Nachricht | Geschichte - Deutsche / Europäische Geschichte - GK Geschichte Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Darmstadt 2017

Ideeller Kern der Lebensreform sind Körperpraktiken, Erlösungsgedanke und Sozialutopie

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Viele der heute medial präsenten Praktiken der jungen, urbanen und materiell halbwegs bis gut aufgestellten Mittelschicht erinnern an die historische Lebensreform des beginnenden 20. Jahrhunderts. Damals waren „zivilisationskritische Ideologien, gegenkulturelle Naturentwürfe und körperliche Achtsamkeitsstrategien“ (S. 6) und, so könnte man hinzufügen: Verschwörungstheorien, ebenso en vogue wie heute. In den letzten Jahren sind Jugendbewegung und damit zusammenhängend die Lebensreform nicht zuletzt durch Ausstellungen und Begleitpublikationen (Nürnberg 2013, Potsdam 2015) und ein Heft von ZEIT.Geschichte (2/2013) wieder etwas mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt.

Wedemeyer-Kolwe legt nun einen (weiteren?) Überblicksband vor, der, so der Autor, „ein Fazit ziehen“ und ein „Kompendium“ darstellen soll. Das Buch ist nach einem Kapitel über Begriffe und Motive in die vier Teile Ernährung, Naturheilkunde, Körperkultur und Siedlung untergliedert. Es endet mit einem interpretierenden Fazit und einem Ausblick, der auch eine Rückschau auf die Forschung der letzten Jahrzehnte zur Lebensreform enthält. Nach einer Analyse der Grundbegriffe, der inhaltlichen Essentials, der Motive und Stichwortgeber der Bewegung werden die vier Praktiken – auch hinsichtlich von Verbindungen und inhaltlichen und persönlichen Überschneidungen untereinander – dargestellt. Dabei geht der Autor immer wieder auf die Wirkungsgeschichte ein; die habe vor allem grob umrissen darin bestanden, dass Elemente der Lebensreform zu Lebensstilelementen der Mittelschicht geworden seien. Siedlung ist für ihn das Zentralprojekt und die eigentliche Utopie der Lebensreform, er nennt die Zahl von circa 100 jugendbewegten und lebensreformerischen Siedlungen zwischen 1918 und 1933. Hier wäre anzumerken, dass die Siedlungen oft von Unerfahrenen gegründet wurde, und nicht nur deshalb nur kurz existierten. Vermutlich hatten sie quantitativ am wenigsten Bedeutung unter den vier genannten Feldern. Nicht zuletzt gab es, und das nennt der Autor, bei der Siedlung die meisten Schnittpunkte zu völkischen Ideologemen.

„Die Natur erschien uns in dem Sumpf der Überzivilisation als das schlechthin Vollkommene, Reine, Große und Schöne“. Dieses, rückblickende Zitat von Gustav Adolf Küppers aus dem Jahre 1924 enthält die meisten Topoi der Lebensreform. Die negative Charakterisierung von Stadt, Technik, Rationalität und Zivilisation, der dann eine ökologisch-ästhetisierende, wenn nicht organisch-biologistische Sicht auf die Welt entgegengestellt wird, die nicht zuletzt oft Ausdruck persönlicher Verunsicherung ist.

Als „theoretischen“ und ideellen Kern der Lebensreform kommt Wedemeyer-Kolwe immer wieder auf die Trias Körperpraktiken, Erlösungsgedanke, Sozialutopie zu sprechen. Er weist wiederholt daraufhin, dass die Lebensreform zwar die moderne, industrielle Massengesellschaft kritisierte, sie aber ohne sie nicht zu denken ist und sie auch die Medien und Möglichkeiten ebendieser für ihre Aktivitäten benötigte, etwa ein funktionierendes Post- oder Eisenbahnnetz. Schlussendlich sei die Lebensreform eine Bewegung des Bildungsbürgertums vor allem vor 1914 gewesen, das jene aber auch als „Speerspitze der Moderne“ als soziale Abgrenzungspraxis gegenüber der Arbeiterbewegung und dem Bürgertum ausgeübt habe. Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges hätten sich einige Ideen popularisiert und in gewissem Sinne auch verwässert. Ein Beispiel dafür sei die Freikörperkultur, die sich kommerzialisiert habe und zusehends zu einem touristischen Phänomen geworden sei. Im letzten Kapitel („Fazit und Ausblick“) gibt Wedemeyer-Kolwe eine sehr nützliche Übersicht über die Forschungsgeschichte und die Kontroversen zum Thema. Er referiert die verschiedenen Positionen und Deutungen der Forschungsliteratur zu wissenschaftlicher Definition, sozialer Trägerschaft, gesellschaftlicher Funktion und den politischen Einstellungen der Lebensreformbewegung.

Der Band, der außerdem ein umfangreiches Literaturverzeichnis enthält, bietet prägnante, geraffte Informationen und anschauliche, illustrierende Beispiele. Er ist ein mehr als lesenswerter Beitrag zur Wissensproduktion über ein Phänomen, mit dem die politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland besser zu verstehen ist.

Bernd Wedemeyer-Kolwe: Aufbruch. Die Lebensreform in Deutschland, Philipp von Zabern Verlag, Darmstadt 2017, 208 S., 29,95 EUR