Zwei Meter hohe Schneewände säumen die Straßenränder. Es ist richtig kalt. Das Thermometer an der Hauswand zeigt minus 15 Grad Celsius an. Die Passanten auf den Fußwegen haben es eilig und drücken sich auf dem schmalen Trampelpfad im Schnee an uns vorbei: "Iswinitje!" ("Entschuldigung!"). Noch wenige Schritte, dann erreichen wir den Kulturpalast, den Hauptveranstaltungsort des "Dialogs".
Hier und in zwei weiteren Gebäuden finden diese Tage meist mehrtägige Workshops statt. Die Themen sind vielfältig und reichen von der eigenen Straßenperformance, einer Einführung in den politischen Comic, der Handarbeit als Intervention in den öffentlichen Raum, über die politische Kunstausstellung als Medium antirassistischer Bildungsarbeit, einer Werkstatt für Zufallskunst bis zur Diskussion über die Utopiegesellschaft. Murmansker Jugendliche zwischen 17 und 25 Jahren, sowie die jungen KünstlerInnen der deutschen Delegation beteiligen sich und entwickeln eigenen Arbeiten und Diskussionen. Die Workshops werden von einem Team ebenso junger KoordinatorInnen der Veranstaltung gedolmetscht. Die meisten von ihnen absolvieren ein Sprachstudium in den Fächern Englisch, Russisch und Deutsch und nutzen die Gelegenheit zur praktischen Übung.
Der Illustrations- und Grafikdesigner Max hält einen Vortrag über politische Comics. 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer sitzen bei ihm im Seminar, lauschen und betrachten die Zeichnungen, die Max an die Wand power-pointed. "...und in dem Comic 'AKIRA', wird die kapitalistische Stadt zum Gegenstand der Kritik. Die Shopping-Mall ist in dem Comic als Hölle dargestellt, in der die Einwohner der Stadt zum Konsum verurteilt schmoren...". Einige Teilnehmerinnen grinsen und flüstern. Aus weiteren Diskussionen entsteht eine neue Projektidee: Sascha gründet in Murmansk eine AntiRa-AG und berät mit Max, wie man ein antifaschistisches Comic-Projekt anfangen kann, das auch nach dem "Dialog" weiterläuft. Neben den konkreten Projekten der Workshops entstehen neue Kontakte, Ideen, Anregungen. Dies berichtet auch die Vorsitzende des humanistischen Jugendverbands, Natascha, die den Dialog seit fünf Jahren von russischer Seite begleitet: "Wir haben beobachtet, dass sich nach der Veranstaltung in der Stadt jedes Mal, neue kleine Initiativen bilden", erklärt sie.
Das Projekt bedeutet einen Schritt in Richtung der Bedürfnisse der Jugendlichen vor Ort zu gehen. Anders als Moskau oder St. Petersburg ist Murmansk allein schon aufgrund seiner geographischen Lage relativ abgeschnitten. Die wenigen kulturellen Angebote, die es gibt, sind fast durchweg kommerziell oder staatlich durchreguliert. Es gibt wenig alternative Szene und die repressive Stadtpolitik erstickt fast jede politische nicht-staatliche Initiative im Keim.
Der "Dialog" hat sich in den letzten Jahren zu einem politischen Jugendbildungsprojekt entwickelt. „Früher hingen hier noch Landschaftsbilder und es wurde Kinderballett angeboten, “ sagt Mandy, eine der OrganisatorInnen. Sie erläutert weiter, die Kooperationspartner hätten eine längere Diskussion geführt, um den Dialog zu einem Ort für politische Jugendbildung zu entwickeln. "Mit der Idee einer politischen Kunstausstellung assoziierten die Organisatoren von russischer Seite zunächst ein stalinistisches Korsett und waren recht skeptisch. Als wir dann Beispiele aus einer Leipziger Ausstellung gegen Rassismus zeigten, konnten wir verdeutlichen, was wir damit meinten." So geht es beim "Dialog der Kulturen" vielmehr um die Möglichkeit, eine Kritik an Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu formulieren.
Das Konzept des "Dialogs" kommt bei den Jugendlichen offensichtlich gut an und schafft Anknüpfungspunkte für ihre Interessen. So wie das Comicprojekt. Viele begeistern sich auch für Musikveranstaltungen, besonders wenn sie nicht nur im üblichen konventionellen Rahmen stattfinden. So bauen in einer "Nacht des Dialogs" ein paar DJs ein Soundsystem in einer Halle am Hafen auf und initiieren dort eine Technofete. Die Party zieht sich bis in die frühen Morgenstunden hin- ein ziemlicher Erfolg, hatte man doch damit gerechnet, dass die Veranstaltung bereits nach kurzer Zeit von den örtlichen Ordnungshütern aufgelöst würde. Auch der Abschlussabend wird zu einem besonderen Erlebnis. Nach zwei Klanginstallationen, spielt die Bremer PunkRap-Band "Radical Hype" und animiert das Publikum zum Luftsprung gegen Nazis. Wie so viele sind dies bleibende Eindrücke des Projekts, die eben gerade durch dieses spezielle Bildungsformat der internationalen Jugendbegegnung entstehen und die anders kaum herzustellen sind.
Eine Woche lang kamen Ende März junge Kreative und politisch Interessierte aus Murmansk und verschiedenen deutschen Städten über politische Kunst und Kultur miteinander in Kontakt. Im Rahmen von Workshops erarbeiteten sie bei dem "Dialog" gemeinsame Kleinprojekte und vernetzten sich.