Christina von Hodenberg entwirft in ihrem höchst spannenden Buch ein neues Bild von «1968». Sie dekonstruiert die gängigen Bilder über dieses Jahr und von seinen Wirkungen. Ihre vier miteinander verschränkten Kernthesen lauten: «1968» war Resultat und Ursache weniger eines politischen, als vielmehr eines Wandels im Privaten. Zweitens sei «1968» kein bzw. nur zu geringen Teilen ein Generationenkonflikt gewesen, sondern mehr einer zwischen den Geschlechtern; schließlich spielte der Nationalsozialismus und der Umgang mit ihm zumindest auf privater und familiärer Ebene damals kaum eine bis gar keine Rolle. Die ältere Generation sei in überraschend großen Teilen dem Aufbegehren der jüngeren sympathisierend bis offen gegenüber gestanden. Dass einzelne der Aufbegehrenden damals sehr wohl Repression zu erleiden hatte, tut dem keinen Abbruch.
Empirische Basis dieser Erkenntnisse ist die Auswertung von Quellen über «1968» an der Universität Bonn einerseits und die von zwei Interviewreihen aus dem Psychologischen Institut der Uni Bonn (die damit nebenbei auch die Gerontologie begründete). Ungefähr 200 Personen wurden um 1968 herum eben an der Universität Bonn mehrmals interviewt, alle waren damals über 60 Jahre alt. Weitere 89 Personen aus demselben Zusammenhang waren zwischen Mitte 30 und 59 Jahren. Die andere Interviewreihe hatte den Fokus auf die zeitgenössische Jugend und die Rückschau auf die eigene Jugend der Befragten. Hier wurden 180 Personen aus der Mittel und «Unterschicht» (aus den Jahrgängen 1909 bis 1934) ausführlich befragt.
Durch diese Quellenlage rücken neue Aspekte in den Blick: Zum einen die Geschehnisse an einer Provinzuniversität (von denen es ja damals viele gab), und dann die Sichtweise durchschnittlicher, «ganz normaler» Leute und vor allem solcher mit wenig formaler Bildung und niedrigem Einkommen auf die «Studentenbewegung».
So zeigt sich, dass die «APO» nur zu geringen Teilen das Werk von (nur wenigen Tausend) jugendlichen und gut ausgebildeten Männern aus Großstädten war, sondern diese sich auf einen grundlegenden und sich in vielen Aspekten zeigenden und gründenden soziokulturellen Wandlungsprozess stützen konnten, und dieser langfristig auch weit folgenreicher war, als der «politische»“. Was andernorts verkürzend als «Wertewandel» diskutiert wird, fächert von Hodenberg nun ausführlicher auf.
Sie zeigt ferner, dass die vielzitierte Debatte um den Nationalsozialismus im privaten Rahmen gar nicht angegangen wurde, und insofern dieser «Generationenkonflikt“ ebenfalls ein Mythos war, der nachträglich konstruiert wurde. Wie auch die ganze sog. «68er-Generation» sich zeitgenössisch nicht so definiert habe, sondern dieser Terminus das Resultat einer nachträglichen, selbstlegitimierenden Erhöhung gewesen sei, um sich damit in eine Erfolgsgeschichte einzuschreiben und sich biographisch aufzuwerten. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus sei vielmehr seitens der älteren Generationen am Ersatzobjekt des «Kommunismus/DDR» ausgetragen worden; und seitens der jüngeren anhand ihrer Kapitalismuskritik externalisiert und nicht mit den eigenen, sondern anhand abstrakter «Ersatz-Väter» ausgetragen worden. Dass einzelne AkteurInnen dies anders handhabten, widerspricht den Ergebnissen der Auswertung ihres Materials nicht.
Ja, «1968» war Protest gegen Autorität und Hierarchie, für mehr Freiheit und neue Lebensmodelle, aber eine «68er Generation» gab es damals nicht, sie war das Ergebnis, nicht der Träger der Revolte. Die Reformen in Bildung und Sexualität waren schon vorher begonnen worden, und wurden auch nicht alleine von der jungen Generation getragen. Die Bedeutung der Frauen in der APO werde in der Literatur, so Hodenberg, unterschätzt, dabei seien z.B. ein Viertel der Mitglieder des SDS Frauen gewesen. In einer Zeit, in der die Hälfte aller Frauen mit 23 Jahren schon verheiratet war, und viele Frauen ihr Lebensglück nicht an sich selbst, sondern an ihrem Partner ausrichteteten.
Von Hodenberg hat eine fundierte und lesenswerte Studie vorgelegt, die dem Bild von «1968» einige grundlegende Aspekte hinzufügt. Sie wurde zu recht breit rezipiert und diskutiert. Von Hodenberg kann überzeugend darstellen, dass der „echte» Marsch durch die Institutionen vor allem in den Einbauküchen der westdeutschen Reihenhaussiedlungen der beginnenden 1970er Jahre stattgefunden hat. Eine zukünftige politische und wissenschaftliche Beschäftigung mit den langen «1968er» Jahren wird an ihrem Buch, das den ZeitzeugInnen gar nicht gefallen dürfte, nicht vorbeikommen.
Christina von Hodenberg:
Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte
C.H.Beck Verlag, München 2018
250 Seiten, 24,95 EUR