Nachricht | Europa - International / Transnational - Ukraine Die ukrainische Demokratie auf dem Rückzug

Partner der RLS warnen vor Einschränkung der Demokratie

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Nelia Vakhovska,

Vitalij Dudin, Rechtsanwalt des Kiewer Zentrums für Sozial- und Arbeitsforschung, eines Partners der RLS, schreibt in einem Kommentar für das online Magazin The Insider: «Die derzeitige Situation zwingt ukrainische Bürgerinnen und Bürger, sich zwischen Freiheit oder Sicherheit zu entscheiden.»

Der Jurist meint damit die antidemokratischen Initiativen auf beiden Seiten des ukrainischen bewaffneten Konflikts. Eine Einschränkung der Demokratie finde sowohl in den selbsternannten «Volksrepubliken» Donezk (DNR) und Luhansk (LNR), als auch in der übrigen Ukraine statt. Das belegen die gesetzgeberische «Kreativität» des ukrainischen Parlaments, der Werchowna Rada, wie auch Initiativen der Parlamente der separatistischen Republiken. Letztere schaffen sogar die formellen Attribute der Demokratie ab und nähren die Illusion der Existenz einer «wahren Volksmacht». Aber auch die Kiewer Parlamentarier scheinen eine Offensive gegen die Zivilgesellschaft zu beginnen.  Dies findet seinen Ausdruck nicht nur in den sogenannten Dekommunisierungsgesetzen, sondern auch im jüngsten Dekret über den zeitweiligen Rücktritt der Ukraine von internationalen Verpflichtungen im Bereich der Menschenrechte, das die Abgeordneten der Werchowna Rada am 21. Mai verabschiedet haben.

Der Entwurf  Nr. 2765 «Erklärung über den Rücktritt der Ukraine von Verpflichtungen der Menschenrechtskonvention, des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte und der Europäischen Sozialcharta» wurde Ende April 2015 von den Vertretern folgender Parlamentsfraktionen eingereicht: der christlich-konservativen Partei Samopomitsch (Selbsthilfe), des präsidentennahen konservativen Petro-Poroschenko-Blocks, der rechtspopulistischen Radikalen Oleh-Liashko-Partei und der nationalistischen  Partei Narodnyj Front (Volksfront) von Arsenij Jazenjuk. Der Entwurf erklärt, dass der Krieg mit Russland, der im offiziellen Sprachgebrauch immer noch «Anti-Terror-Operation» (ATO) heißt, mit der Einhaltung der Menschenrechte nicht zu vereinbaren sei. «Die Beseitigung der Gefahr, dass das ukrainische Volk durch die militärische Aggression der Russischen Föderation vernichtet wird, erlaubt uns, die Reisefreiheit und das Recht auf das Privatleben zeitweilig einzuschränken», so die Argumentation für die staatliche Einmischung in bürgerliche Freiheiten in den Kriegsgebieten. Das ukrainische Parlament möchte damit sein Rücktrittsrecht nutzen, das in Paragraph 15 der Menschenrechtskonvention vorgesehen ist.

Kurz vor dem Tag des Sieges über das faschistische Deutschland am 9. Mai wurde der Entwurf  plötzlich zurückgenommen. Dann, zwei Wochen später, aber erneut eingebracht und sogleich mit 249 Stimmen verabschiedet. Das Dekret betrifft folgende Rechte: Gleichheit der Rechte und Rechtsschutz, Sicherheit der Person und Rechte der Minderjährigen bei der Festnahme, Gerechtigkeit im Gericht, Verkehrs- und Wohnfreiheit, Respekt vor Privat- und Familienleben, Recht auf Arbeit, gerechte Bezahlung, Gleichheit der Arbeit von Männern und Frauen, Mutterschaftsschutz, soziale Dienste, Behindertenrechte, Wohn-, Sozial- und Rechtschutzrechte der Familien mit Kindern, Minderjährigen- und  Seniorenrechte, Armutsschutz und Wohnrecht.

Gemäß der ukrainischen Verfassung darf der Staat diese Rechte aber erst eingrenzen, wenn der Ausnahme- oder Kriegszustand ausgerufen worden ist. Der Menschenrechtler Volodymyr Chemerys kommentiert dies so: «In diesem Dekret ist kein konkretes Implementierungsterritorium beschrieben. Es geht um ‹einige Bezirke in den Verwaltungsbezirken (Oblasten) Donezk und Luhansk›, die ‹vom Ministerkabinett der Ukraine in Bezug auf die Durchführung der antiterroristischen Operation› definiert werden sollen. Die Grenzen der ATO werden vom Chef des Antiterroristischen Zentrums beim Sicherheitsdienst der Ukraine beschlossen. Der Öffentlichkeit sind sie bisher nicht bekannt gegeben worden. Das bedeutet, dass die Regierung – nicht das Parlament – mit ihrem intransparenten Entscheidungsprocedere den Raum freizügig erweitern kann, in dem sich der Staat der Einhaltung der Bürger- und Sozialrechte entziehen könnte.»

Zu weiteren zweifelhaften Initiativen zählen die Juristen die Gesetzentwürfe über die Bestrafung der Bestechung von Teilnehmenden an Massenaktionen (eingereicht von Vertretern von Narodnyj Front und Petro-Poroschenko-Block am 16. April) und über die Kriminalisierung von Aufrufen zum Boykott der Einberufung (eingereicht von einem Vertreter der Batkiwschtschyna-Partei Julia Tymoschenkos am 15. Mai). Der erste ermöglicht die Verfolgung der Organisatoren von Protestaktionen, da praktisch jede freiwillige Unterstützung Protestierender als Bestechung gewertet werden kann. Mit dem zweiten Gesetzentwurf werden alle kriminalisiert, die ihren Unwillen zum Militärdienst mindestens einmal geäußert oder entsprechende Aufrufe im Internet oder Links zu solchen Seiten bei sich gespeichert haben. Ihnen droht eine dreijährige Haftstrafe.

Noch restriktiver ist das Gesetz «Über die Verurteilung des kommunistischen und des national-sozialistischen (nazistischen) Regimes», mit welchem die Herstellung und öffentliche Verwendung der Symbolik beider Regimes mit bis zu fünf Jahren Freiheitsentzug bestraft werden kann. Es ist das rigideste «Dekommunisierungsgesetz» in den Ländern Ost- und Südosteuropas, merkt der Menschenrechtler Volodymyr Yavorivskyy an.

Auf der anderen Seite der Frontlinie, im sogenannten «Novorossia», sei die Lage der Demokratie noch schlimmer, schreibt Vitalij Dudin. Hier kritisiert er vor allem das Gesetz  «Über Versammlungen, Demonstrationen, Proteste und Pickets» in der DNR, das von einem ähnlichen Gesetz der Russischen Föderation abgeschrieben worden ist. Das Gesetz richtet sich gegen die Organisatoren von Protestaktionen und erschwert Proteste: So darf zum Beispiel ein Antrag zur Durchführung einer Demonstration nicht früher als 15 Tage, aber auch nicht später als 10 Tage vor der Aktion eingereicht werden. Die Organisatoren müssen auf die Aufrechthaltung  der Ordnung achten, tragen volle Verantwortung für alle Handlungen der Teilnehmenden und müssen  medizinische Hilfe selbst organisieren. Proteste in der Nähe des Regierungssitzes, des Parlaments und der Gerichte der DNR sind per se verboten.

Der ostukrainische Menschenrechtler Pavlo Lysianskyi von der NGO «Öffentliche Kontrolle der Arbeit» weist darauf hin, dass die DNR auch auf die Gewerkschaften starken Druck ausübt. Mit einem weiteren  Gesetzentwurf soll es zukünftig erst ab 50 Mitgliedern erlaubt sein, eine  Gewerkschaft zu gründen. Nach bisherigem ukrainischem Recht war dies bereits ab drei Mitgliedern möglich.

Die Gesetze «Über die Massenmedien» (LNR) und «Über das Staatsgeheimnis» (DNR) werden zukünftig Kritik und Meinungsfreiheit einschränken. Bereits die Erwähnung einer der «verbotenen» Organisationen, wie etwa des «Rechten Sektors», reicht dann aus, um einem Medium die Lizenz zu entziehen. Begründete Kritik an der Regierung kann genauso gefährlich werden. Zu ihren Staatsgeheimnissen zählt die DNR unter anderem Angaben über ihre Finanz- und Haushaltspolitik, über Ausgaben für die Strafverfolgung sowie über den Umfang an Vorkommen wichtiger Bodenschätze.  Kritische Äußerungen über die Regierung, die sich auf solche Angaben stützen, können mit bis zu drei Jahren Haft bestraft werden, eine Weitergabe entsprechender Angaben an andere Staaten mit bis zu 20 Jahren Haft.  

Es entsteht der Eindruck, dass Politiker beider Seiten einen Wettbewerb im Autoritarismus führen. Verlierer wird der «kleine Mann», der durchschnittliche Bürger sein. Angriffe auf die Menschenrechte dienen nur einer besseren Kriegführung. Zur Konsolidierung und Einheit der Ukraine kann nur die Stärkung von Demokratie und Gerechtigkeit beitragen. So das Fazit von Vitalij Dudin.

Zusammenstellung und Übersetzung: Nelia Vakhovska