Die Offensive der türkischen Armee gegen Afrin in Rojava/Nordsyrien genießt in der Türkei breite Unterstützung. Nicht nur die Regierungspartei AKP, sondern alle Parteien im Parlament – mit Ausnahme der linken HDP – stehen hinter der Offensive. Wer dennoch Kritik am Angriffskrieg der Türkei übt, muss mit Repression rechnen.
Das türkische Innenministerium gab am 26. Februar 2018 bekannt, dass 845 Menschen wegen kritischer Äußerungen in Social Media und bei Protesten gegen den Krieg festgenommen worden sind. Selbst sehr zurückhaltende Kritik, wie etwa die Äußerung der Ärztevereinigung TBB Ende Januar 2018, dass der Krieg ein «Problem für die öffentliche Gesundheit» wäre, führte zur Festnahme der Führungsspitze der TBB. Nun könnte der Eindruck entstehen, dass die Mehrheit der Bevölkerung eigentlich gegen den Krieg sei, aber wegen der Repression davor zurückschreckt, diese Ablehnung öffentlich zu zeigen. Umfragen zeigen jedoch, dass mehr als 80 Prozent der türkischen Bevölkerung die Militäroperation in Afrin begrüßen – so etwa die Ergebnisse einer Befragung des MAK-Instituts am 30. Januar 2018. Darüber hinaus formieren sich auf Social Media immer wieder große Kampagnen, die sich mit den türkischen Soldaten solidarisieren und die Bevölkerung von Afrin als «Terroristen» verunglimpfen wollen (siehe auch in diesem Dossier).
Als sich Mitte Februar herausstellte, dass die türkische Armee bei der Afrin-Offensive deutlich höhere Verluste erleidet als bisher bekannt gegeben, begann eine Social Media-Kampagne, die erneut die breite Zustimmung der türkischen Bevölkerung zum Krieg deutlich macht. Der Kampagnen-Hashtag #YansınSuriyeYıkılsınAfrin («Syrien soll brennen, Afrin soll zerstört werden») erreichte auf Twitter weltweit den zweiten Platz und blieb in der Türkei recht lange stabil auf Platz eins. Eine der häufig geäußerten Forderungen der Twitter-Kampagne war: «Kein Stein auf dem anderen lassen, keinen Kopf auf den Schultern lassen»; also die totale Zerstörung und Tötung aller Menschen in Afrin.
Wenn solche Forderungen nach Massenmord öffentlich so breit akzeptiert sind, dann fehlt es nicht viel bis zum Genozid selbst. In einer solchen Stimmung können zivilgesellschaftliche und parlamentarische Akteure nur noch eine sehr kleine Rolle spielen - und stehen immer stärker in Gefahr, als «Vaterlandsverräter» ins Visier der Nationalisten zu geraten. Wer darauf setzt, einen gerechten und nachhaltigen Frieden in der «kurdischen Frage» zu erreichen, muss sich mit dem zentralen Problem auseinandersetzen, dass es dafür derzeit in der türkischen Bevölkerung keine Mehrheiten gibt. Vielmehr gewinnen die Stimmen für Tod und Vernichtung an Stärke – wieder einmal, wie vor 100 Jahren.
Ziya Gökalp, der Chefideologe der türkischen Nationalisten, dichtete 1912:
Taş üstünde taş kalmasın durma kır:
Kafalarla düz yol olsun her bayır,
Attilâ'nın oğlusun sen unutma!
Kein Stein soll auf den anderen liegen, warte nicht zerschlag sie
Mit [abgeschlagenen] Köpfen sollen die Wege geebnet werden
Vergiss nicht, du bist der Sohn von Attila [Herrscher der Hunnen]
Drei Jahre später folgte unter der Führung der türkischen Nationalisten der Genozid an den Armeniern und Armenierinnen im Osmanischen Reich. Über eine Million armenische Menschen wurden dabei ermordet. Den Weg dorthin haben Texte wie jenes Gedicht von Ziya Gökalp geebnet. Es ist sicherlich auch kein Zufall, dass dieses jetzt immer wieder unter dem Hashtag #YansınSuriyeYıkılsınAfrin zitiert wird. Die Ideologie, die dem Genozid an der armenischen Bevölkerung zugrunde liegt, ist alles andere als verschwunden. Sie wirkt bis heute und begleitet wieder den türkischen Weg zu Tod und Vernichtung in Nordsyrien.
Märtyrer für das Vaterland
Den Wunsch nach dem Tod und der Zerstörung der «Feinde» begleitet eine nationalistische Mobilisierung der türkischen Bevölkerung für den Krieg in Afrin. Dazu wurde etwa der Aufmarsch der berüchtigten Spezialeinheiten der Polizei (PÖH) und der Gendarmerie (JÖH) öffentlichkeitswirksam inszeniert. Diese Einheiten kämpften zuvor im Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei. Sie werden von Menschenrechtsorganisationen wie etwa der IHD für Menschenverletzungen und Kriegsverbrechen in Städten wie etwa Cizre und Nusaybin verantwortlich gemacht. Auch andere Einheiten, wie etwa die paramilitärischen kurdischen «Dorfschützer» sollen nach Afrin gebracht werden, um dort an der Seite der türkischen Armee zu kämpfen. Aber die Mobilisierung beschränkt sich nicht auf das Militär und die Sicherheitsapparate. Die türkische Religionsbehörde Diyanet gibt die Freitagsgebete für ihre Moscheen vor, die immer wieder für den Krieg werben und den Kampf für das Vaterland als die «höchste Form des Jihad» aufwerten. Auch in Europa wurden in einigen Moscheen, die unter der Kontrolle von Diyanet stehen, diese Freitagsgebete verwendet. Kriegspropaganda in unterschiedlichster Form, sei es durch Transparente oder Plakate oder durch Reden von Schulleitern und Lehrern, findet ihren Weg auch in die Schulen.
Dies alles ist weniger auf übereifrige Funktionäre im Staatsapparat zurückzuführen, sondern geschieht entsprechend den Vorgaben der Staatsführung. In einer Veranstaltung der Regierungspartei AKP in Maraş holte Staatspräsident Recep Erdoğan ein Kind in Militäruniform auf die Bühne, um das weinende Mädchen zu ermahnen, dass Soldaten nicht weinten. Anschließend fragte er, ob das Mädchen bereit wäre, als Märtyrerin zu sterben, um dann mit der türkischen Flagge bedeckt zu werden.Diese nationalistische Mobilisierung, in der die Rede über das Niederbrennen und Zerstören von Dörfern und Städten und das Köpfen der Gegner*innen, aber auch über die «Märtyrer für das Vaterland» gängig ist, trägt nicht zuletzt dazu bei, dass Erdoğan und die Regierungspartei AKP in den kommenden Wahlen die türkische Bevölkerung vor eine einfache Wahl stellen: Entweder an der Seite der türkischen Nation und damit an der Seite des Staates und der Regierung – oder aber an der Seite der «Vaterlandsverräter» und der «Terroristen». Derzeit spricht einiges dafür, dass diese zynische Rechnung aufgehen könnte.
Dieser Text ist eine aktualisierte und erweiterte Fassung des Beitrags «Syrien soll brennen, Afrin soll zerstört werden», der am 13. Februar im Neues Deutschland erschien.