Nachricht | Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - Rosa-Luxemburg-Stiftung Wie es gehen könnte

Jan Korte: «Wir brauchen eine klare Haltung und das Wissen, für wen man eigentlich Politik in einer linken Partei macht.»

Information

Autor

Jan Korte,

Jan Korte
Jan Korte, Foto: Rico Prauss

Aktuell wird in der gesellschaftlichen Linken und in der Partei DIE LINKE diskutiert, für wen eigentlich linke Politik gemacht wird und auf welche Wählerinnen und Wähler man sich konzentrieren sollte. Kämpfen wir um Wählerinnen und Wähler, die wir an die AfD verloren haben? Wie halten wir die vielen neuen UnterstützerInnen? Was ist der Kern, was die «Seele» linker Politik?

Ich meine: Als Linke macht man Politik für eine solidarische Gesellschaft, die vor allem die Interessen derjenigen artikuliert, deren Stimme zumeist nicht gehört wird. Als Linke machen wir Politik für die Menschen dort unten, für die Menschen ohne Lobby (egal woher sie kommen), für die Arbeiterklasse und für die, die durch die Verhältnisse gedemütigt und zugerichtet werden. Politik mithin für diejenigen, bei denen am Tag der Geburt bereits klar ist, dass sie keine Zukunft auf der Sonnenseite der Gesellschaft haben werden. Politik und Empathie für diejenigen, die nicht wissen, wie sie durch den Monat kommen, für diejenigen, die von ihren Bossen malträtiert werden, für diejenigen, die Angst vor der Zukunft haben, für diejenigen, die im Hartz-IV-System entmündigt werden, für diejenigen, die die kärgliche Rente zusammenkratzen müssen, um mit ihren Enkelkindern einmal in den Tierpark gehen zu können, und natürlich auch für diejenigen, die alles verloren haben und aus ihrer Heimat fliehen mussten. Und wir machen Politik für diejenigen, die den Reichtum dieses Landes täglich durch Arbeit schaffen, die das Rückgrat dieser Gesellschaft bilden, die als Krankenschwestern, Mechaniker, Handwerkerinnen, Industriearbeiter oder Büroangestellte das Rad am Laufen halten, aber immer stärkere Sorgen haben, ob sie ihren erarbeiteten Lebensstandard halten können.

Umgekehrt heißt das, dass man dementsprechend weniger Politik für diejenigen macht, bei denen am Tag der Geburt klar ist, dass sie zu 99 Prozent ein Leben auf der Sonnenseite der Gesellschaft führen werden.

Deswegen ist es von entscheidender Bedeutung, sich darauf zu verständigen, für wessen Interessen wir eigentlich in den Parlamenten und auf der Straße kämpfen. Dafür braucht man Zugang zum Alltag unterschiedlicher Milieus. Und das gilt im Speziellen auch für die Kultur und die Sprache von Menschen – auch wenn es nicht die eigene ist oder wenn sie einem nicht gefällt.

In der taz vom 30. September 2017 war zur aktuellen Debatte zu lesen: «Es gibt Linke, die hinter vorgehaltener Hand von einem Reinigungsprozess sprechen. Die problematischen Wähler wenden sich ab und werden ersetzt von einem jungen, weltoffenen, urbanen Milieu.» Dieses Zitat lohnt eine genauere Auseinandersetzung.

DIE LINKE darf sich nicht auf den Weg der Grünen begeben.

Wer glaubt, man könne lediglich mit einem urbanen Milieu als Zielgruppe (welches natürlich auch differenziert zu betrachten ist) einmalig oder gar dauerhaft bundesweit auf über 5 Prozent der Stimmen kommen, der irrt (umgekehrt gilt dies auch, wenn man sich lediglich z.B. auf Erwerbslose konzentrieren würde). Davon abgesehen ist auch die zugrundeliegende Denkweise kritikwürdig: Wenn man alle abschreibt, die sich merkwürdig anziehen, die über andere Witze lachen, vielleicht sogar über die falschen, ja, die sogar Ressentiments im Kopf haben, die sich qua ökonomischer Situation kein Bioland-Gemüse leisten können und die bei geselligen Anlässen gerne Bockwurst mit Schrippe essen, dann verfehlt man grundlegend die Aufgaben und Anforderungen an linke Politik. Man würde sich auf den Weg der Grünen begeben. Das darf Linken aber nicht passieren, weil wir als Sozialistinnen und Sozialisten wissen, dass es die Verhältnisse sind, die geändert werden müssen, und dass jeder Mensch ein Recht auf Beachtung und Respekt hat.

Wir müssen also darüber nachdenken, warum wir bei Arbeitslosen und Arbeitern mittlerweile so schlecht abschneiden, obgleich wir doch eigentlich unsere Hauptanstrengung darauf verwenden, deren Lebensverhältnisse zu verbessern. Vielleicht muss man sich öfter konkret mit jenen Schicksalen beschäftigen, die die Politik zu verantworten hat: Wenn Kinder nicht an Klassenfahrten teilnehmen können; wenn die Rente hinten und vorne nicht reicht; wenn die Demütigung der Leiharbeit Menschen zu Sklaven degradiert, dann muss man nicht nur von Ungerechtigkeit sprechen, sondern muss klar benennen, was so vielen Leuten in diesem System zugemutet wird: Es ist strukturelle Gewalt, die sie erleiden. Zuvorderst muss eine glaubwürdige Linke diese Gewalt beenden. Vielleicht ist das klare Aussprechen, die aufklärerische Emotionalisierung, der erste Schritt, um dort wieder gehört zu werden.

Für Linke ist es elementar die Scham zu bekämpfen: Sich für die eigene Armut zu schämen, das ist die zentrale Gewalt, die Menschen klein hält und sie daran hindert, selbstbewusst für ihre Rechte und ihre Würde zu streiten.

DIE LINKE muss die Partei sein, die der Scham den Kampf ansagt.

Außerordentlich erfreulich ist, wie viele, besonders Jüngere, die LINKE gewählt haben und sogar Mitglieder der LINKEN geworden sind. Das ist wesentlich für unsere Zukunft. Auch dass sich viele Menschen, denen es gut geht, für die Linke entscheiden, weil sie nicht wollen, dass es anderen schlecht geht, ist ein großer Erfolg. Diese häufig jungen Menschen sind selbstverständlich in einem politischen Bewusstsein aufgewachsen, das weit über den nationalen Tellerrand hinausragt. Europa, kulturelle Vielfalt, globaler Austausch sind für sie Selbstverständlichkeiten, die – häufig auch aufgrund des Geldbeutels der Eltern – nicht als Konkurrenz und Bedrohung erfahren werden. Die LINKE muss Politik selbstverständlich auch für diese Menschen formulieren und vertreten. Deswegen sollte die LINKE das eine tun, ohne das andere zu lassen. Stefan Liebich hat den urbanen Wahlkreis Pankow haushoch direkt gewonnen. Das zeigt, dass die LINKE bei überzeugender Ansprache und glaubwürdiger Politik in den urbanen, gebildeten Milieus dauerhaft verankert sein kann. Allerdings würde ich mit dieser Art der Ansprache in meinem ländlichen, ostdeutschen Wahlkreis, trotz glaubhafter Politik, nur wenig gewinnen. Wir müssen also unterschiedliche Kulturen bedienen und leben. Beides ist gleichermaßen wichtig.

Die soziale Frage ist die Klammer, die beide Schichten, Klassen, Milieus – oder wie auch immer man es nennen und analysieren will – zu verbinden vermag. Bezahlbarer Wohnraum, Zugang zu öffentlichen Gütern, Bildung für alle, auskömmliche Einkommen – diese Erwartungen an linke Politik verbinden ganz unterschiedliche Gruppen und Milieus. Wie wäre es beispielsweise, eine Bewegung zu starten, die mutig ein Verbot von Privatisierungen fordert? Verankert in den Kommunal- und Landesverfassungen und schließlich im Grundgesetz? Wie wäre es für einen 5-Jahres-Plan zu kämpfen, in dem jeder mittleren Kommune wieder ein Schwimmbad und eine Bibliothek zur Verfügung steht? Wie wäre es, eine Re-Verstaatlichung der Bahn, des städtischen Raums oder aller Stadtwerke und kommunalen Energieversorger auf die Tagesordnung zu setzen? Das wären Klammerthemen, die Mut brauchen und auf den ersten Blick unerreichbar erscheinen. Gerade so etwas wie erkämpfbare, konkrete Zukunftsthemen brauchen wir als LINKE ganz dringend. Denn richtig ist doch, dass wir in den letzten Jahren fast ausschließlich mit der Abwehr von Angriffen auf den Sozialstaat, die Bürgerrechte etc. beschäftigt waren. Und diese gesellschaftliche Situation ist es, die viele Leute dazu bringt, gar nicht mehr wählen zu gehen und die Politik komplett abzuschreiben.

Nach allen Studien und Langzeitbeobachtungen gibt es rund 20 Prozent der Bevölkerung, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Ein Teil davon hat in der AfD ihre Partei gefunden. Wer überzeugt rechtsextrem ist, also die Gleichwertigkeit von Menschen prinzipiell negiert, um die muss man als Linker nicht kämpfen. Aber es gibt eben auch andere, die aus ökonomischen Gründen oder aus Globalisierungsangst Ressentiments entwickelt haben und früher durchaus links wählten. Wer alle jene in Gänze abschreibt, ist raus. Konkret würde es bedeuten, meinen Wahlkreis abzuschreiben und mich mit maximal 21 Prozent zufrieden zu geben, obgleich wir schon über 30 Prozent hatten. Das wäre unpolitisch. Und wir müssen auch das Rad nicht neu erfinden. Das historische Rekordergebnis der LINKEN von 2009 – fast 12 Prozent bundesweit – hat doch gezeigt, was möglich ist. 2009 waren unter den Wählerinnen und Wählern der LINKEN garantiert auch solche, die Vorurteile und Ressentiments in ihren Köpfen hatten. DIE LINKE hat es aber damals geschafft, diese Wählerinnen und Wähler von ihrem politischen Angebot zu überzeugen und sie dazu gebracht eine Abwägung ihrer Interessen zu treffen. Klassenkampf statt Ausgrenzung, könnte man vereinfachend sagen. Denn ein wesentlicher Teil von Wählerinnen und Wählern fragt sich doch, wozu seine Wahlentscheidung eigentlich gut ist. Damals schuf die LINKE sogar ein ganz kleines Stück dessen, was im Zuge des Neoliberalismus und des Endes der SPD als «Partei der kleinen Leute» verloren gegangen war: So etwas wie «Klassenidentität». Viele derjenigen, denen es nicht gut geht, sagten damals öffentlich: «Ich unterstütze die LINKE, die kümmert sich um mich, die hat in etwa eine Ahnung, wie es mir geht.»

Oliver Nachtwey hat in seiner exzellenten Untersuchung «Die Abstiegsgesellschaft» wesentliche Ursachen dafür aufgezeigt, warum die unteren Mittelschichten Angst haben abzustürzen: Früher gab es die «Fahrstuhlgesellschaft» (Ulrich Beck), bei der es (mit großen Ausnahmen, Migranten z.B.) für alle bei Beibehaltung der ungleichen Vermögensverteilung, tendenziell nach oben ging. Heute haben wir die «Rolltreppengesellschaft» (Nachtwey) die langsam, aber konstant nach unten führt. Und wer in der Mitte bleiben will, muss immer mehr strampeln, was auf Dauer zur Barbarisierung der Gesellschaft führt. Daher ist das Schaffen von sozialer Sicherheit zentral, um die Idee der solidarischen Gesellschaft zu festigen.

Die Verluste der LINKEN in Ostdeutschland sind hart. Daher muss sie sich als Gesamtpartei wieder vermehrt um die neuen Bundesländer kümmern. Und das fängt damit an, über Erfahrungen und Empfindungen zu sprechen. Was bedeutet es eigentlich für das Selbstbild von Menschen, die hart in der Pflege arbeiten, wenn sie für die gleiche Arbeit weniger Geld bekommen als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen? Wie fühlt es sich an, wenn Gewerkschaften Tarifverträge aushandeln, in denen genau das festgeschrieben ist? Was denken etwa die Bitterfelder, die nach der Wiedervereinigung dabei zugesehen haben, wie die Chemie- und Filmfabriken, in denen sie jahrelang gearbeitet haben, über Nacht platt gemacht wurden? Und wie fühlt es sich an, wenn die Solarindustrie der Region einen riesigen Aufschwung beschert, dann aber erneut über Nacht zusammenbricht? Das entschuldigt nichts, klar. Aber man muss versuchen, es nachzuempfinden. Selbstkritisch müssen wir als LINKE sagen: Vielleicht haben wir in den letzten Jahren zu wenig gesehen, zu wenig gespürt. Dabei ist es für Linke doch klar: Man kann nicht zulassen, dass ein ganzer Landesteil für die gleiche Arbeit und die gleiche Lebensleistung weniger Lohn und weniger Rente bekommt.

Kurz: Thematisierung, Emotionalisierung und praktisches Erleben. Vielleicht sollten wir zwei ausgefeilte Anträge und Berechnungen weniger verfassen und dafür mit Hüpfburgen durch große und kleine Städte ziehen und mit den Leuten Gespräche führen.

Wer der AfD auch nur ein Stück weit entgegenkommt, oder ihre Themen auch nur ansatzweise übernimmt, der stärkt sie.

Die LINKE ist das krasse Gegenteil der AfD in Theorie und Praxis. Das ist unumstritten, und wir müssen im Bundestag die Erfahrungen der Genossinnen und Genossen aus diversen Landtagen und den Kommunalparlamenten aufnehmen. Ich will aber auf eine andere, ganz wesentliche Aufgabe aufmerksam machen. In den kommenden Jahren ist es von entscheidender Bedeutung, in einem breiten Bündnis ein gesellschaftliches Klima zu schaffen, das es der CDU/CSU unmöglich macht, perspektivisch mit der AfD zu kooperieren. Diese Tür muss verriegelt, der Weg der österreichischen Politik verhindert werden.

Wenn wir ernsthaft versuchen, die sogenannten Abgehängten in den Städten und auf dem Land sowie diejenigen, die über ein hohes Bildungsgut verfügen und besonders in den urbanen Zentren zu Hause sind, zusammen zu bringen, dann müssen wir uns gut aufstellen. Organisatorisch, auf relevante Themen konzentriert, mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunkten und Tonalitäten, klar und fest in unseren Grundüberzeugungen, dann können wir noch erfolgreicher sein. Jeweils nur eine Seite zum Schwerpunkt zu machen, wird zum Scheitern führen.

Was heißt das konkret: In fast jeder Analyse des Zustands der Linken taucht entweder Bernie Sanders oder Jeremy Corbyn auf. Ich nehme Corbyn. Bei der Brexit-Abstimmung in Gebieten wie Birmingham und Sheffield, also den ehemaligen industriellen Zentren, die nun am Boden liegen, hat eine Mehrheit für den Brexit votiert – aus den unterschiedlichsten Gründen. Das Sensationelle, was uns auch hier Mut machen sollte, ist, dass Corbyn es nur ein Jahr später mit einer klaren und glaubwürdigen linken Agenda schaffte, diese Gebiete für Labour zurückzuerobern. Das zeigt, dass es real möglich ist, verlorene Wählerinnen und Wähler, Menschen aus dem Nichtwählerlager und aus anderen Ecken zurückzuholen. Dafür braucht man eine klare Haltung und das Wissen, für wen man eigentlich Politik in einer linken Partei macht.

 
Jan Korte, 40, stellvertretender Vorsitzender der Bundestagsfraktion Die Linke, Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung.