Nachricht | Deutsche / Europäische Geschichte - Kunst / Performance «Verantwortung für das eigene Produkt»

Beitrag zum Kongreß der Unterhaltungskunst, März 1989

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Gundermann (Mitte) & Seilschaft 1993 im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei. Bild: Volker Palme, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0.

Ich bin jemand, der eigentlich zwei Berufe hat. In dem einen versuche ich für den Unterhalt der Gesellschaft zu sorgen, mit zu sorgen. In dem anderen für ihre Unterhaltung. In dem ersten Beruf bin ich Bergmann. Ich arbeite seit 15 Jahren auf dem Schaufelradbagger im Tagebau Spreetal. Mein spezielles Problem ist, daß ich einige hundert Meter von diesem Tagebau wohne. Das Haus, in dem ich wohne, wird von der Kohle, die ich fördere, mit Energie und Gas versorgt. Gleichzeitig baggere ich unerbittlich auf dieses Haus zu und bin im Jahr 2003 an meinem eigenen Eingeweckten. Habe also, wenn es nach Plan geht, ab 2003 kein zu Hause mehr. Ich stehe in dem Konflikt, einerseits meine Arbeit gut machen zu wollen, andererseits so langsam wie möglich. Ich habe überlegt, wie ich diesen Konflikt lösen kann. Ich habe überlegt, ob ich mich diesem Prozeß entziehe. Ich habe mich entschlossen dazubleiben und habe darüber nachgedacht, was man machen kann. Ich bin allein zu keinem Ergebnis gekommen. Und dieser Zwang zum gemeinschaftlichen Nachdenken ist ein Grund für meinen zweiten Beruf. Ich mache Lieder und Geschichten und versuche damit über alle Kanäle, die mir möglich sind, an die Leute zwecks gemeinschaftlichen Nachdenkens heranzukommen. Ich bin auf die Straße gegangen, in kleine Klubs, habe in der Zirkusarena gespielt und mich mit Rockern zusammengerauft. Ich habe also ein Bein in der Basis, ein Standbein – und ein Bein im Überbau der Gesellschaft, das Spielbein. Das ermöglicht mir einen ständig wechselnden Blickwinkel, und es hilft mir, weil manche Probleme werden kleiner, wenn man sie von woanders sieht und manche werden größer. Der Versuch, diese Doppelfunktion in der Gesellschaft wahrzunehmen, hat natürlich Probleme, Verständigungsprobleme. Die Leute, die den ganzen Tag von Sozialismus, Arbeitsschutz und Weltniveau reden, denen bin ich meistens zu vulgär. Und die Leute, deren Vokabular sich auf Fußball, Votze und Frühstückseier beschränkt, denen bin ich meistens zu hochgestochen, aber ich denke, daß Verständigung nötig ist, und sie ist auch im Gang.

Die Probleme der Unterhaltungskünstler sind nicht zu trennen von den Problemen des Publikums, für das sie da sind. Wenn wir hier also über Funktionen von Unterhaltungskunst in der Gesellschaft verhandeln, müßten wir uns vielleicht erstmal verständigen, welche Funktion unsere Gesellschaft heute hat. Da habe ich mir rein privat mal ein paar Gedanken gemacht, die ich hier mal ausbreiten möchte.

Seit 1917 bewerben sich im wesentlichen zwei Systeme um die Gestaltung der Zukunft der Menschheit. Dieser Wettbewerb ist weder beendet noch entschieden. Der Sozialismus muß sich erst noch als überzeugende Alternative auf die Herausforderung unserer Zeit erweisen. Der Kapitalismus wartet seit 15 Jahren mit einer ungeheuer gesteigerten Innovationsfähigkeit auf, besonders an der ökonomischen Basis. Während es uns heute schwerfällt, uns von Produkten, Strukturen und Verhaltensweisen zu trennen, die gestern noch Errungenschaften waren und morgen nicht mehr zu gebrauchen sind. Gestern verwiesen wir mit Stolz darauf, daß die Völker des Sozialismus Brot und Frieden haben. Heute wissen wir mehr denn je: es kann der Beste nicht in Frieden leben, wenn der Nachbar kein Brot hat. Denn irgendwann steht der hungernde Nachbar mit der Avor der Tür und will an die Vorräte, und es wäre nicht das erst Mal in der Geschichte, daß der satte Nachbar der erste ist, der in der Pfanne landet. 

Das diplomatische Ringen um Völkerfrieden disqualifizieren wir zu einer lächerlichen Farce, wenn wir weiter so unsere Rohstoffe verheizen und verfressen, wie wir es jetzt tun. Damit zwingen wir unsere Enkel, sich morgen gegenseitig die Köpfe um die paar verbliebenen Ressourcen einzuschlagen, einfach um überleben zu können. Viele Jahre waren wir damit beschäftigt, hier Ziegelsteine, Walzbleche, Nägel, Kugellager und Briketts herzustellen. Das ging viele Jahre mit der gleichen Technologie, mit der gleichen Qualifikation, nach dem Prinzip: einer sagt, was gemacht werden muß, und alle packen mit an.

In Großbetrieben wurden die Produktionsmittel und Arbeitskräfte konzentriert. Der Staat vertrat das gesellschaftliche Interesse in Form zentralisierter Planung, Leitung und Verteilung. Heute müssen wir automatische Industrieausrüstungen, Hochtechnologien, Software produzieren. Die Technologien dazu ändern sich ständig, Arbeitsinhalte werden komplizierter, Planungszeiträume kürzer. Die beteiligten Kollektive werden kleiner. Das ist nicht mehr zu schaffen mit den Leuten, die wir heute als Arbeitskräfte bezeichnen und die die Arbeit mehr oder weniger gut tun, die ihnen aufgetragen wird. Hier müssen morgen bewußte Subjekte agieren, die sich ihre Aufgaben selber suchen, sie lösen, um sich wiederum neuen Aufgaben zu stellen. Die Basis für das Entstehen solcher Subjekte ist, daß der Begriff Volkseigentum endlich von einer moralisch ideologischen Kategorie zu einem funktionierenden Mechanismus gemacht wird, denn Eigentümerbewußtsein entsteht nur aus Eigentümerfunktion, also wenn jedes produzierende Subjekt entsprechenden Einfluß auf Planung, Leitung und Verteilung der Produktion hat. Die Entscheidungsebenen müssen aus den Ministerien heraus, vor Ort verlagert werden. Die Gesellschaft muß von unten her demokratisiert werden, an der ökonomischen Basis. Der Staat könnte Verantwortung verteilen, seinen eigentlichen Aufgaben nachkommen und seinen Apparat reduzieren, wenn er nicht mehr für jede fehlende Schraube verantwortlich ist und nicht mehr für jede nicht produzierte Schallplatte. Die Bürger würden sicher auch aufhören, beim Staatsoberhaupt per Eingabe Abhilfe zu suchen für tropfende Wasserhähne und Wartezeiten in der Wäscherei.Hier noch ein aktueller Einschub: Es ist hier diskutiert worden über alternative Labels und verschiedene Sachen. Und ich sage, wir sollten vielleicht nicht soviel diskutieren, sondern es einfach mal probieren. Ich halte diesen Vorschlag von den Rockern, ein «Rockhaus» in Berlin aufzumachen, das sie selber finanzieren, für eine Idee. Sie wollen dafür kein Geld haben, also machen wir’s doch einfach. Und dann glaube ich, ist ein Rollentausch möglich, weil die Rocker in die Rolle von Veranstaltern kommen und viele Dinge aus einem anderen Blickwinkel sehen. Und wenn ein alternatives Label existiert, dann ist a) Büttner nicht immer der Buhmann für alle, die keine Platte haben. Zweitens würde mancher Kollege, der unbedingt der Meinung ist, die Welt mit einer Platte beglücken zu müssen, und dann bei fünf Labels abgeblitzt ist, vielleicht überlegen, daß er nicht unbedingt so ein heißer Macher ist, sondern vielleicht mal an seinen Songs arbeiten müßte. Das bisherige gesellschaftliche Zusammenleben bei uns basierte auf der Technologie, daß jeder aufgerufen war, im gesamtgesellschaftlichen Interesse zu handeln, und daß solche Handlungen auch ihm selber nutzen würden. Nun ist es so, daß dieses viele Leute versucht haben und haben sich zunehmend in schwarze Löcher investiert. Es hat sich nicht gelohnt. Zu viele Leute haben mitgeredet, und zu viele Leute haben sich heute zurückgezogen in ihre Gärten und Hobbykeller, weil ihre Initiativen, Fragen und Ideen in ihren Betrieben nicht mehr gefragt waren.

Wir müssen für die Zukunft Technologien finden, wie jede Handlung des einzelnen, die er zu seinem Nutzen unternimmt, in gesellschaftliche Vorwärtsbewegung umgesetzt werden kann. Was sonst das gesellschaftliche Zusammenleben betrifft, noch ein letzter Satz: Jeden Versuch, eine Entwicklungsstufe zu überspringen, hat die Geschichte sich teuer bezahlen lassen oder mit Rückschlägen geahndet. Heute diskutiert niemand mehr darüber, daß wir, um den Sozialismus aufzubauen, unter unseren Bedingungen die Errungenschaften der bürgerlichen Industrialisierung, der kapitalistischen Industrialisierung nachholen müssen. Vielleicht ist es an der Zeit, daß wir sagen: Um sozialistische Demokratie zu machen, müssen wir vielleicht erst unter unseren Bedingungen die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie nachholen.

Zu einigen Aufgaben der Unterhaltungskunst, die für mich daraus resultieren:
Ich kann also den sozialen Auftrag, Wohlbefinden zu erzeugen, für mich nicht annehmen. Ich glaube, daß unsere Aufgabe vielleicht darin besteht, die Entwicklung unserer Leute von Arbeitskräften zu produzierenden Subjekten zu befördern. Es geht nicht um einfache Reproduktion der tagsüber verschlissenen Arbeitskraft. Es geht um Zuwachs an Fantasie, Weitsicht, Mut, Zärtlichkeit, Aggressivität, Streitlust, Vertrauen, Konfliktfähigkeit, Ausdauer...

Dabei müssen wir auch immer die Grundgedanken unseres Wirkens als Unterhaltungskünstler neu überdenken. Und den, der den Anspruch hat, den Leuten nach ihrem harten Tag ein bißchen Freude zu schenken, den frage ich an dieser Stelle: hat nicht der, der eine technische Neuerung verhindern will, einen ebenso harten Tag, wie der, der sie durchsetzen will? Und wenn es schon um das Austeilen von Streicheleinheiten geht, warum soll der Verhinderer genauso viel abkriegen wie der Erfinder?

Was ist für uns Entspannung? – Die Augen verschließen vor einem ungelösten Problem? Oder sich ihm spielerisch von einer anderen Seite nähern? Unsere Bühnen, Songs und Programme, denke ich, müssen die Spielräume sein, in denen wir unter den Augen des Publikums und nach seinen Vorschlägen Zukunft trainieren. Hier dürfen nicht die Fragen gestellt werden, auf die wir heute noch keine Antwort wissen. Hier müssen sie gestellt werden. Wo sonst?

Die Auseinandersetzung zwischen den Systemen hat sich auf unblutige Gebiete verlagert. Es geht um höhere Produktivität genauso wie um bessere Hits. Auf beiden Seiten hat der Sozialismus Nachholbedarf. Und der Kampf gegen einen Kulturimperialismus, der heute versucht, die Gefühle von Völkern zu uniformieren, um seine Hamburger und Fernsehserien weltweit profitabel absetzen zu können, dieser Kampf ist von uns weder zu führen noch zu bestehen, wenn wir allein bleiben.

Auch hier müssen wir fähig sein zur Koalition der Vernunft und als Koalitionspartner auch Qualifikation aufweisen. Hier ist auch keine mechanische Front zu ziehen zwischen Osten und Westen.Beispiel: Wenn im ZDF John Wayne demonstriert, daß der bessere Mann der mit dem größeren Kaliber ist und parallel dazu im ARD Manfred Krug als kleiner Mann versucht, anderen kleinen Leuten zu helfen, sich gegen die Haifische zu wehren, dann sage ich, verläuft die Barrikade zwischen diesen beiden Kanälen. Oder, bei uns im Zweiten läuft ein spanisch-italienischer Abenteuerfilm, in welchem Dean Reed innerhalb einer Minute zwanzig Leuten den Garaus macht und dabei Witze erzählt, und in der ARD erzählt Romy Schneider «Eine einfache Geschichte», und ich entscheide mich für die ARD, dann habe ich nicht das Gefühl, auf dem falschen Sender gelandet zu sein.

Wenn wir uns effektiv dagegen wehren wollen, daß weltweit amerikanische Plastikträume zur eigentlichen Sehnsucht der Völker hochstilisiert werden, müssen wir uns aufmachen für die Kulturen anderer Völker und unsere eigene Kultur in die Welt bringen. Wir haben in den letzten Jahren die Türen weit aufgemacht, aber ich habe stark den Eindruck von Einbahnstraße. Unsere Leute haben mitgesungen, als Springsteen von seinen Sehnsüchten und Ängsten erzählt hat. Aber wie ist es andersrum? Ich rede jetzt nicht von verschleppten Paßangelegenheiten, sondern davon, daß wir des öfteren angemahnt werden, nicht durch übermäßig genaue und kritische Haltungen dem Klassengegner Grund zum Lachen zu liefern oder gar geheimdienstliche Erkenntnisse.

Aber niemand wird in Zukunft vor oder gar nach Springsteen oder Cocker auf die Bühne gehen, der nicht in aller Härte, mit aller Offenheit und mit aller Liebe mit den Leuten darüber verhandeln will, was wir hier in diesem Lande miteinander machen; der dies will, darf und kann, nur der wird auf die Bühne kommen.

Zum Schluß noch einige Gedanken, die mich persönlich als Liedermacher betreffen:
Wenn man es als seinen sozialen Auftrag betrachtet, Fantasie zu ermutigen, Vorschläge zu machen, zu provozieren, Alternativen zu diskutieren, kommt man natürlich in Widerspruch zu Leuten, die der Meinung sind, im alleinigen Besitz der Rezepte zu sein. Und es kommt zum Konflikt. Das ist natürlich. Unnatürlich ist, daß meist vorher feststeht, wer der Sieger in diesem Konflikt ist.

Ein paar Sachen, die ich so erlebt habe: Ich habe mal ein Programm von mir vor Kulturhausleitern vorgestellt, und da hat ein er gesagt, er würde dieses Programm nur ideologisch gestählten Werktätigen zumuten. Und ich habe ihn gefragt, wie er da den Karten verkauf betreiben will! Des weiteren ist es oft vorgekommen, daß ich von Kulturfunktionären befragt werde, ob das, was ich mache, denn noch auf unserem Boden gewachsen ist. Ich habe seit zwei Jahren einen Garten und einen erfahrenen Gartennachbarn. Ich habe noch nie gesehen, daß der vor einer ihm zu mickrig gewachsenen Tomatenstaude steht und sagt: Bist du denn auf meinem Boden gewachsen? Sondern er überlegt, ob sie vielleicht zu wenig Sonne abgekriegt hat oder zu wenig Wasser, ob der Boden von Schädlingen befallen ist oder mal wieder umgegraben werden müßte.

Wenn wir vor die Leute gehen, hat das immer was mit Liebe zu tun. Ich habe aber des öfteren die Erfahrung gemacht, daß sich Künstler und Veranstalter vor dem Konzert solange anwichsen, daß also der Künstler auf die Bühne geht und zu der Nummer mit dem Publikum nicht mehr fähig ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es eine ganze Reihe von Funktionären gibt, die ein Verantwortungssyndrom haben. Sie wollen einem immer die Verantwortung für das eigene Produkt abnehmen. Warum ist das so? Kommt das vielleicht daher, daß sie sich danach sehnen, selber etwas zu produzieren? Vielleicht sollte man das einführen! Was wird aus uns, wenn wir uns daran gewöhnen, daß uns jemand die Verantwortung abnimmt. Ich frage als Produzent elektrischer Energie: Wo ist der Funktionär, wenn der Bürger einsam vor die Steckdose tritt, Auge in Auge mit 220 Volt, und jeder weiß, daß ein elektrischer Schlag lebensgefährlich sein kann. Wie wenig gefährlich sind dagegen die Vorschläge, die ich in meinen Liedern und Geschichten zu machen habe. Als Bergmann produziere ich Energie. Die Leute setzen sich zu meinem Produkt ins Verhältnis, indem sie Licht einschalten oder nicht. Als Künstler produziere ich Lieder. Die Leute setzen sich zu meinem Produkt ins Verhältnis, indem sie sich eine Karte kaufen oder nicht. Der Funktionär hat hier nichts zu tun. Er kann sich seinen eigenen Aufgaben widmen; es sei denn, er will selber auftreten. Das soll er machen. Da wird er sehen, was er davon hat. Wir werden sehen, was wir davon haben.

Zum Abschluß möchte ich noch einen Satz sagen: Ich wäre natürlich immer noch als Landei in meinem Spreetal, wenn nicht ein paar Funktionäre und Künstler mich an die Hand genommen und gesagt hätten, guck mal, das könntest du machen. Willst du nicht? Oder das? Wir glauben, daß du das kannst. Ich habe es gemacht. Ich möchte mich bei denen bedanken. Viele davon sitzen heute hier. Ich möchte mich bei denen bedanken, die gegen meine Produkte waren und das offen mit mir diskutiert haben, und ich möchte mich bei denen bedanken, die aus dem Hinterhalt mit Knüppeln geworfen haben, weil, ich bin dadurch im Training, im Wiederaufstehen.


Der Text erschien in UTOPIE kreativ, H. 152 (Juni 2003), S. 557-563. Zur Einführung schrieb Lutz Kirschner:

Vor fünf Jahren, in der Nacht vom 20. zum 21. Juni 1998, starb Gerhard Gundermann. «Rockpoet und Baggerfahrer», «Springsteen des Ostens» lauten die Kürzel, die gebraucht werden, um eine erste Annäherung an sein Leben und künstlerisches Wirken zu ermöglichen. Wer war dieser Mann? 1955 in Weimar geboren, Abitur, Offiziersschüler, wegen «fehlender Verwendungsmöglichkeit» nach dem Grundwehrdienst entlassen, dann IM/Observationsobjekt der Stasi, engagiertes SED-Mitglied/1984 ausgeschlossen, 1990 Kandidat der Vereinigten Linken für die Volkskammer. – Eine politische DDR-Biographie. Ein ostdeutsches Industriearbeiterschicksal: Arbeit im Braunkohlentagebau bei Hoyerswerda – zunächst als Hilfsarbeiter, später als Baggerfahrer, ab Mitte der 90er in einer Rückbau- und Rekultivierungsmaßnahme, dann arbeitslos und in Umschulung zum Tischler. Und immer wieder Texte, Lieder, künstlerische und kulturpolitische Aktivitäten, vom FDJ-Singeclub Hoyerswerda und der Brigade Feuerstein über die Zusammenarbeit mit den Wilderern und Silly bis zu Gundermann & Seilschaft und seinen Soloprogrammen.

Jede politische Generation hat ihr kulturelles Umfeld und bringt ihre künstlerischen Repräsentanten hervor. Gundermann gehörte zu denen, die Anfang der 70er Jahre mit dem Anspruch starteten, in diesem ihrem Land DDR mitzumischen, etwas Eigenes beizutragen zur Realisierung der Utopie von Gleichheit, Miteinander und Solidarität. Militanz und Aktivitätsanspruch paarten sich, sein Lied träumte von einem «posten bei der fln», es sprach vom Gerufenwerden: «wo man meine hilfe braucht, muß ich zur Stelle sein».

Kollisionen konnten nicht ausbleiben. Und doch standen den Konflikten mit den Vätern immer auch Gewinne gegenüber – etwas mehr an Rationalität in der harten Arbeit der Kohleförderung, die Kreation neuer künstlerischer Formen und Orte wie der «Power-Fabrik» oder die LP-Produktion «Männer, Frauen und Maschinen».

Zum Bruch mit dem Projekt eines Sozialismus in der DDR kam es bei Gundermann so nicht, mit dem Starrsinn der Alten aber werden ab Mitte der 80er die Texte schärfer, Melodien, Arrangements und Vortragsgestus härter: «es kommt der tag, da sind die kleinen groß und die großen werden tot sein.» Sein 1988 erarbeitetes Programm «Erinnerung an die Zukunft» ist mit Liedern zu Ausreise, Umwelt und Patriarchat ganz auf der Höhe der Zeit, es zielt unmittelbar auf gesellschaftliche Veränderung. Mit Carl Schurz, dem Kämpfer der 48er Revolution und des amerikanischen Bürgerkriegs, weist Gundermann den Unfehlbarkeitsanspruch der Funktionäre zurück, fordert Artikulationsräume kritischer Öffentlichkeit und argumentiert für die Machtteilhabe der Massen. «die waffen sind ausgeteilt. gott hat sich abgeseilt. nehmt eure plätze ein.» 

Für die SED-Bezirksleitung Cottbus eine Unperson, kann er dank der offeneren Position des Komitees für Unterhaltungskunst am Kongreß am 1. und 2. März 1989 in Berlin teilnehmen. In seinem Beitrag bekräftigt er den Anspruch, mitzumachen an der längst überfälligen, mit Härte und Offenheit zu führenden großen Aussprache im kleinen Land DDR. Gundermann wendet sich gegen die Umklammerung der Künstler durch Veranstaltungs- und Politbürokratie, er skizziert Richtungen grundlegender Reformprozesse. In der Ökonomie ist der Mechanismus gesellschaftlichen Eigentums zum Funktionieren zu bringen, erreichbar nur über den direkten Einfluß der Produzenten in Planung, Leitung, Verteilung: Wirtschaftssteuerung von unten. In der Politik steht die nachholende Aneignung der Errungenschaften bürgerlicher Revolutionen an: Demokratie. Kurt Hager, der Chefideologe im Politbüro, der Gundermanns Auftreten kritikwürdig findet, sucht in einer Kongreßpause immer hin das Gespräch mit ihm. Diese außergewöhnliche Begegnung zwischen Papst und Ketzer wird im Foto festgehalten, die Veröffentlichung ist dann Anlaß für den Cottbusser Bezirksfürsten, sich bei Honecker über Hager wegen dessen Aufwertung des Abtrünnigen zu beschweren. Wie als Kommentar dazu hatte Gundermann schon einige Jahre vorher geschrieben: «ich seh, ihr dreht euch mit dem arsch an die wand und ihr bewegt euch, den eignen schwanz in der hand.» Ansonsten ergab sich aus dem Klartext der Künstler kultur- und gesellschaftspolitisch – nichts. Die Paralyse der SED-Führung war nicht aufhebbar.

Die herbeigesehnte und mit herbeigesungene Volksbewegung des Herbstes 1989 mündete in Verhältnissen, die er sich nicht zu eigen machen wollte und konnte. Gundermann konstatierend: «es ist als hätten wir den krieg verlorn, kapituliert und abgeschworn. ringsherum qualmen scheiterhaufen, wer nicht verbrannt wird, muß sich verkaufen.» Und: «die letzen werden die ersten sein, in den momenten, wo die blätter sich wenden. aber dann, aber dann werden sie wieder die letzten sein.» Die Utopie aber bleibt, und gewinnt mit dem Frieden zwischen Mensch, Tier und unbelebter Natur neue, zusätzliche Dimensionen. Ihr über Eigenaktivität noch erreichbarer Realisierungsraum jedoch begrenzt sich. Publikum, Kollegen in Kunst und Arbeit, Freunde und Familie, das Ich. «die zukunft ist ne abgeschossne kugel, auf der mein name steht und die mich treffen muß. und meine sache ist, wie ich sie fange.» Sozialismus ist für ihn nunmehr die Antithese zu Egoismus. Gundermann übt sich in einer post-industriellen Lebensführung, die natürliche Ressourcen nicht vernutzt, nichts und niemanden ausbeutet. Seine Auftritte werden Einladungen zum Gedankenexperiment – «so kann man auch leben!» – und Proben alternativer Gemeinschaftlichkeit. Sein letztes Konzert gab er eine Woche vor seinem Tod in der Prignitz-Gemeinde Krams.

Gundermanns Kunst besticht durch die poetische Genauigkeit seiner Texte, die Freude am Liedhaften und seine kraftvoll-sensiblen Interpretationen. In der Konkretheit der Geschichten, Metaphern und Bilder läßt sich das Allgemeine menschlichen Suchens nach individuellem und gesellschaftlichem Glück erahnen, finden die eigenen Erfahrungen von Kraft, Sehnsucht, Enttäuschung, Verzicht, von Hoffnung einen als gültig anerkannten Ausdruck. Die ruhigen Tage, an denen ich eine andere Welt atmen hören kann, sind für mich Tage mit Gundermanns Liedern.


Website des Vereins Gundermanns Seilschaft: www.gundi.de 

«Härter als der Rest. Gerhard Gundermann zum 50. Geburtstag.» Unter diesem Titel fand am 19. Februar 2005 in der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin, ein Kolloquium der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Vereins Gundermanns Seilschaft e.V. statt.

Eine Dokumentation findet sich in UTOPIE kreativ, H. 177/178 (Juli/August 2005). 
Zur Dokumentation

Foto: Sören Marotz