Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Rassismus / Neonazismus - Staat / Demokratie - NSU-Komplex Der völkische Aufstand

Nach den pogromartigen Ausschreitungen in Chemnitz/Sachsen geht es für eine offene Gesellschaft ums Ganze.

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Die grotesken Bilder des riesigen Karl-Marx-Monuments in Chemnitz, umgeben von tausenden marodierenden Neonazis und Nazi-Hools, die auf als Nicht-Deutsche wahrgenommene Personen und Gegendemonstrant*innen Jagd machen und einen rassistischen Ausnahmezustand mitten in Deutschland etablieren, bestimmen die derzeitige Medienberichterstattung. Den massiven Ausschreitungen an 26. August war eine furchtbare Bluttat im Umfeld des Chemnitzer Stadtfestes vorausgegangen, bei dem ein 35-Jähriger schwarzer Deutscher erstochen und zwei weitere Personen lebensgefährlich verletzt worden waren. Die bis heute kaum erhellten Tathintergründe waren für die gut vernetzte rechte Szene Chemnitz’ offensichtlich ein willkommener Anlass, zu dem zu greifen, was der Vorsitzende der Alternative für Deutschland (AfD) Alexander Gauland «Selbstverteidigung» nennt. Es sei doch, so Gauland, «normal, dass Menschen ausrasten», wenn es zu derartigen Taten komme. Noch ehe überhaupt etwas über das Tatgeschehen und die mutmaßlichen Täter bekannt war, war sich Gaulands Parteifreund, der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier auf Twitter sicher, dass es «Bürgerpflicht» sei, «die todbringende ‚Messermigration‘ zu stoppen». Während sich AfD-Politiker*innen und andere Protagonisten der völkisch-nationalistischen Szene im Land zu Sprachrohren der Selbstjustiz und Verrohung machten, sammeln sich seither allabendlich Massen von «Aufgebrachten» in der Chemnitzer Innenstadt und versetzen sie in den Ausnahmezustand. Die sächsische Polizei und Politik zeigen sich dem in keiner Weise gewachsen. Mit einer Großdemonstration am 1. September soll der Aufstand der sich selbst ermächtigenden Wutbürger*innen einen weiteren Höhepunkt erreichen. Als Redner hat sich unter anderem der Thüringer Fraktionschef und neofaschistische Rechtsaußen der AfD, Björn Höcke, angesagt. Man mobilisiert im Netz zum «Systemsturz» und unter Berufung auf das Ende der DDR zur «Wende 2.0».

Die Konstellation zeigt, dass das Geschehen nur am Rande mit dem zufälligen Ort des Geschehens Chemnitz zu tun hat. Chemnitz oder das, was gerade in Chemnitz passiert, hätte an vielen Orten geschehen können. Chemnitz reiht sich ein in eine Kette von rassistisch motivierten Geschehnissen, die uns mit der Geographie des Landes bekannt gemacht haben: Namen wie Clausnitz, Bautzen, Cottbus, Heidenau, Dresden, Freiberg, Ballstädt, Nauen, München usw. haben sich eingeprägt. Chemnitz ist nur die nächste Eskalationsstufe einer Entwicklung, die sich vielleicht seit den Tabubrüchen Thilo Sarrazins mit seinem reaktionären Bestseller «Deutschland schafft sich ab», vielleicht seit dem Auftauchen der AfD in der politischen Parteienlandschaft, spätestens jedoch seit dem «Sommer der Migration» in Deutschland abgezeichnet hat.

Chemnitz war für NSU-Kerntrio ein attraktives Ziel

Und doch ist Chemnitz auch wieder kein Zufall. Hier gibt es eine traditionell und seit Jahrzehnten so gut vernetzte gewaltbereite Nazi-Szene, dass die Stadt für das Kerntrio des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) schon im Jahr 1998 ein attraktives Ziel war, als Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe vor polizeilicher Verfolgung aus dem thüringischen Jena flüchteten. Sie tauchten in Chemnitz in eine ideologisch gefestigte Szene ein, die zu weitgehenden Unterstützungsleistungen bereit war und in der sich die drei «Untergetauchten» bewegen konnten wie Fische im Wasser. Einer der Zeugen, die im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München aussagen mussten, ist jetzt bei den Zusammenrottungen in Chemnitz wiedergesehen worden. NSU-Unterstützer Hendrik Lasch hatte in München ausgesagt, ihm sei es damals gar nicht aufgefallen, dass die drei «in den Untergrund gegangen» seien, denn er habe keinen Unterschied zu vorher feststellen können. Gerade im Kontext der skandalös milden Verurteilung eines Zwickauer «Kameraden» des NSU mag mancher einen Zusammenhang mit der brutalen Selbstermächtigung des Chemnitzer Nazi-Mobs sehen: Einer der engsten Vertrauten der Nazi-Mörder des NSU, der damals angeklagte André Eminger, der ihnen bis zum Schluss, bis zum Auffliegen am 4. November 2011, unverbrüchlich die Stange gehalten hatte, war vom Münchener Staatsschutzsenat mit mehr als fragwürdigen Argumenten teilweise freigesprochen und mit zweieinhalb Jahren Haft fast zehn Jahre milder als von der Bundesanwaltschaft beantragt, verurteilt worden. Ausgerechnet der mit Nazi-Tattoos überzogene Beschuldigte, der seine Verteidiger ausrichten ließ, er sei «Nationalsozialist mit Haut und Haaren» verließ am 11. Juli 2018 unter dem Jubel der zur Urteilsverkündung angereisten namhaften Nazis den Gerichtssaal als freier Mann. Das fatale Signal, das aus München in die bundesdeutsche Nazi-Szene gesandt wurde, lautete: Dieser Staat wird Euch nicht an eurem Tun hindern. Für die überwiegend migrantischen Betroffenen des über Jahre währenden rassistischen NSU-Terrors bedeutete das Urteil, dass sich dieser Staat zu ihrem Schutz nicht krumm machen würde. Chemnitz könnte als Umsetzung dieses juristischen Signals verstanden werden.

Aber ganz generell: Die politische Situation in Deutschland hat sich in Rekordgeschwindigkeit in den zurückliegenden etwa fünf Jahren verschlechtert. Eine breite nationalistische Bürger*innenbewegung hat sich formiert, in der die destruktiven Energien rassistisch motivierter Normalbürger*innen, «intellektueller» faschistischer Thinktanks und Publikationsprojekte, zusehends besser organisierter militanter Neonazis zum Teil aus der Versenkung, in der die NPD verschwunden ist, und der AfD als parlamentarischem Arm zusammenfließen. Diese wuchtige Dynamik hat seit der Ankunft zehntausender Geflüchteter aus Syrien und anderen Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten dieser Welt im Jahr 2015 erst richtig Fahrt aufgenommen. Die sogenannte Willkommenskultur und das Merkelsche «Wir schaffen das!» wurden schnell von einem sich rasant formierenden und radikalisierenden Protest zunächst von Gruppen und Personen sogenannter «besorgter Bürger» medial und auf den Straßen des Landes überflügelt. Fortan war nur noch von der «Flüchtlingskrise» die Rede und eine völkisch-nationalistische Bewegung ließ sich vom hasserfüllten Furor rassistischer Scharfmacher in die Höhe tragen. Das antifaschistische Berliner Rechercheprojekt apabiz stellt dazu fest: «Diese Durchlässigkeit zwischen den Milieus und auch die Mobilisierbarkeit mehrerer Generationen von Aktivist*innen der extremen Rechten entspricht dem Stand antifaschistischer Recherchen vor Ort und ist ein wesentlicher Grund der jetzigen Entwicklung auf der Straße.»

Unsagbares wird sagbar

Ihre alarmierenden Ergebnisse: Die Verschiebung der gesellschaftlichen Diskurse weit nach rechts, die Auflösung von Sagbarkeitsgrenzen oder die Umkehrung von Tabus, die enorme Verstärkerfunktion in den sozialen Medien und Netzwerken für Verschwörungstheorien, rechte und rassistische Fake-News, nationalistische Kampagnen und Parteipropaganda, der Durchmarsch der erst 2013 gegründeten AfD und die Zunahme von Organisationsgrad, Militanz und Gewaltbereitschaft seitens ihrer außerparlamentarischen Unterstützer*innen (wie den «Identitären») sowie die Durchdringung des politischen Systems der Bundesrepublik (bis hinein in den Bundestag) mit neurechten und nazistischen (oder neofaschistischen) Akteur*innen. All das hat dieses Land verändert — demokratische (Alltags-)Kultur, humane Orientierung und menschenrechtliche Grundstandards schwinden im Nu dahin. Die Atmosphäre ist vergiftet mit einem auftrumpfenden und niederträchtigen Rassismus vieler, die sich vom Taumel der AfD-Erfolge und des globalen Rechtsrucks ermächtigt, beglaubigt und ermutigt fühlen.

Es ist eingetreten, was Partei- und Fraktionschef Alexander Gauland nach dem — aus seiner Perspektive triumphalen — Einzug der AfD in den Bundestag am Wahlabend des 24.September 2017 siegestrunken ankündigte: «Wir werden sie jagen. Wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen. Und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.» Allein die bayerische CSU zeigt wie ungebremst und panisch die bürgerlichen und «Volksparteien» versuchen, sich den «Rechtspopulisten» anzunähern: War deren Führungsriege schon immer ein kaum zu ertragender Männerklüngel aus rechtskonservativen Strebern, gelang ihr unter dem Druck der AfD-Erfolge in beeindruckende Weise eine Regression zur besonders fies völkisch-nationalistischen Besitzstandswahrer-Partei, was selbst ihrer katholischen Stammwähler*innenschaft bisweilen Schwindel verursacht. Mit dem neuen Bundesinnen- und Heimat-Minister Horst Seehofer macht die CSU ihren verderblichen Einfluss auch in der Bundespolitik geltend.

Während sich bürgerliche Parteien zusehends nach rechts bewegen und auf fast erbarmungswürdige Weise versuchen, sich ihrer verlustig gegangenen und teilweise zur AfD übergelaufenen Klientel wieder anzudienen, etablieren sich in den 14 Landtagen und nun auch im Bundestag AfD-Thinktanks, in denen viele Dutzend namhafte Akteur*innen der rechts-nationalistischen und neonazistischen Szene wirken und für eine Normalisierung krude völkischen Gedankenguts in den Plenarsälen und auf allen politischen Ebenen sorgen. Es schlug im Grunde die große Stunde der Neuen Rechten, die keineswegs neu ist und diesen Namen nun schon seit einigen Jahrzehnten trägt. Der Hamburger Historiker Volker Weiss bringt diesen für die neurechten Intellektuellen «magischen Moment» in «Die autoritäre Revolte» auf den Punkt: «Binnen kurzer Zeit hatte eine Szene, die sich jahrelang selbst genug gewesen war, den Weg in die tagespolitische Auseinandersetzung gefunden. Bislang Offiziere ohne Soldaten, schien die Neue Rechte in den ‹besorgten Bürgern› die Armee gefunden zu haben, die ihnen so lange gefehlt hatte». Während in Dresden und vielen anderen Orten in Deutschland allmontägliche Demonstrationen von «Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes» (Pegida) begannen und regelmäßig viele Tausend, Anfang 2015 gar 25.000 Teilnehmer*innen auf die Straße führten, Massenproteste gegen «Genderterror» und schulische «Frühsexualisierung» von Kindern mit Schwerpunkt Südwestdeutschland aufbrandeten, so genannte Hooligans gegen Salafisten (HoGeSa) marodierend durch Köln und Hannover zogen, bewegte sich die intellektuelle Speerspitze völkisch-nationalistischen Denkens aus der Studierstube auf die Straße und bietet seither einen Gutteil der Redner*innen für diese nicht nur in Sachsen flächendeckenden Großereignisse wie jetzt in Chemnitz auf.

Neben dem Chef des neurechten Thinktanks «Institut für Staatspolitik» (IfS) und Chef des dazu gehörigen Verlags «Antaios», Götz Kubischek, und seinen Mitstreiter*innen, geben sich seither einschlägige Figuren wie der faschistische Troll und einstige Linke, der Herausgeber des expandierenden Hetzmagazins «Compact», Jürgen Elsässer, der krude rassistische, deutsch-türkische Autor von Katzenkrimis, Akif Pirinçci, und der völkische Rechtsausleger und Thüringer Fraktionschef der AfD, Björn Höcke, das Mikro in die Hand. Zu den «alten Haudegen» der neurechten und reaktionären Gilde gesellten sich auch jüngere wie etwa Philipp Stein von der sogenannten Widerstandsbewegung «EinProzent» und Martin Sellner von der «Identitären Bewegung» (IB), die mit Aktionen bildstark und medienwirksam völkisch-identitäre Störmanöver wie etwa die Besetzung des Brandenburger Tores in Berlin veranstaltet. Mit dieser Präsenz im öffentlichen Raum und als Debattenredner*innen und mit «ihrem Einfluss auf die AfD verfügt sie [die Neue Rechte, Anm. FB] nun über ein Instrument, um ihre politischen Vorstellungen in die Parlamente zu tragen. Teile der Gesellschaft bewegten sich auf ihre Positionen zu, ein Prozess der Normalisierung hatte begonnen», schreibt Weiss.

Wie weit das Selbstbewusstsein dieser Akteur*innen unterdessen ist und wie willfährig ihnen einerseits gewalttätige Neonazis und andererseits rassistisch verbohrte «Normalbürger» folgen, kann man in diesen Tagen in Chemnitz studieren. Wie hilflos bzw. in weiten Teilen geradezu lustlos staatliche Stellen und Ordnungsbehörden auf das Geschehen reagieren ebenso: Über weite Strecken ließ die sächsische Polizei den Mob gewähren, schritt gegen sich zusammenrottende Gewalttäter nicht ein. Journalist*innen vor Ort wurde beschieden, sie könnten wohl schon näher an das gefährliche  Treiben herangehen, aber: «Sie wissen, wer da demonstriert. Wir holen sie da nicht raus.»

Rechtsruck ist auf allen Ebenen zu spüren

Die freie Presse als Freiwild für den gegen die «Lügenpresse» aufgehetzten Haufen ist ebenfalls kein neues Bild: Erst wenige Tage zuvor war ein grotesk mit einer Deutschland-Kappe drapiertes «HB-Männchen» ein ZDF-Fernsehteam in Dresden angegangen und hatte es — so könnte man fast sagen — der Polizei übergeben, die dann 45 Minuten damit zubrachte, die Reporter an ihrer Arbeit zu hindern. Davon existieren Aufnahmen, die Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer so kommentierte: «Die einzigen Personen, die in diesem Video seriös auftreten, sind Polizisten.» Der Landesvater schließt sich nicht nur der Beleidigung der Journalisten an, sondern rechtfertigt auch noch das fragwürdige und rechtlich nicht haltbare Verhalten seiner Beamten. Erst als sich herausstellt, dass der seither scherzhaft «Hutbürger» genannte Tunichtgut Mitarbeiter des sächsischen Landeskriminalamtes ist, wird die Luft für Kretschmer dünner. Der «Hutbürger» hat den Polizeidienst nun ebenso verlassen, wie der Justizbeamte des Dienstes suspendiert ist, der einen der Haftbefehle gegen die mutmaßlichen Täter von Chemnitz mit den vollständigen Namen der Verdächtigten im Internet lancierte. Es deutet einiges darauf hin, dass es im Staatsapparat Sachsens, aber sicher auch anderer Bundesländer, insbesondere in den Repressionsbehörden erhebliche und gefährliche Sympathien für das neurechte völkisch-rassistische Gedankengut gibt. Beispiele gäbe es genug, die sich nicht nur auf exekutive Behörden, Justiz und die Parlamente beziehen, sondern auch auf eine Alltagskultur, in der es zunehmend en vogue ist, seine Sympathien für rassistisches und neurechtes Denken zu äußern: die Eskalationen auf den Frankfurter und Leipziger Buchmessen und offene Bekenntnisse zu rechtsreaktionärem Gedankengut auf offener Bühne — wie das des preisgekrönten Schriftstellers Uwe Tellkamp in Dresden — geben davon Zeugnis.

Der umfassende Rechtsruck ist auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens zu spüren und besonders deshalb so erschreckend, weil entsprechende Gegenkräfte in der Gesellschaft wie paralysiert dem Geschehen zusehen und nur sehr langsam und verzagt in Bewegung kommen. Dabei drängt die Zeit, die nächsten Landtags- und auch viele Kommunalwahlen sowie die Europawahl 2019 stehen an. Im Oktober wird die AfD als Nächstes — gerade in Bayern — ihren kalt lächelnden Siegeszug fortsetzen und die peinvollen Versuche der CSU, die AfD rechts zu überholen, konterkarieren.

Die einzige Chance, eine in gewissem Rahmen offene Gesellschaft vor dem Zugriff der Reaktion zu retten, liegt in einer entschlossenen und dem Ernst der Lage angemessenen Mobilisierung der Teile der Bevölkerung, die die humanistischen Errungenschaften der zurückliegenden 50 Jahre und grundlegende humane Werte nicht kampflos dem rechten Mob opfern wollen. Massenproteste gegen neue Polizeigesetze in etlichen Bundesländern (Großdemos in Bayern und NRW), gegen die Normalisierung der AfD in Berlin mit rund 50.000 Teilnehmer*innen und gegen das mörderische Geschehen im Mittelmeer haben in der angespannten Lage Mut gemacht.

Chemnitz wird in Kürze nur noch eine Zwischenetappe der Eskalation gewesen sein. Der Prozess des Durchmarsches und des Rechtsrucks in diesem Land und auch in ganz Europa, ja der ganzen Welt, ist noch lange nicht zu Ende.

Es wird Zeit, dass wir alle in Bewegung kommen!

 
Friedrich Burschel ist Referent zu Neonazismus und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertigkeit in der Akademie für Politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung.