Publikation Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - Westeuropa Katalonien-Unabhängigkeit

Zur Anwendung des Artikels 155 der spanischen Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung Kataloniens

Information

Reihe

Online-Publ.

Autorin

Vera Bartolomé,

Erschienen

Oktober 2017

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Menschen versammeln sich am Nachmittag des 27. Oktobers 2017 auf dem Sant Jaume Platz und feiern die Unabhängigkeit. CC BY-NC-ND 2.0, Fotomovimiento

Katalonien und Spanien durchleben historische Momente. Die Eskalation der Ereignisse der letzten Monate haben zur Anwendung des Artikels 155 auf Katalonien nach der Unabhängigkeitserklärung des katalanischen Regionalparlamentes geführt.

In den letzten Monaten hat in Katalonien die Unabhängigkeitsfraktion (die Parteien Junts per Sí und Candidatura d'Unitat) die Gesetze durchgesetzt, die es ihnen erlaubt hat, die Unabhängigkeit auszurufen: Das Referendum, das am ersten Oktober stattfand und die aktuelle Unabhängigkeitserklärung basieren auf dem «Gesetz über den rechtlichen Übergang und die Gründung der Republik», das eine knappe Mehrheit (71 von 135 Stimmen) des katalanischen Parlamentes am 8. September beschlossen hat. Es legt fest, wie auf dem Weg zur Erklärung der Unabhängigkeit zu verfahren ist. Eine massive Mobilisierung der Menschen auf den Straßen hat diese institutionellen Schritte unterstützt, nicht zuletzt das Referendum vom 1. Oktober selbst und mehrere starke Demonstrationen. Die konservative spanische Regierung, zusammen mit der sozialdemokratischen PSOE und der neuen Rechtspartei Ciudadanos antworteten mit der Absetzung der katalanischen Regierung und Auflösung des Regionalparlamentes in Anwendung des Artikels 155 der spanischen Verfassung. Dieser ist nahezu eine Kopie des Artikels 37 («Bundeszwang») des deutschen Grundgesetzes. Der Artikel 155 wurde nie durch Ausführungsgesetze konkretisiert. Seine Anwendung wurde vom Senat beschlossen, aber nie im Abgeordnetenhaus diskutiert. Das bedeutet eine klare Überschreitung geltenden Rechts und eine den sozialen und politischen Konflikt anheizende Maßnahme.

Der einzige Ausweg aus dem aktuellen politischen Konflikt ist ein Dialogprozess. Ein zwischen Katalonien und der Zentralregierung ausgehandeltes Referendum muss das Selbstbestimmungsrecht garantieren und eine überzeugende Beteiligung der Katalan*innen ermöglichen. Ihm muss eine breite Debatte über die Staatsform vorausgehen. Umfragen zeigen, dass 80% der Katalan*innen unabhängig von ihrer politischen Überzeugung das Selbstbestimmungsrecht unterstützen. Die Mobilisierung zum Referendum vom 1. Oktober bestätigt dies mit mehr als zwei Millionen Ja-Stimmen. Mehr Demokratie ist der einzige Ausweg in einer Situation, in der Demokratie seltenes Gut geworden ist.

Viele Linke und ihre Parteien und Gewerkschaften sehen im Referendum und auch in den Regionalwahlen von 2015 kaum ausreichend Legitimation für eine Unabhängigkeitserklärung, wie sie jetzt erfolgt ist. Ein Großteil der katalanischen Bevölkerung war nicht einbezogen und soziale Fragen sind kein zentrales Anliegen des Prozesses. Viele Jahre lang haben rechte Parteien in Spanien und Katalonien ein neoliberales Programm mit Austerität und Maßnahmen gegen soziale Rechte und Rechte der Arbeiter*innen umgesetzt. Korruptionsskandale erschütterten beide Seiten. Die Bewegung des 15. Mai 2011 mobilisierte in großem Umfang die populären Klassen gegen diese Trends. Heute wird in Katalonien und Spanien weiterhin neoliberale Politik umgesetzt und die soziale Krise wird nicht angegangen.

Nun haben jüngst die Katalan*innen erfahren, wie der Zentralstaat ihr Demonstrationsrecht unterdrückt hat und die Nationale Polizei sowie die Guardia Civil in Katalonien einsetzt. Am Tag des Referendums wurden 900 Personen verletzt. Diese Angriffe waren durch nichts zu rechtfertigen. Ebenso ist die Inhaftierung von führenden Personen der Asamblea Nacional Catalana (eine aktivistische Gruppe für die Unabhängigkeit) und Ómnium Cultural (katalanische Kulturorganisation) unter Anklage der Volksverhetzung ein Teil der repressiven Strategie.

In diesem Zusammenhang ist die Anwendung der Artikels 155 antidemokratisch und unverhältnismäßig. Sie gibt der spanischen Regierung eine die Grundrechte einschränkende Macht. Sie stellt einen schweren Fehler dar, der die Spannungen in Katalonien und im Rest Spaniens nur verschärfen wird. Sie öffnet das Feld für Rechtsaußenpositionen, die eine stärkere Repression verlangen. Dass die spanische Zentralregierung nach fast 40 Jahren katalanischer Selbstregierung die katalanische Regierung absetzt zeigt, dass die 1978 nach Franco installierte politische Ordnung am Ende ist. Die konservative Partido Popular, die Sozialdemokratie (PSOE) und die Ciudadanos versuchen die aktuelle soziale und politische Krise autoritär zu lösen. Ihr konservatives und repressives Vorgehen gegenüber dem politischen Konflikt in Katalonien  führt zu einem Spanien, das weniger demokratisch, zentralistischer und damit weniger frei sein wird. König Felipe hat seine Neutralität aufgegeben und ist ein wichtiger Akteur im Konflikt. Er spielt dabei die zweifelhafte Rolle, bei der Bildung einer reaktionären Front den genannten Parteien zu helfen.

Die Lösung, die ein Teil der Linken in Spanien und Katalonien propagiert, ist ein verfassungsbildender Prozess von unten, der in eine Republik und in einen föderalen Staat münden sollte. In einem Land, in dem mehrere Nationen leben und das wegen der neoliberalen Angriffe auf die spanischen und katalanischen populären Klassen am Ende ihrer 1978 installierten politischen Ordnung ist, ist ein neuer verfassungsbildender Prozess notwendig. Er umfasst die Stärkung sozialer Rechte und die Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung. Der demokratische Weg ist eng verbunden mit einer Priorität für die Rechte auf Arbeit, Gesundheit, Bildung, Alterstrenten usw. Die Krise des spanischen Regimes sollte für ein neues politisches Projekt genutzt werden, das Plurinationalität, Menschen- und soziale Rechte garantiert.

Übersetzung: Claus-Dieter König