Im April 2018 wurde der seit dem 20. Juli 2016 geltende Ausnahmezustand bereits zum siebten Mal verlängert. Welches Ziel verfolgt die türkische Regierung mit dem fortwährenden Erlassen von Dekreten im Zuge des Ausnahmezustandes?
Ertuğ Tombuş: Der seit Juli 2016 zum siebten Mal verlängerte Ausnahmezustand in der Türkei hat der Regierung zur Folge das Ziel, schnelle und effiziente Maßnahmen gegen die mutmaßlich hinter dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 stehende und bis dahin in beinahe allen Regierungsinstitutionen vertretene Gülen-Bewegung zu ergreifen. In Anbetracht dessen, wie der Ausnahmezustand seitdem angewandt wurde, wer im Zuge dessen ins Visier der Behörden geraten ist, und in welchem Umfang Dekrete erlassen wurden, kann nicht davon gesprochen werden, dass diese, von der Regierung postulierte Absicht, das eigentliche Ziel des Ausnahmezustands ist. Im Gegensatz zu der vermeintlichen Zielsetzung, die verfassungsmäßige Ordnung und den Rechtsstaat zu schützen, dient der Ausnahmezustand unter der Führung der regierenden AKP vielmehr der Auflösung des Rechtsstaates und der demokratischen Gesellschaft. Bis heute hat die Regierung 31 Dekrete erlassen. Obwohl gemäß Artikel 121 der türkischen Verfassung Verordnungen mit Gesetzeskraft dem Parlament zur Abstimmung vorgelegt werden müssen, hat das Kabinett nur vier davon an das Parlament weitergereicht. Damit sind diese Dekrete allem voran verfassungswidrig. Da es unter den gegenwärtigen Umständen keinerlei Institution gibt, welche die AKP-Regierung auf effektive Weise dazu zwingen könnte, innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen zu bleiben, kann die AKP-Regierung die Dekrete voller Willkür anwenden. Die Dekrete bilden für die AKP die Möglichkeit, ohne jedwede politische oder gesetzliche Hindernisse so zu verfahren, wie sie möchte.
Dabei ist der Umfang der Regelungen, die mithilfe der Dekrete umgesetzt werden, derart groß, dass er nichts mehr mit dem zu tun hat, was der Ausnahmezustand als solcher erfordern würde. Die AKP setzt mit den Dekreten bei Militär, Polizei, Rechtsprechung, der öffentlichen Verwaltung, in Bildung, Wirtschaft sowie vielen anderen Bereichen Veränderungen durch. Zudem handelt es sich bei den per Dekret eingeführten Regelungen um strukturelle Veränderungen, die selbst bei sofortiger Aufhebung des Ausnahmezustandes weiterhin Wirkungskraft hätten. Eben die Tatsache, dass die Veränderungen, die im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens durchgeführt werden sollen, nicht nur im Zuge des Ausnahmezustands veranlasst, sondern auch darüber hinaus wirkmächtig bleiben werden, bedeutet, dass die AKP mit Hilfe der Notverordnungen dem Parlament seine Gesetzgebungsmacht entzieht.
Allem voran entmachtet die Regierung mit ihren Notverordnungen nicht bloß die Gülen-Bewegung. Im Gegenteil, sie nutzt die Dekrete, um insbesondere Bevölkerungsgruppen, die in Opposition zur AKP und Präsident Erdoğan stehen und gegen sein Gesellschaftsprojekt Widerstand leisten, zu verfolgen, zu unterdrücken und zum Schweigen zu bringen. Da sie weiß, dass sogar die kleinste Freiheit, die im Rahmen demokratischer Politik zugestanden würde, ihre Machtposition gefährdet, hat sich der Ausnahmezustand zu einem politischen Unterdrückungsmittel für die AKP und Erdoğan entwickelt.
In zahlreichen Anklageschriften gegen Journalist*innen, Akademiker*innen und viele andere wie auch in mehreren Dekreten wird auf das so genannte Anti-Terror-Gesetz Bezug genommen. Was lässt sich zur Anwendung dieses Gesetzes sagen?
Başak Çalı: Die Antiterrorgesetze der Türkei gehen zurück auf das Jahr 1991. Sie wurden seitdem mehrfach geändert, unter anderem von der AKP-Regierung. Die Antiterrorgesetzgebung hat einen breiten Anwendungsbereich. Die Definition des Terrorismus in ihr ist breit, vage und offen für Interpretationen. Die Bestimmungen über terroristische Propaganda, Legitimation des Terrorismus und Verherrlichung des Terrorismus überschneiden sich mit dem Schutz der Meinungsfreiheit gemäß Verfassung, da diese Bestimmungen das Begehen von Straftaten durch Meinungsäußerung vorsehen. Inländische Richter*innen in der Türkei sind verpflichtet, die Antiterrorgesetze mit dem gemäß der türkischen Verfassung garantierten Recht auf Meinungsfreiheit zu vereinbaren. Sowohl das türkische Verfassungsgericht als auch das Kassationsgericht unterstreichen, dass bei der Entscheidung darüber, ob eine Straftat, wie Propaganda oder Verherrlichung des Terrorismus, begangen wurde, sorgfältig über den Ort, den Inhalt, den Kontext, die Zuhörerschaft und die Position der an der Meinungsäußerung beteiligten Person abgewogen werden muss.
Die häufige und unverblümte Verwendung dieser Rechtsvorschriften zur strafrechtlichen Verfolgung von Journalist*innen, Akademiker*innen sowie Politiker*innen und anderer Mitglieder der Öffentlichkeit zeigt, dass inländische Richter*innen sich nicht an die Anweisungen ihres eigenen Verfassungsgerichts oder ihrer obersten Gerichte halten. Dies hat nicht nur einen abschreckenden Effekt auf die Meinungsfreiheit und den politischen Dissens in der Türkei, da jedwede Kritik an der Regierung in Strafverfolgung münden kann. Es wirkt sich auch auf das Vertrauen in die Justiz aus, da niederrangige Gerichte rechtsstaatliche Prinzipien verletzen, die sowohl auf dem Papier als auch in der Rechtsprechung in der Türkei bestehen.
Inwieweit setzt der Ausnahmezustand die bereits länger währende autoritäre Politik der Regierungspartei AKP fort?
Ertuğ Tombuş: Wenngleich der Ausnahmezustand und das Präsidialsystem, das nach den Wahlen von 2018 in Kraft treten wird, in verschiedenster Hinsicht als Wendepunkt für die Türkei interpretiert werden können, so stellen diese für die Politik der AKP und Erdoğans keinen Meilenstein dar. Beiden politischen Entscheidungen liegt im Kern autoritäres politisches Denken zugrunde. Auch zuvor zeigte sich bereits in aller Deutlichkeit, mit welcher Art von Herrschaftsmentalität die AKP und Erdoğan vorgehen: Ihre Reaktion auf die Ereignisse rund um den Gezi-Protest, die faktische Nichtanerkennung der Wahlergebnisse vom Juni 2015, das, was die Türkei bis zu den Wahlen vom November 2015 erlebt hat, ihre Zusammenarbeit mit der Bewegung, von der behauptet wird, dass sie für den Putschversuch verantwortlich sei, sowie die Tatsache, dass die Unterdrückung während des Ausnahmezustands dermaßen zugenommen hat, dass sie sich auf alle Lebensbereiche auswirkt, zeugen hiervon. Aus diesem Blickwinkel heraus betrachtet, wird die Türkei, sollte Erdoğan die Wahlen vom Juni 2018 gewinnen und die AKP ihre Mehrheit im Parlament behalten, weiterhin von ihrem politischen Machthaber unterdrückt werden. Selbst nach Aufhebung des Ausnahmezustands wird dieser seine politische Kraft mit voller Willkür ausnutzen, und die Ausnahmezustands-Mentalität fortführen, als würde er über den verfassungsmäßigen und gesetzlichen Grenzen stehen. Insofern ist der Ausnahmezustand kein für eine begrenzte Zeit eingesetztes verfassungsmäßiges Instrument, welches ergriffen wurde, um Maßnahmen gegen die gewaltsame Gefährdung öffentlicher Sicherheit durchzusetzen. Vielmehr wird er fortbestehen, nämlich in Form der Herrschaftsmentalität eines politischen Kaders, das seine Machtposition um jeden Preis bewahren will, und eines politischen Führers, der sich als Verkörperung des Staats- und Volkswillens betrachtet.
Mit welchen rechtlichen Mitteln kann derzeit in der Türkei noch gegen die zahlreichen faktischen Rechtsbrüche in der Türkei vorgegangen werden?
Başak Çalı: In der Türkei müssen Personen, die vor den innerstaatlichen Gerichten strafrechtlich verfolgt werden, diverse Rechtsmittel ausschöpfen, bevor sie vor das türkische Verfassungsgericht gehen. Mit anderen Worten funktioniert das Gesetz selbst im Ausnahmezustand seiner gewöhnlichen Logik nach. Es besteht eine Ausnahme: Diejenigen Personen, die aufgrund ihrer vermeintlichen Beziehung zu der terroristischen Organisation, die den Putschversuch zu verantworten hat, vom öffentlichen Dienst entlassen wurden, müssen ihren Fall einer speziell eingerichteten Kommission vorlegen, bevor sie Rechtsmittel ergreifen.
In einem Präzendenzfall seit der Erklärung des Ausnahmezustandes erklärte das Verfassungsgericht, es sei nicht befugt, die Erklärung des Ausnahmezustands verfassungsmäßig zu überprüfen. Dies bedeutet, dass alle Personen, die von den im Ausnahmezustand ergriffenen Maßnahmen betroffen sind, nach der erforderlichen Erschöpfung der Rechtswege beim Verfassungsgericht individuell einen Antrag einreichen müssen.
Seit dem Putschversuch erreichten über 120.000 Anträge das türkische Verfassungsgericht. Die Anzahl der Anträge beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg beläuft sich auf ähnliche Zahlen. Die meisten Anträge aus Straßburg wurden jedoch in die Türkei zurückgeschickt. Erst nach Anrufung des Verfassungsgerichtes oder der Sonderkommission für Lustration, so der EGMR, könne der Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht werden. Ein Fall, der zunächst in Ankara eingereicht wird und dann nach Straßburg übergeht, kann vier bis fünf Jahre, wenn nicht sogar länger, währen. Vor kurzem hat der EGMR signalisiert, dass er die Fälle von inhaftierten von Journalist*innen aus der Türkei beschleunigen wird. Aber selbst mit einem beschleunigten Rechtsweg für einige gefährdete Gruppen besteht ein hohes Risiko, dass Gerechtigkeit zu spät eintreffen wird. Somit besteht eine gewichtige Diskrepanz zwischen dem Umfang des Problems und den Rechtsbehelfen, die zur Lösung des Problems zur Verfügung stehen.
Am 10. April 2018 waren Ertuğ Tombuş und Başak Çalı zu Gast in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin:
Ein Land im Rechtsvakuum? Praktiken von Recht und Gesetz
Hukuksal boşlukta bir ülke? Hukuk ve yasa uygulamaları
Es handelte sich um eine Veranstaltung der Salongesprächsreihe «Brave New Turkey?» Laboratorien, Krisen und Widersprüche der «Neuen Türkei» — «Yeni Türkiye» de deneyimler, krizler ve çelişkiler
Redaktion: Urszula Woźniak
Başak Çalı ist Professor of International Law an der Hertie School of Governance und Direktorin des Center for Global Public Law an der Koç Universität in Istanbul. Ihre Forschungsschwerpunkte sind internationales Recht, Menschenrechte und die Perspektiven des internationalen öffentlichen Rechts im Mehrebenensystem vernetzter Rechtsordnungen. Çalı ist Generalsekretärin der European Society of International Law, Chefredakteurin der Oxford University Press United Nations Human Rights Case-Law Reports, Fellow am Human Rights Centre der University of Essex und Senior Research Fellow am Pluricourts Centre an der Universität Oslo. Seit 2002 war sie als Expertin für die Europäische Menschenrechtskonvention beratend für den Europäischen Rat tätig. Sie hat Mitarbeiter des Justizsystems ausgebildet und war als Expertin für europäisches und vergleichendes Recht im Bereich der Menschenrechte für Nichtregierungsorganisationen und Rechtsanwälte als Prozessberaterin und Ausbilderin tätig. Sie hat 2003 an der University of Essex zum Thema Internationales Recht promoviert.
Ertuğ Tombuş hat einen Ph.D. in Politikwissenschaft an der Bilkent Universität erworben. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin und dort akademischer Koordinator des Programmes «Blickwechsel: Studien zur zeitgenössischen Türkei». Bevor er zur Humboldt-Universität kam, lehrte er an der Columbia Universität, der New School for Liberal Arts, dem Eugene Lang College, der Western Connecticut State University, dem Fashion Institute of Technology, der State University of New York und der Izmir University of Economics. Seit 2009 ist er geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Constellations: An International Journal of Critical and Democratic Theory. Er war Gastwissenschaftler an der Northwestern Universität und der Yale Universität, und hat einen M.Phil. in Soziologie an der New School for Social Research, sowie einen M.Sc. und B.Sc. in Politikwissenschaft der Middle East Technical Universität erworben.