Nachricht | International / Transnational - Europa Jugend, Linke und Prager Frühling

Ein Workshop der RLS und des Projektpartners SPED in Prag diskutierte die jugendliche Dissidenz Ende der 60er in der sozialistischen Tschechoslowakei.

Obgleich es auch in der ČSSR in dieser Zeit zu einer vergleichsweise umfassenden und vielfältigen subkulturellen Bewegung ("westlich" geprägte Musikszene, "Rowdytum", nicht konforme Haltung, Trampen) ebenso wie zu einer Verselbstständigung einiger Klubs und Jugendorganisationen und sogar zu einzelnen Demonstrationen kam, spielte die Zuspitzung von Generationskonflikten im Gegenzug zu anderen europäischen Bewegungen während des Prager Frühlings nur eine latente, untergeordnete Rolle.

Dies stellte Martin Franz (Mitglied von SPED) zu Beginn des Workshops über die Geschichte der Verselbstständigung der Jugendbewegung sowie die neuen jugendkulturellen Entwicklungen in der ČSSR der "langen 1960er Jahre" fest.

Nach dem Überfall der Armeen der Warschauer-Pakt-Staaten im August 1968 änderte sich dies: in den Protesten waren Studierende und Jugendliche entscheidende Akteure. Gleichzeitig wies Franz darauf hin, dass "Jugendlichkeit" keine Kategorie ist, die eindeutig dem Protest zugeordnet werden kann, zumal die Ablösung zahlloser Funktionäre des Parteiapparats nach dem August Aufstiegschancen bot, die ein Teil der jungen Generation durchaus nutzte.

Die These des Übergangs von der "Latenz" zum Widerstand konkretisierte Jakub Jareš

(Karlsuniversität Prag, Philosophische Fakultät), indem er die Geschichte der Proteste und Besetzungen ebendieser Fakultät in der Zeit nach dem August 1968 nachzeichnete.

Die Fakultät wurde u.a. zu einem zentralen Organisationsort für die im ganzen Land verbreitete Bewegung gegen die Zerschlagung der bürgerlichen Freiheiten und die Einschränkung der sozialen Rechte. In einer außerordentlich dichten Beschreibung schilderte Jareš, wie die Streiks an den Universitäten durch die Direktion geduldet und in der Bevölkerung mit einer passiven Sympathie verfolgt wurden, wie sie zudem "westliche" Protestformen annahmen, bis hin zu einer partiellen positiven Bezugnahme auf den Maoismus, welche nicht als Widerspruch zu den grundlegenden demokratischen Forderungen (Abschaffung der Zensur, kulturelle und persönliche Freiheiten) gesehen wurden. Im Rahmen der Bewegung blieben zugespitzte Aktionen wie die Selbstver­brennung Jan Palachs im Januar 1969 in tragischer Weise isoliert.

Petr Cajthaml (Karlsuniversität Prag, Institut für Geschichte) fügte eine weitere soziale Dimension hinzu, indem er die Berichterstattung der tschechischen Presse über spontane Proteste, die 1968/69 nicht nur von Studierenden, sondern auch von Arbeitenden initiiert wurden, darstellte. Auch in Cajthamls Vortrag wurde die wichtige Rolle der "versperrten" Staats-Öffentlichkeit betont: Über Proteste und Streiks, mit dem Höhepunkt der Aktionen von zehntausenden Menschen zum ersten Jahrestag der Okkupation, wurde durchaus berichtet, negative Reaktionen wurden unter anderem auf sowjetischen Druck verstärkt, die meisten Aktionen wurden als "unpolitisch" oder gar "kriminell" geschildert. Die slowakische Presse berichtete in der Tendenz ausführlicher, aber durchaus auch feindlicher über die Ereignisse.

Der Prager Frühling – eine „Verschwörung der Intellektuellen“?

An den in der historischen tschechisch-slowakischen Öffentlichkeit virulenten Vorwurf, der "Prager Frühling" sei eine "Verschwörung der Intellektuellen" gewesen, schloss der Beitrag von Holger Politt (Büroleiter RLS Büro Warschau) an, der die polnische Demokratiebewegung des Jahres 1968 und die auf sie folgende Welle antisemitisch konnotierter und staatlich inszenierter Repressionen schilderte (siehe auch seinen Beitrag in Rosalux, Nr. 1_2008).

Tomáš Vilimek (Tschechische Akademie der Wissenschaften, Institut für Zeitgeschichte) stellte schließlich dar, wie sich die Proteste gegen die Besetzung der ČSSR in der DDR entwickelten, und Peter Birke (Universität Hamburg, Fachbereich Geschichte) sowie Stanslav Holubec (SPED, Karlsuniversität Prag, Pädagogische Fakultät) entwickelten Thesen zur Vergleichbarkeit der Ereignisse in Ost und West sowie zur globalen Bedeutung der Protestbewegungen der 1968er Jahre.

Ein Problem, das in diesem Zusammenhang angesprochen wurde, ist die sehr unterschiedliche Rezeption der Bewegungen. Während die 1968er Jahre in der Bundesrepublik oder Frankreich derzeit sehr selektiv aber dafür umso ausführlicher öffentlich verhandelt werden, war die hier geschilderte Tagung eine der wenigen in der Tschechischen Republik, die sich mit dem Prager Frühling befasste. Eine der möglichen Ursachen dafür scheint die mangelnde positive Bezugnahme aller wichtigen gesellschaftlichen Gruppierungen und bedeutenden Parteien in der Tschechischen Republik auf den demokratischen Sozialismus des "Frühlings".

Um so wichtiger sind Veranstaltungen wie die hier geschilderte, die auf einem durchweg hohen wissenschaftlichen Niveau stattfand und durch Beiträge von Zeitzeugen wie Petr Uhl, ein sozialistischer Dissident, der nach 1968 rund neun Jahre im Gefängnis verbringen musste, bereichert wurden. Aus bundesdeutscher Sicht ist die Auseinandersetzung mit den historischen Kämpfen und sozialen Konflikten im Osten Europas in den 1968er Jahren auch deshalb bedeutend, weil der ausschließliche Blick auf (einige Länder des) Westens im Grunde immer wieder eine Reproduktion der gedanklichen Grenzen des Kalten Krieges mit sich führt.

Dr. Peter Birke, Hamburg