Nachricht | Partizipation / Bürgerrechte - Staat / Demokratie - G20 Mehr Überwachung bringt nicht mehr Sicherheit

Neue Gesetze erweitern die Handlungsspielräume der Polizei in den Bundesländern

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Bayrische Polizisten beim G20-Gipfel in Hamburg 2017 CC BY-ND 2.0, Konrad Lembcke

Alle Bundesländer sind derzeit verpflichtet, ihre Polizeigesetze an europäische Datenschutzvorgaben und an ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum BKA-Gesetz anzupassen. Unter dem Deckmantel einer angespannten Terror- und Gefährdungslage nutzen die Innenminister die notwendige Gesetzesänderung, um gleichzeitig die Handlungsspielräume der Polizei massiv auszuweiten, die Abgrenzung zu Geheimdiensten aufzuweichen und Freiheitsrechte einzuschränken.

Wir sprachen mit dem Rechtswissenschaftler und Kriminologen Prof. Dr. Tobias Singelnstein über den Wunsch der Bürger nach mehr Sicherheit, föderalen Wildwuchs und die Ausweitung polizeilicher Befugnisse.


Regierende und Medien konstatieren seit dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz im Dezember 2016 ein wachsendes Unbehagen der Bürger*innen und den Wunsch nach mehr Sicherheit. Wie sicher ist Deutschland?

Tobias Singelnstein: Im Hinblick auf Kriminalität und vergleichbare Bedrohungslagen ist Deutschland ein sehr sicheres Land. Die Gesamtzahl der in der Polizeilichen Kriminalstatistik registrierten Straftaten war in der jüngeren Vergangenheit recht konstant und zuletzt sogar rückläufig. Historisch betrachtet leben wir bezüglich Kriminalität in einer der sichersten Gesellschaften, die wir kennen. In der kriminalpolitischen und sicherheitspolitischen Debatte ist vor diesem Hintergrund in der jüngeren Vergangenheit das subjektive Sicherheitsempfinden in der Bevölkerung immer stärker betont worden. Allerdings ist es auch hier so, dass sich beispielsweise die Kriminalitätsfurcht auf einem relativ konstanten Niveau entwickelt und nicht zu den dominierenden Ängsten der Deutschen gehört, sondern vielmehr auf den hinteren Rängen rangiert. Etwas anders sieht es bei islamistischem Terrorismus aus, der offenbar als diffuse Bedrohung empfunden wird.


Das subjektive Sicherheitsgefühl steht oft der objektiven Sicherheitslage gegenüber. Hilft dagegen eine schärfere Polizeigesetzgebung?

Tobias Singelnstein: Das muss man verneinen. Schon objektiv ist zweifelhaft, ob die zu beobachtenden Ausweitungen der sicherheitsbehördlichen Befugnisse tatsächlich zu mehr Sicherheit führen. Schließlich waren in der Vergangenheit im Bereich des Terrorismus nicht fehlende Befugnisse, sondern Fehler in der Arbeit der Behörden das eigentliche Problem bei der Verhinderung von Anschlägen. Außerdem haben subjektive und objektive Ebene nicht unbedingt viel miteinander zu tun, sondern speist sich das subjektive Unsicherheitsempfinden vorrangig aus anderen Quellen. Neben der oft undifferenzierten Debatte in Medien und Politik wird in der Kriminologie etwa diskutiert, inwiefern mangelndes Sicherheitsempfinden bezüglich Kriminalität Ausdruck und Projektion allgemeiner gesellschaftlicher Unsicherheitserfahrungen ist. In Zeiten neoliberaler Verunsicherung, Individualisierung und Flexibilisierung sind der Schutz vor und die Abwehr von Kriminalität Bereiche, in denen sich noch ein gewisses Maß an Sicherheitsgefühl erringen lässt und Sicherheit also dort gesucht wird.


Die Arbeit der Polizei liegt in der Zuständigkeit der Länder. Die Innenministerkonferenz der Länder hat unlängst die Erarbeitung eines Muster-Polizeigesetzes beschlossen, bislang ohne Konsequenzen. 16 Bundesländer – 16 Polizeigesetze: Was läuft falsch in der deutschen Sicherheitspolitik?

Tobias Singelnstein: In der föderalen Ordnung der Bundesrepublik ist Polizei Ländersache – aus gutem Grund. Dies bringt es mit sich, dass die Länder jeweils eigene rechtliche Regelung für die Tätigkeit ihrer Polizei schaffen. Allerdings ähneln sich Struktur und Form der verschiedenen Polizeigesetze ohnehin bereits sehr stark. Die Schaffung eines Muster-Polizeigesetzes könnte zu einer noch weitergehenden Vereinheitlichung führen. Wie bei allen rechtlichen und institutionellen Begrenzungen sicherheitsbehördlicher Tätigkeit kommt es auch durch die föderale Organisation der Polizei zu Reibungsverlusten und Mehraufwand. Das liegt in der Natur der rechtlichen Einhegung exekutiver Tätigkeit und ist gerade ihr Zweck.


Ausweitung der Schleierfahndung, Online-Durchsuchungen, Personenkontrollen ohne konkreten Anlass, Verlängerung des Polizeigewahrsams – die neue Begehrlichkeit der Polizei kennt keine Grenzen. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Tobias Singelnstein: Wir sehen derzeit in der Tat eine hochproblematische und stark umstrittene Welle von Reformen der Polizeigesetze in den Ländern. Ausgangspunkt dessen ist das polizeiliche Bedürfnis, angesichts möglicher Anschläge aus dem Bereich des islamistischen Terrorismus, bereits im Vorfeld tätig werden und einschreiten zu können, um solche Anschläge nach Möglichkeit zu verhindern. Dies ist aber zum einen notwendig mit einer Vorverlagerung polizeilichen Eingriffshandelns verbunden, das somit rechtlich weniger begrenzt und eingehegt ist. Zum anderen gehen die neu geschaffenen bzw. vorgeschlagenen Regelungen in den Polizeigesetzen häufig weit über den Bereich des Terrorismus hinaus.

Im Wesentlichen sind bei den Reformen der Polizeigesetze drei grundlegende Entwicklungen zu beobachten: Erstens ein Ausbau vor allem heimlicher Überwachungsmöglichkeiten. Zweitens – und das ist besonders zentral – eine erhebliche Vorverlagerung polizeilicher Eingriffsbefugnisse, die nun teilweise schon bei einer nur «drohenden Gefahr» eingreifen. Und drittens eine veränderte Ausstattung der Polizei, teilweise auch mit militärischen Mitteln.


Schon heute gibt es Beispiele dafür, dass legitime Proteste unter fadenscheinigen Begründungen behindert und Teilnehmer*innen schikaniert werden. So wurden beim G-20-Gipfel in Hamburg Demonstranten in Gefangenensammelstellen rechtswidrig festgehalten. Kritiker befürchten, dass es nicht nur um die Bekämpfung des Terrors sondern auch um die Vorbereitung auf künftige soziale Auseinandersetzungen geht. Teilen Sie diese Befürchtung?

Tobias Singelnstein: Wie bereits gesagt beschränken sich die neuen bzw. geplanten Befugnisse häufig nicht auf den Bereich des Terrorismus und werden von der Polizei daher auch darüber hinaus eingesetzt werden.


In Bayern protestierten Zehntausende gegen Staatstrojaner und Schleierfahndung. 100.000 Menschen hatten eine Petition gegen die Einschränkung der Freiheitsrechte im Rahmen der neuen Gesetzgebung unterschrieben – ohne Erfolg. Wie bewerten Sie verfassungsrechtliche Relevanz, gerade des Bayerischen Gesetzes?

Tobias Singelnstein: Die neuen Polizeigesetze werden mit Sicherheit vor dem Bundesverfassungsgericht landen. Es darf mit Spannung erwartet werden, wie das Gericht die aus verfassungsrechtlicher Sicht hochproblematischen Fragen bewertet.

 

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