Nachricht | Europa - International / Transnational - Geschichte - 1968 Der «Prager Frühling» aus heutiger Sicht

Ein deutsch-tschechisches Kolloquium im Anschluss an die Büroeröffnung in Prag.

Information

Autorin

Monika Nakath,

Am 4. Juni 2018 eröffnete die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Gegenwart des Thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und des Präsidenten der Europäischen Linkspartei, Dr. Gregor Gysi, offiziell ihr neues Büro in der Prager Innenstadt.

Am folgenden Tag fand dort das deutsch-tschechische Kolloquium zum Thema «Der ‹Prager Frühling› von 1968 und seine heutigen Auswirkungen in Tschechien und in Deutschland» statt. Hierzu waren WissenschaftlerInnen, PolitikerInnen und ZeitzeugInnen aus beiden Ländern eingeladen.

In seiner Rede zur Eröffnung des Kolloquiums verwies Dr. Detlef Nakath, Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, auf langjährige Traditionen der politischen Bildungsarbeit in Tschechien, Ungarn und der Slowakei, die von der Stiftung zunächst aus Warschau koordiniert wurden. Er erinnerte an die am 10. Dezember 2017 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Prag durchgeführte außenpolitische Tagung zum Thema «Europa nach den Wahlen», bei der bereits auf das 50-jährige Jubiläum des «Prager Frühlings» verwiesen wurde.

Die Stiftung widmet sich in ihrer Arbeit in diesem Jahr bei verschiedenen Veranstaltungen - sowohl in Deutschland als auch in anderen Ländern - Themen der Geschichte der europäischen und deutschen Arbeiterbewegung. Besondere Beachtung finden der 50. Jahrestag des «Prager Frühlings» wie auch die Jahrestage der Studentenbewegung in Westeuropa. Das neu eröffnete Büro unter der Leitung von Dr. Joanna Gwiazdecka reiht sich mit diesem Kolloquium in diese Aktivitäten ein.

In einem ersten Panel unter Moderation der Journalistin und Filmemacherin Mgr. Apolena Rychlíková diskutierten ZeitzeugInnen und WissenschaftlerInnen zum Thema «Der abgebrochene Reformweg. Heutige Sichtweisen». Im Vordergrund standen hierbei persönliche Erfahrungen der TeilnehmerInnen. Die Publizistin Dr. Alena Wagnerová stellte sich als zur Generation des späteren tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel gehörend vor. Sie und ihre politischen Weggefährten hätten sich 1968 für die Errichtung eines demokratischen Sozialismus engagiert. Nicht zuletzt unter dem Eindruck der katastrophalen sozialen Situation in der tschechischen Bevölkerung während der 1930er Jahre sei sie nach dem Ende des 2. Weltkrieges bewusst in die Kommunistische Partei eingetreten. Später wurde sie jedoch u.a. vor dem Hintergrund der Stalinismus-Debatte kritischer und verfolgte mit Interesse die politischen Diskussionen in Jugoslawien. Aus ihrer Sicht habe der Leninismus den Marxismus deformiert. Das praktizierte «sowjetische Modell» einer sozialistischen Gesellschaft wurde mehr und mehr zum Problem und konnte von der tschechischen Bevölkerung nicht akzeptiert werden. Der «Prager Frühling» habe diese Problematik gespiegelt und versucht, umzulenken. Wagnerová verließ nach der Zerschlagung des Reformprojektes – wie viele Intellektuelle - das Land.

Dr. Holger Politt (Leiter des RLS-Büros in Warschau) knüpfte an die gesellschaftspolitischen Auffassungen von Georg Lukács als bedeutendem Vertreter der marxistischen Philosophie und Theorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Er ging insbesondere auf dessen Vorstellungen zu «Räte-Strukturen» ein, die im Zusammenhang mit einer bürgerlich-parlamentarischen Demokratie stehen sollten. Auch Rosa Luxemburg habe einen derartigen, radikal parlamentarischen Ansatz verfolgt. Die in der Tschechoslowakei unter Alexander Dubček initiierte Reform des praktizierten Staatssozialismus zu einem demokratische Sozialismus wurde 1968 militärisch gestoppt. Nach seiner Auffassung sei die Bewegung des «Prager Frühlings» stark von Intellektuellen innerhalb und außerhalb der Partei geprägt worden. Dies sei u.a. ein deutlicher Unterschied zu den reformatorischen Ansätzen in Polen. Dort haben mit der Solidarność Arbeiter die tragende Rolle übernommen. Kritische Intellektuelle unterstützten sie bzw. schlossen sich an. Politt warf die Frage auf, ob es sich hierbei um eine Lehre aus den Prager Ereignissen 1968 handelte.

Dr. Miloš Bárta sprach als Zeitzeuge und Historiker über seine Eindrücke und Erfahrungen zum gescheiterten Versuch mittels Reformen zu einem demokratischen Sozialismus zu gelangen. Er ging auf die innenpolitische Entwicklung in den Jahren 1968/69 ein, wozu er auch verschiedene Studien veröffentlichte. Im Umfeld des Jahres 1968 sei eine Situation entstanden, in der die Eliten nicht mehr in der Lage waren, die entstandenen gesellschaftlichen Probleme zu erkennen und bezeichnete sie als «Krise der Eliten». Mit Blick auf das gegenwärtige Europa können aus seiner Sicht eine analoge Situation entstehen. Für ihn als Historiker sei es nicht opportun, die vielfach gestellte Frage aufzuwerfen: «Was wäre, wenn der Prager Frühling erfolgreich gewesen wäre?». Eine Antwort wäre aus seiner Sicht reine Spekulation.

Das zweite Panel befasste sich unter der Leitung des Journalisten Mgr. Patrik Eichler mit dem «Erbe des Prager Frühlings». Der Rechtsanwalt und ehemalige Bundestagsabgeordnete Richard Pitterle (DIE LINKE, Mitglied des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums) reflektierte Gespräche, die Zdeněk Mlynář, als ZK-Sekretär (seit April 1968) einer der Hauptakteure des «Prager Frühlings» und Autor des politischen Teils des Aktionsprogramms der KSČ, nach 1990 mit Michail Gorbatschow zum Thema geführt hatte. Pitterle verwies auch auf den SED-Sonderparteitag vom Dezember 1989, in dem sich die SED/PDS für einen demokratischen Sozialismus aussprach und «unwiderruflich mit dem Stalinismus als System» brach. Diese politische Grundentscheidung habe für ihn nach der deutschen Einheit auch dazu geführt Mitglied der PDS zu werden und in dieser Partei aktiv politische Arbeit zu leisten. Dr. Matěj Stropnický (Politiker) legte dar, dass er im «Prager Frühling» viele positive Ansätze für die Entwicklung einer sozial gerechteren Gesellschaft sehe. Er lehnte simplen Anti-Kommunismus ab, warb für eine differenzierte Betrachtung der Geschehnisse. Bereits in seiner Diplomarbeit an der Karls-Universität analysierte er die Medienlandschaft im Umfeld des «Prager Frühling». Er veröffentlichte hierzu u.a. den Band «Den Sozialismus ohne Panzer denken». Notwendig sei es jedoch, bei der Betrachtung des Erbes, den heutigen, völlig veränderten gesellschaftlichen Kontext zu berücksichtigen. Ing. Jiři Dolejš (KSČM, Mitglied des Parlaments der Tschechischen Republik) beschäftigte sich mit Fragen der Akzeptanz von «Sozialismus-Vorstellungen» in der tschechischen Bevölkerung. Er ging auf die Erfahrungen des «Prager Frühlings» ein und äußerte sich zum Umgang damit in den Partei-Strukturen der KSČM. Es dürfe keine ahistorische Betrachtung der Ereignisse zugelassen werden. Der abrupte Abbruch des Reform-Modells von 1968 belaste auch heute noch die Diskussionen um eine linke, sozialistische Alternative.

Das dritte Panel beschäftigte sich unter der Leitung der Journalistin Mgr. Martina Poliaková mit der Bedeutung des «Prager Frühlings» für die internationalen Beziehungen. Mehrere DiskussionsrednerInnen wiesen bereits zuvor darauf hin, dass internationale Aspekte des «Prager Frühlings» bis in die Gegenwart nicht ausreichend betrachtet wurden. Speziell mit dieser Problematik beschäftigten sich Prof. Dr. Raimund Krämer (Chefredakteur der in Potsdam erscheinenden außenpolitischen Zeitschrift «WeltTrends»), Dr. Erhard Crome (Mitglied des wissenschaftlichen Beirates von WeltTrends) und Prof. Jiří Hudeček (SDS, Europäische Linkspartei). Krämer und Crome zeigten auf, dass im «sozialistischen Lager» die Kritik am tschechischen Reformkurs wuchs. Der Partei- und Staatschef der DDR, Walter Ulbricht, sprach laut Krämer als erster von «Konterrevolution». Zwischen März und September 1968 kam es im Rahmen der Warschauer Vertrags-Organisation zu Krisengipfeln. Die Politik der SED-Führung war geprägt von der Angst einer destabilisierenden Wirkung auf die DDR. Analoge bzw. ähnliche Befürchtungen leiteten die Führungen der anderen «realsozialistischen» Staaten. Sie entwickelten verschiedene – auch von der jeweiligen nationalen Situation geprägte – Ideen zur Eindämmung bzw. Begrenzung des «Prager Frühlings». Die militärische Zerschlagung im August 1968 sei dann jedoch eine sowjetische Aktion gewesen. Den Beschluss fällte im Juli das Politbüro der KPdSU, einige osteuropäische Partner wurden einbezogen. Die DDR wurde aus historischen Gründen nicht an der Militäraktion beteiligt. Hudeček verwies darauf, dass aus seiner Sicht der «Prager Frühling» zu einseitig unter dem militärischen Aspekt des Einmarsches sowjetischer Panzer wahrgenommen werde. Nicht bzw. zu wenig betrachtet würden die inhaltlichen Reformansätze und auch die internationalen Rahmenbedingungen. Die Studentenbewegung in Prag sei deutlich anders motiviert gewesen, als die Proteste in Westeuropa. Er sah im «Prager Frühling» eine frühe Variante der späteren Gorbatschow´schen «Glasnost»-Politik. Als problematisch habe sich in der Geschichte erwiesen, dass ein «Sozialismus mit Marktelementen» immer nur im nationalen Rahmen versucht wurde. Die Teilnehmenden des Kolloquiums führten insbesondere im Rahmen der letzten beiden Panels intensive Diskussionen. Im Mittelpunkt standen internationale Aspekte des «Prager Frühlings», Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den politischen Zielstellungen der Reformpolitik des «Prager Frühlings» in der Tschechoslowakei sowie der Studentenbewegung in Westeuropa sowie die Rezeption des «Prager Frühlings» im Hinblick auf ein Gesellschaftsmodell, das – jenseits neoliberaler Vorstellungen – auf aktuelle Herausforderungen wie Klimaschutz, Daseinsfürsorge für alle Menschen etc. für nachfolgende Generationen praktikabel wäre. Von der Mehrzahl der Anwesenden wurde ausdrücklich eine Fortsetzung der Diskussion gewünscht.

In seinem Schlusswort verwies Detlef Nakath auf die große historische Bedeutung des «Prager Frühlings» in der osteuropäischen Geschichte. Insbesondere deren reformsozialistische Ansätze wiesen 1968 bereits auf einen demokratischen Sozialismus als politisches Ziel. Zwanzig Jahre später, 1989/90 zeigte sich, dass der sog. «reale Sozialismus» in den Staaten des Warschauer Vertrages vor allem an seinen eigenen Widersprüchen gescheitert sei. Dennoch seien die aus Prag, Budapest und Warschau kommenden Überlegungen für einen demokratischen Sozialismus heute vor dem Hintergrund völlig anderer Herausforderungen neu zu erforschen und zu diskutieren. Das Prager Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung wolle mit ihrem 2017 begonnenen außenpolitischen Kolloquium auch zukünftig solchen Themen Raum bieten.

Bericht: Monika Nakath 

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