Peter, dein Jacobin-Artikel «Four Futures» von 2011, den du später zu einem Buch ausgebaut hast, erscheint jetzt auf Deutsch, in dem jüngst erschienenen Sammelband «Jacobin: Die Anthologie». Kannst du uns zunächst dein zentrales Argument erklären?
«Vier Zukünfte» ist ein Versuch, über mögliche Entwicklungslinien einer postkapitalistischen Gesellschaft nachzudenken, indem ich sowohl Werkzeuge der Gesellschaftstheorie als auch der spekulativen Fiktion nutze. Ich beschreibe darin vier vereinfacht dargestellte Gesellschaftsstrukturen der Zukunft. Max Weber nannte das «Idealtypen». Jede Zukunft entsteht aus der Interaktion zwischen zwei Parametern.
Der erste hält fest, ob die menschliche Gesellschaft den Mangel größtenteils überwunden und die ökologische Krise gelöst hat oder ob sie deutlichen ökologischen Einschränkungen unterliegt. Der zweite definiert, ob die menschliche Gesellschaft entlang von Klassen stark hierarchisch stratifiziert ist, wie das heute der Fall ist, oder ob sie einen Zustand materieller Gleichheit erreicht hat, wie ihn sich Sozialist*innen und Kommunist*innen seit langer Zeit ausgemalt haben. Aus diesen Parametern ergeben sich vier Zukünfte: Sozialismus (Knappheit-Egalitarismus), Kommunismus (Überfluss-Egalitarismus), Rentismus (Überfluss-Hierarchie) und Exterminismus (Knappheit-Hierarchie). Von diesem Ausgangspunkt beschreibe ich diese Gesellschaften mit Hilfe illustrativer Beispiele aus Arbeiten der spekulativen Fiktion, die in Welten stattfinden, welche den jeweiligen von mir diskutierten Zukünften ähneln.
Geradezu bedrohlich schreibst du, dass wir «eine Gewissheit haben», nämlich: «Der Kapitalismus wird enden». Gleichzeitig gehst du nicht davon aus, dass dieses «Ende» automatisch zum Sozialismus führt. Welche Richtung geht die Gesellschaft in deinen Augen? Wie bewertest du die letzten zwei Jahre seit dem Erscheinen deines Buches?
Man kann es wohl als bedrohlich interpretieren, doch eigentlich war es als Binsenwahrheit gemeint, insofern nichts für immer hält. Der Kapitalismus existiert erst seit dem 17. Jahrhundert, oder sogar erst seit dem 19. Jahrhundert, wenn wir vom eigentlichen industriellen Kapitalismus sprechen. Kein anderes System hat für immer gehalten und der Kapitalismus ist schnelllebiger, sprunghafter und gegenüber der Umwelt raffgieriger als jedes andere ihm vorausgegangene System. Das Ende wird also eher früher kommen als später. Doch mein Argument ist eben, dass das, was als nächstes kommen wird, nicht notwendigerweise der Sozialismus ist und es nicht notwendigerweise eine Verbesserung gegenüber dem System ist, welches wir jetzt haben. Es ist eine Variante von Rosa Luxemburgs berühmten Ausspruch, dass wir eine Wahl haben zwischen «Sozialismus oder Barbarei».
Ich habe meine vier «Zukünfte» immer als Zuspitzungen und Übertreibungen von heute bereits bestehenden Möglichkeiten und Tendenzen verstanden und ich denke sie funktionieren noch immer so. Die Bewegung für einen Öko-Sozialismus und Kommunismus erscheint heute – zumindest in den Vereinigten Staaten – politisch viel plausibler als noch vor ein paar Jahren. Aber auch die Formen der Barbarei, die ich als Rentismus (in der intellektuelles Eigentum dazu genutzt wird, den Zugang zum materiellen Überfluss einzuschränken) und Exterminismus (in welcher die Reichen Technologie dazu nutzen, sich selbst vorm Klimawandel und vor den Massen der leidenden, überflüssigen früheren Arbeiter*innen zu schützen) beschrieben habe, sind in den letzten paar Jahren weitaus realer geworden. Doch es ist der Klimawandel, und die damit zusammenhängenden Versuche der Reichen sich selbst vor dessen Auswirkungen zu schützen, der sich weitaus schneller entwickelt hat, als ich vorausgesehen habe.
Wenn die Automatisierung entweder die Möglichkeit von Massenarbeitslosigkeit oder radikal erweiterter Freizeit bietet, wer trifft dann schlussendlich die Entscheidung darüber? Können wir im Kapitalismus die Arbeitsstunden radikal verkürzen, ohne dabei eine aufgeblähte industrielle Reservearmee zu erzeugen und die Arbeitsstückkosten fallen zu lassen?
Schlussendlich wird die Entscheidung durch politische Kämpfe getroffen. Es waren die Kämpfe von Sozialist*innen und Gewerkschafter*innen, die zum 8-Stunden-Tag und zum Recht auf bezahlten Urlaub geführt haben. Heute, wo das Lohnwachstum bereits seit Jahrzehnten hinter dem Wirtschaftswachstum hinterherhängt, ist das Argument, die Arbeitsstunden zu verringern ohne dabei gleichzeitig den Lohn zu kürzen, stärker als jemals zuvor. Kürzere Arbeitsstunden, möglicherweise in Verbindung mit einem bedingungslosen Grundeinkommen, können Automatisierung zu geteiltem Überfluss statt Verelendung führen. Doch wir können nicht erwarten, dass der Markt dieses Ergebnis automatisch liefern wird. Es erfordert Handeln von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und staatlicher Politik.
Diese Forderungen können zweifelsohne im Kapitalismus durchgesetzt werden. Ob jedoch ein Kapitalismus mit einem starken Wohlfahrtsstaat und einer ermächtigten Arbeiter*innenbewegung auf lange Sicht stabil ist, ist eine kompliziertere Frage. So wie ich die Krise der sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten nach den 1970er Jahren verstehe, ist dem nicht so. Ab einem bestimmten Punkt werden die Einschränkungen ihrer Profitabilität und Privilegien für das Kapital untragbar. Daraus entsteht eine Krise, die entweder zu neoliberalen Kürzungen oder zu einem Bruch mit dem Kapitalismus führt. Deshalb müssen unsere Bewegungen auf diese Eventualität vorbereitet sein, doch zugleich anerkennen, dass wir heute noch ein Stückchen davon entfernt sind.
Ein zentrales Thema deiner Arbeit ist die sich abzeichnende ökologische Katastrophe und wie wir einen Weg heraus oder um sie herum finden. Eine Möglichkeit, die du ansprichst, ist «Geo-Engineering», d.h. vom Menschen angetriebene technologische Interventionen in die natürliche Welt, um die schlimmsten Auswirkungen der Erderwärmung rückgängig zu machen oder zumindest hinauszuzögern. Das ist recht kontrovers. Gerade im deutschen Kontext wäre die Unterstützung einiger Jacobin-Autor*innen für die Atomkraft als einer Übergangsenergiequelle geradezu brisant. Wie stehst du zur Atomkraft und zu Geo-Engineering im Allgemeinen? Sind sie möglicherweise ein notwendiges Übel?
Insbesondere die Atomkraft ist etwas, über das ich mir nicht wirklich Sorgen mache. Der politische Widerstand demgegenüber ist enorm. Selbst das historisch sehr positive eingestellte Frankreich bewegt sich nicht weiter in diese Richtung. Abgesehen davon: auch wenn wir davon ausgehen, dass der politische Widerstand überwunden und das Problem der Müllentsorgung gelöst werden könnte, ist das notwendige Zeitfenster, um genügende Mengen von Atomkraft zur Verfügung stellen zu können, angesichts der uns bevorstehenden unmittelbaren Krise einfach zu groß.
Doch über Geo-Engineering im Allgemeinen müssen wir meiner Meinung nach ernsthaft sprechen. Der Science-Fiction Autor Kim Stanley Robinson (dessen Werk in dem «Sozialismus»-Kapitel von «Four Futures» diskutiert wird) hatte Recht, als er kürzlich argumentierte, dass die Linke die Notwendigkeit eines demokratischen, international abgesprochenen Projektes des Geo-Engineering in irgendeiner Form ernst nehmen sollte.
Damit soll nicht gesagt werden, dass es ein Ersatz für die Bemühungen sein kann, die Kohlenstoffemissionen möglichst schnell zu reduzieren und zu anderen, sauberen Energiequellen zu greifen, wie Wind-, Solar- oder Wasserenergie. Und die Erforschung intentionaler Klimamanipulation bringt zweifellos Gefahren mit sich – sowohl weil es einige Menschen benutzen werden, um von der Notwendigkeit abzulenken, das Energiesystem von Kohlenstoff zu lösen, als auch aufgrund des Potenzials für enorme unbeabsichtigte Konsequenzen. Doch es wird mehr und mehr klar, dass mit dem gegenwärtigen Kohlenstofflevel in der Atmosphäre und dem für die unmittelbare Zukunft prognostizierten Ausstoß eine schwere oder sogar katastrophale Erderwärmung unausweichlich wird, wenn nicht irgendeine Form des Geoengineering Anwendung findet.
Die Kapitalist*innenklasse und die kapitalistischen Staaten denken bereits jetzt ernsthaft über Geo-Engineering nach und wenn man es ihnen überlässt, werden sie es vermutlich auf eine Art und Weise umsetzen, die disproportional reiche Menschen und Länder bevorteilen und die Armen und Marginalisierten benachteiligen wird. Deshalb ist es unabdingbar, dass die Linke eine andere Antwort hat als ein kategorisches Nein gegenüber jedwedem Versuch, entweder den Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu entfernen oder die Menge an Sonnenlicht zu reduzieren, welches die Erde erreicht, oder gegenüber anderen direkt gegen die Erderwärmung gerichteten Strategien.
Innerhalb der herrschenden Klasse sind die Sprösslinge des Silicon Valley wohl die lauteste Gruppe beim Gerede von der Rettung der Umwelt und dem Erzeugen neuer Beschäftigungsformen. Sie stellen sich nicht als traditionelle Kapitalist*innen dar, die durch die Ausbeutung der Arbeit anderer Leute Profite einstreichen, sondern eher als noble Visionäre und Träumer, die nur ganz zufällig im privaten Sektor gelandet sind. Inwiefern, wenn überhaupt, wird in deinen Augen der Silicon Valley-Kapitalismus dazu in der Lage sein, die zentralen Herausforderungen für die Menschheit anzugehen? Oder ist es nichts weiter als Betrug?
Wirkliche Innovationen oder Großprojekte des Silicon Valley aufzuzeigen ist schwierig. Sicher sind Elektroautos nett und hier und da gibt es etwas Fortschritt, wie z.B. bei der Batterietechnologie. Zugleich sind einige Projekte eher lächerlich, wie Teslas «Hyperloop». Der darin enthaltene Vorschlag würde enorm viel Geld kosten, um dabei weniger zu erreichen, als wenn man ordentlich in die öffentliche Verkehrsinfrastruktur investieren würde. Darüber hinaus sind viele Produkte der «grünen» Unternehmen nur etwas zum Wohlfühlen, als ob etwas ökologisch Wertvolles getan wird, unabhängig von realen Auswirkungen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Vor Kurzem habe ich gesehen, dass es Start-Ups gibt, die behaupten, sie würden Nahrungsmittelverschwendung reduzieren, indem sie von anderen Händlern abgelehnte «hässliche» Produkte verkaufen. Doch es zeigt sich, dass sie Nahrungsmittel umleiten, die sonst an Tafeln gehen würden, wodurch sie von der Community gestützte lokale Landwirtschaftsprogramme unterlaufen, weil sie deren Preise unterbieten. Es ist ein ganz klassisches Beispiel dafür, das Gefühl von grünem Konsum zu verkaufen, ohne dass wirklich etwas dahintersteckt.
Von der Regierung geförderte Forschung lässt jedwede Forschung des privaten Sektors mickrig erscheinen und dort wird es auch weiterhin zu wirklichen Schritten kommen, auch wenn die privaten Unternehmen eine Rolle zu spielen haben. So hat uns die deutsche Regierungspolitik zu erneuerbarer Energie und die Unterstützung des chinesischen Staates seiner Solarindustrie, um der deutschen Nachfrage gerecht zu werden, einer grünen Zukunft konkret viel näher gebracht als alles, was Silicon Valley je hervorgebracht hat. Natürlich gibt es Probleme mit der chinesischen Konkurrenz und seinen Konsequenzen für die nationalen Produzent*innen in Deutschland. Doch der Punkt ist, dass es noch immer die Regierungen sind, nicht die privaten Kapitalist*innen, welche den Willen und die Fähigkeit gezeigt haben, Schritte in Richtung der Rettung des Planeten zu gehen.
Was ist mit individueller Freiheit? Angesichts der Größenordnung der Herausforderungen die sich uns stellen, kann man eventuell verstehen, warum die Bedeutung von individuellen Rechten heruntergespielt oder weniger betont wird. Welchen Stellenwert hat individuelle Freiheit in diesen Szenarien? Kann es eine kollektive Emanzipation geben ohne individuelle Freiheit?
Ich denke das hängt davon ab, was du mit individueller Freiheit meinst. Die in kapitalistischen Gesellschaften vorherrschende Ideologie definiert Freiheit auf eine ganz bestimmte individualisierte Art und Weise, welche zugleich bestimmte weitverbreitete Formen der Unfreiheit ignoriert. Der Politikwissenschaftler Corey Robin verweist darauf, dass ein großer Teil der Bevölkerung einen Großteil seiner Zeit in einem Umfeld verbringt, in dem er nur wenige individuelle Freiheiten besitzt: dem Arbeitsplatz. Nur wenn du Freiheit so verstehst, «frei» zu sein jeden Job anzunehmen der ein Überleben ermöglicht, gibt es einen Widerspruch zwischen erhöhter Freiheit und der Ausweitung sozialer Rechte.
In Bezug auf die Umwelt könnten einige Menschen eine hohe Benzinsteuer wohl als eine Einschränkung ihres individuellen Rechtes verstehen, ein großes, Benzin schluckendes Auto zu fahren. Doch wenn diese Steuereinnahmen dazu benutzt werden, um in öffentlichen Verkehr zu investieren, dann wird die Bewegungsfreiheit auf eine andere Art erhöht. Also auch wenn ich glaube, dass die Rechte der Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit für jede emanzipatorische Zukunft notwendig sind, denke ich zugleich, dass die größere Frage eher die nach sozialen Prioritäten ist und nach Wegen unser Leben zu organisieren, um eine umweltverträgliche Version dessen zu schaffen, was die Pariser Kommunarden «kommunalen Luxus» nannten, ein Ausdruck, der von Kristin Ross in ihrem kürzlich erschienenen Buch über die Kommune wiederbelebt wurde.
Nick Srnicek, Autor von Inventing the Future und Platform Capitalism, wird auf der Über:Morgen Konferenz unserer Stiftung sprechen, die sich auf mittelfristige Alternativen zum Kapitalismus konzentriert. Was denkst du über die Denkrichtung des «Akzelerationismus», mit dem er oft in Verbindung gebracht wird? Überschneidet sich das mit deinen eigenen Ideen?
Ab und zu mache ich den Witz, dass großartige Menschen wie Nick existieren, damit ich mich selbst als eine Art «softer Akzelerationist» positionieren kann, gegenüber ihrer härteren Variante. Ich teile die Vorliebe der Akzelerationist*innen für die Automatisierung notwendiger Arbeit, um so die Autonomie und Freizeit aller zu erhöhen. Dennoch neigt das akzelerationistische Argument in gewisser Hinsicht dazu, die von öffentlicher Kontrolle unabhängige Intensivierung des Kapitalismus zu akzeptieren – auch wenn dies weniger ein Problem bei Srnicek ist als bei anderen und er zweifelsohne nicht zu vergleichen ist mit dem menschenfeindlichen Extrem des rechten Akzelerationismus, den du bei Leuten wie Nick Land findest.
Doch ich denke, dass Slogans wie «fordert volle Automatisierung» manchmal einen falschen Schwerpunkt setzen, als ob sie die Kapitalist*innen dazu auffordern, bessere Kapitalist*innen zu sein. Ich argumentiere lieber, dass der Kampf für höhere Löhne und stärkere Arbeiter*innenorganisationen die Anreize dazu schafft, arbeitssparende Technologien zu erfinden und umzusetzen, was möglicherweise nicht passiert, wenn Arbeitgeber*innen Zugang zu einem großen Pool billiger, gefügiger menschlicher Arbeitskraft hat. Ich teile jedoch die akzelerationistische Perspektive, die insistiert, dass die Ersetzung menschlicher Arbeitskraft durch Maschinen von der Linken nicht einfach abgelehnt werden sollte. Sie sollte stattdessen darum kämpfen, dass die Vorteile der Automatisierung möglichst breit verteilt werden und dass die Technologie am Arbeitsplatz wirklich dem Zweck dient, die Arbeitsstunden zu reduzieren, und nicht zu stärkerer Kontrolle der Arbeit führt.
Was glaubst du ist angesichts des Zustands der Welt das Beste, worauf die heute lebenden Menschen politisch hoffen können? Slogans wie «vollautomatisierter Luxus-Kommunismus» machen sich vielleicht nett als provokante Zeitungsartikel, sind jedoch kaum ein wirklicher Fahrplan für die nächsten 20-30 Jahre. Wie sieht dein sozio-politischer Fahrplan aus?
Es scheint sehr nach einer aktualisierten Version der sozialistischen und sozialdemokratischen Organisationen auszusehen, welche den Wohlfahrtsstaat des 20. Jahrhunderts aufgebaut haben. Interessanterweise scheint es im Moment so, dass der größte Aufschwung in den historischen Nachzüglerstaaten vor sich geht, wie dem Vereinigten Königreich oder den USA. Während im Rest von Europa die alten sozialdemokratischen Parteien zerfallen und linke Alternativen wie die Die Linke nicht dazu in der Lage zu sein scheinen, sie zu ersetzen oder den Aufstieg der Rechten aufzuhalten.
Im Vereinigten Königreich gibt es Jeremy Corbyn und die die Labour Party übernehmende Bewegung um ihn herum. Natürlich haben wir in den USA Trump und in diesem Sinne sieht es düster aus. Doch zugleich gab es den überraschenden Erfolg der Bernie Sanders Kampagne und vor Kurzem schlug Alexandria Ocasio-Cortez unter dem Banner des demokratischen Sozialismus den mächtigsten Demokraten des Repräsentantenhauses. Linke Politik ist sehr beliebt – allgemeine Gesundheitsversorgung unter dem Label «Medicare für Alle» ist in nur ein paar Jahren außerordentlich populär geworden.
Ich für meinen Teil bin aktiv in der lokalen Gruppe der Democratic Socialists of America und unsere tagtägliche Arbeit schließt Werbung für allgemeine Gesundheitsversorgung ein, oder für von uns unterstützte lokale linke Kandidat*innen. Doch es heißt auch, sich über die kommunale Wohnpolitik des Roten Wiens oder gar die Pariser Kommune zu belesen und sie zu diskutieren, sodass wir ebenso eine langfristige Vision entwickeln.
In dieselbe Richtung gefragt: glaubst du, dass die Linke eine Verantwortung dafür hat, Leitbilder für die Zukunft zu liefern – utopische Visionen davon, wie es morgen aussehen könnte? Oder sollten wir uns nur darauf konzentrieren, die kommende globale Katastrophe zu verhindern und uns um den Rest später Sorgen machen? Was sind die unmittelbaren Schritte, die Sozialist*innen und sozialistische Organisationen vollziehen sollten?
Wir brauchen keine «Rezepte für die Garküche der Zukunft», wie Marx sie herablassend bezeichnet hat, noch können wir sie wirklich kreieren. D.h. es ist unmöglich, im Voraus eine exakte, detaillierte Blaupause für die zukünftige Gesellschaft zu erzeugen, weil eine neue Gesellschaft von der Bewegung selbst demokratisch und kollektiv erschaffen werden muss.
Aber ich glaube nicht, dass man eine wirklich ambitionierte Massenbewegung aufbauen kann, die das Ziel hat die Gesellschaft radikal zu transformieren – und das ist es, was wir brauchen – wenn man sich nur darauf konzentriert, die Katastrophe abzuwenden. Während ihrer Höhepunkte boten die sozialistischen und kommunistischen Bewegungen den Arbeiter*innen nicht nur eine Antwort auf Armut und Ausbeutung, sondern auch eine mögliche Vision einer emanzipierten Gesellschaft und Wirtschaft, die von den Arbeiter*innen kontrolliert wird. Und das ist umso wichtiger, wenn ein Großteil der tagtäglichen Arbeit der sozialistischen Politik nicht sonderlich utopisch oder radikal anmutet.
In den USA, wo ich lebe, liegt der Fokus der alltäglichen Arbeit auf Dingen wie garantierter Zugang zu kostenloser Gesundheitsversorgung und Bildung, und darauf liberale Politiker*innen dazu zu bringen, kein Geld mehr von den Profiteuren fossiler Brennstoffe anzunehmen. Damit Menschen weiter entschlossen und motiviert bleiben, muss man diese Reformen innerhalb einer größeren Vision situieren, die auf die Entkommodifizierung der Arbeit und eine vollständig kohlenstofffreie Wirtschaft abzielt. Das ist notwendig, damit Menschen nicht ausbrennen oder aufgeben. Ich sehe meine Arbeit als einen Beitrag dafür, gemeinsam mit den Theoretiker*innen und den Künstler*innen die mich inspiriert haben.
Peter Frase ist Redakteur bei Jacobin Magazine und Autor von Four Futures (Verso, 2016). Er ist außerdem stellvertretender Vorsitzender der Hudson Valley-Ortsgruppe der Democratic Socialists of America.
Das Interview wurde von Loren Balhorn für die Rosa-Luxemburg-Stiftung geführt. Übersetzung von Johannes Liess.