündnisses der demokratischen Kräfte in der Türkei. 

Inzwischen ist der Marsch bei der Kleinstadt Hendek in der Provinz Sakarya angekommen.