Nur kurz hielt die Schockstarre an. Nach dem Wahlsieg von Jair Bolsonaro, der Brasiliens Linke in einen Zustand der Trauer und Panik versetzt hatte, wächst der Widerstand gegen den zukünftigen rechtsradikalen Präsidenten. In ganz Brasilien sind am Dienstag Zehntausende auf die Straße gegangen. Auch an mehreren Universitäten kam es zu Protesten gegen Anhänger*innen von Bolsonaro, die dort Wahlpartys veranstalten wollten. Über soziale Netzwerke organisieren sich Brasilianer*innen. Die Angst ist groß, denn: Bolsonaro stellt mit seinen rassistischen, homophoben, sexistischen und antidemokratischen Gewaltphantasien eine große Gefahr für alle dar, die nicht in sein reaktionäres Weltbild passen.
Die größte Demonstration fand am Dienstag in São Paulo statt. Schon lange vor dem offiziellen Start versammelten sich Tausende auf der Prachtmeile Avenida Paulista. Soziale Bewegungen und linke Parteien hatten zu dem Protest aufgerufen. Zwei Tage zuvor hatten hier noch die Anhänger*innen Bolsonaros den Wahlsieg gefeiert. Auch Rafael Granutti ist zusammen mit seinen Freund*innen gekommen, um ein Zeichen zu setzen. «Wir haben große Angst vor dem, was auf uns zukommt. Jetzt ist es wichtig zu zeigen, dass wir vereint sind.» Schon seit 2010 habe er sich immer wieder an Protesten gegen Rechts beteiligt.
Insbesondere Bolsonaros homo- und transphobe Aussagen schockierten den 25-jährigen LGBTI-Aktivisten, der sich eine Regenbogenfahne über die Schultern gehängt hat. Das Klima habe sich seit der Wahl verändert. Insbesondere in den sozialen Netzwerken tobe der Hass. Aber nicht nur dort: Eine Freundin sei mitten in São Paulo angegriffen worden. Auch andernorts kam es nach der Wahl zu Übergriffen. So wurden eine indigene Schule und eine Arztpraxis im Bundesstaat Pernambuco in der Wahlnacht in Brand gesetzt. Die Polizei des Bundesstaates Goiás ermittelt wegen der Gründung einer homophoben Terrorgruppe, die zum Mord an Homo- und Transsexuellen aufgerufen hat.
Und Bolsonaro? Der heizt die Stimmung weiter an. Von Mäßigung nach seinem Wahlsieg ist nichts zu spüren. Im Fernsehen bekräftigte er sein Vorhaben, soziale Bewegungen als terroristische Vereinigungen einstufen zu lassen und politische Gegner*innen aus dem Land zu werfen. Carina Vitral, Präsidentin der Jugendorganisation der kommunistischen PCdoB, sagt: «Wir lassen uns nicht aus dem Land werfen und uns auch nicht verhaften. Bolsonaro wird mit einer starken Opposition zu rechnen haben.» Doch auch sie habe Angst, über Sicherheit werde nun viel diskutiert.
Die beste Art, sicher zu sein, ist sichtbar zu sein. Deshalb sind wir heute auf der Straße.
Neben seinen ultrareaktionären Positionen hat Bolsonaro auch noch einmal seine neoliberalen Forderungen bekräftigt. Zusammen mit seinem zukünftigen Wirtschafts- und Finanzminister, dem Chicago Boy Paulo Guedes, will er die neoliberale Kahlschlagpolitik des derzeitigen Präsidenten, Michel Temer, fortführen - und sogar noch weitergehen: Über eine umstrittene Rentenreform, die Temer nicht durchbringen konnte und deren massive Einschnitte insbesondere die arme Bevölkerung in Bedrängnis bringen wird, soll so bald wie möglich abgestimmt werden.
Auch will Bolsonaro rasch eine umweltpolitische 180-Grad-Wende einleiten. Der Rechtsaußenpolitiker, der im Wahlkampf angekündigt hatte, «keinen weiteren Zentimeter» für indigene Territorien auszuweisen, den Amazonas weiter abzuholzen und Greenpeace aus dem Land zu werfen, hat nach der Wahl seine Pläne bekräftigt, das Umweltministerium mit dem Agrarministerium zusammenzulegen, wo Agrarlobbyist*innen den Ton angeben. Aktivist*innen befürchten an massive Zunahme von Landkonflikten und Gewalt. Zur Erinnerung: Brasilien ist bereits jetzt weltweit das tödlichste Land für Umweltaktivist*innen.
Er wird versuchen, uns abzuschalten.
In einem seiner ersten Interviews nach der Wahl hat Bolsonaro auch erneut offen Medienvertreter*innen gedroht und erklärt, der zweitgrößten Tageszeitung «Folha de São Paulo» die Mittel zu streichen. Für den Fotojournalisten Anderson Viera, der den Protest in São Paulo mit der Kamera begleitet, stellt Bolsonaro eine «große Gefahr» dar. «Er wird versuchen, uns abzuschalten. Wir müssen sehr wachsam sein», sagte der 29-Jährige am Rande der Demonstration, die im Laufe des Abends auf 50.000 Teilnehmer*innen anwächst. Beim Protest, der durch die Hochhausschluchten der Megametropole führte, wurden immer wieder Parolen gegen den Präsidenten skandiert. Viele Bewohner*innen solidarisierten sich spontan mit den Demonstrant*innen. An diesem Abend wurde deutlich: Bolsonaro ist eine Katastrophe, aber viele Brasilianer*innen sind mit seinem Wahlsieg unzufrieden - und der Widerstand lebt.
Niklas Franzen arbeitet als Journalist bei der Tageszeitung neues deutschland.