Die 1960er Jahre dürften wohl das einzige Jahrzehnt sein, über das eine eigene historisch-soziologische Zeitschrift berichtet. Mit «The Sixties. A Journal of History, Politics and Culture» erscheint seit 2008 eine internationale Fachzeitschrift zu diesem Jahrzehnt. Ein neues Handbuch richtet nun den Blick auf die Ereignisse in den 1960er Jahren in den nichtwestlichen Ländern des Globus.
Grundlegende These ist, dass die «1960er» Jahre, um nicht zu sagen «1968», die erste globale Revolte gewesen seien. Dies zum einen, weil weltweit die Entkolonialisierung an ihr Ende gekommen sei, und zweitens in vielen Ländern weltweit Proteste gegen Autoritäten, wenn nicht weitergehende Ereignisse an der Tagesordnung gewesen seien. Bemerkenswert sei, dass es sehr viele Verflechtungen und Austausch in Form von Ideen und Personen gegeben habe, und zwar innerhalb des «Nordens», innerhalb des «Südens» und in beide Richtungen zwischen diesen. Vor allem im globalen Norden, aber auch teilweise im Süden ist in den 1960er Jahren die Nachkriegszeit und der damit verbundene Wiederaufbau zu Ende. In vielen Ländern weltweit gibt es eine Bildungsexpansion.
Das Buch ist das Resultat zweier Konferenzen (in Abu Dhabi und Shanghai) 2016 und bietet eine lesenswerte Einleitung und 41 Artikel über verschiedenste Phänomene, die in der Regel an einer Stadt, einer Region oder einem Land dargestellt werden. Ein umfangreicher Index erleichtert den Zugang. Im ersten Abschnitt mit 23 Artikeln geht es um (transnationale) Räume, Gemeinschaften (Bürger-)Kriege, Kultur und Gegenkultur, Feminismus, Utopien und schließlich um internationale Ökonomie und Diplomatie. Danach folgen die «Länderstudien» in einem engeren Sinne. Der geografische Bogen reicht von Portugal über Jugoslawien und den Iran bis nach Äthiopien, Brasilien, Indonesien und Japan, um nur einige Länder zu nennen.
In der Einleitung charakterisieren die Herausgeber «1968» so, dass dort zwar auch Klasse und Revolution im Fokus gestanden hätten, es aber ebenso, wenn nicht sogar weit stärker, um Autonomie gegangen sei - und die Psyche als Ort und Gegenstand des politischen und individuellen Kampfes neu auf die Agenda gesetzt worden wäre. Nicht zufällig wird auch in diesem Buch die Frauenbewegung und die Politisierung der Geschlechterverhältnisse als wichtigstes Ergebnis von «1968» genannt. Der grundlegende Impuls von «1968» sei dann allerdings in einem Mix von Repression und Kooption, von Erschöpfung und Spaltung ausgelaufen.
Das Buch verdient wegen seines Inhalts und Umfangs, im Gegensatz zu manch anderem, seinen Namen vollauf, es hat wirklich Handbuch-Charakter (Inhaltsverzeichnis). Die Beiträge begründen die dem Buch zugrundeliegenden Thesen gut.
Jian / Klimke / Kirasirova / Nolan / Young / Waley-Cohen (Hrsg.): The Routledge Handbook of the Global Sixties. Between Protest and Nation-Building; Routledge Verlag, London 2018, 616 Seiten, 9781138557321 (als Hardback und ebook)