Sebastian Wertmüller ist Verdi-Geschäftsführer für den Bezirk Südostniedersachsen. Das Interview führte Susanne Knütter.
Vom 15. bis 17. Februar 2019 findet in Braunschweig die vierte Streikkonferenz statt. Sie wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und einzelnen Bezirken einiger DGB-Gewerkschaften organisiert. Im Zentrum steht das Thema «Gewerkschaftliche Erneuerung».
Was ist das Neue an den »neuen Strategien der Gegenwehr«, die auf der Konferenz ausgewertet werden sollen?
Auch bei den bisherigen Konferenzen ging es um Selbstorganisation, um kämpferische Auseinandersetzung mit hoher Beteiligung. Insofern ist die Thematik nicht neu. Der Unterschied ist jetzt, dass die Vorzeichen andere sind. Das heißt, wir müssen reflektieren, was sich in den letzten zwei, drei Jahren gesellschaftlich getan hat. Stichwort: Rechtsextremismus. Es geht darum, im größeren Kontext über gewerkschaftliche Erneuerung statt nur über betriebliche Aktivitäten zu diskutieren.
Was ist unter den gewerkschaftlichen Erneuerungsstrategien zu verstehen?
Der Grundgedanke ist, aktiv für die eigenen Interessen einzutreten. Nicht die Organisation führt qua Beschluss Bewegung herbei. Statt dessen werden Aktivitäten im Betrieb angezettelt. Dadurch erhöhen wir die Identifikation mit den gewerkschaftlichen Forderungen. Und durch mehr Einbindung der betrieblich Aktiven erhöhen wir die Organisationsmacht, dadurch den politischen Druck und letztlich auch die Chancen auf gute Ergebnisse.
Und wie genau erhöht man die Beteiligung von Mitgliedern?
Ein Beispiel ist die Uniklinik Göttingen, UMG. Dort wurden vor Jahren Leistungen wie die Gastronomie, die Reinigung und der Transport in Tochtergesellschaften ausgegliedert. Die Beschäftigten verdienten daraufhin bis zu 40 Prozent unter dem Niveau des zuvor geltenden Tarifvertrags deutscher Länder, TDL.
Wir haben erst ganz gezielt die Gastronomietochter organisiert und Beschäftigte direkt auf diese Lohnentwicklung angesprochen. Dadurch wurden Tarifverhandlungen und Warnstreiks möglich, womit wir eine schrittweise Annäherung an den TDL durchsetzen konnten. Das gleiche findet zur Zeit im Bereich der anderen Tochtergesellschaft für die Reinigung statt.
Das ist deshalb erfolgreich, weil die Beschäftigten nicht im Rahmen einer allgemeinen Tarifrunde angesprochen werden, sondern konkret anhand ihrer eigenen Lage im Betrieb.
Hier tut sich ein altes Dilemma auf. Einerseits verteidigen Gewerkschaften Flächentarifverträge. Andererseits sind die Beschäftigten aber anscheinend eher in konkreten Kämpfen, die ihren Betrieb betreffen, zu mobilisieren. Lässt das die Schlussfolgerung zu, verstärkt auf den Kampf um Haustarifverträge zu setzen?
Das beißt sich manchmal. Der Grad der Betroffenheit ist natürlich größer, wenn Leute die Tarifbindung bereits verloren haben, wie z. B. im Falle der Tochtergesellschaften der Göttinger Uniklinik. Strategien für die Organisation von Beschäftigten greifen besser in konkreten betrieblichen Auseinandersetzungen. Und je weiter weg der betriebliche Bezug ist, wie z. B. im Falle eines Bundestarifvertrags, desto schwieriger wird es. Über Jahre hinweg haben viele Beschäftigte sich daran gewöhnt, dass bei der Tarifrunde irgendwie immer eine Lohnerhöhung herauskommt. Das verlockt nicht zur Eigeninitiative.
Während es bei einer direkten Auseinandersetzung im Betrieb auf jeden einzelnen ankommt.
Genau. In der Auseinandersetzung um den besagten Gastronomiebereich haben die Beschäftigten gemerkt: Wenn es nicht gelingt, den Betrieb in der Cafeteria einzustellen, ist der Kampf nicht erfolgreich. Dabei kommt es letztlich auf jede Kollegin und jeden Kollegen an.
Sogenannte Organizingansätze sind mittlerweile ein gewisser Standard. Wir setzen uns mit Ansprachekonzepten auseinander, sehen uns die Betriebsstruktur genau an, überlegen, wo man Beschäftigte ansprechen und die tragenden Aktiven stärken kann.
So sind wir z. B. im Falle einer mittelständischen Druckerei mit 300 Beschäftigten in Herzberg vorgegangen. Die Geschäftsführung hatte Tarifflucht begangen, verwehrte Verbesserungen bei der Schichtarbeit und schikanierte die Betriebsratsvorsitzende. Das nahmen wir als Aufhänger für die Mobilisierung und betrieben gezielte Aufbauarbeit, bis wir in die Auseinandersetzung um einen Tarifvertrag gehen konnten.
Sind die doch eher offensiven Organizingmethoden auch im Falle von Betriebsschließungen denkbar?
Prinzipiell schon, weil die Mobilisierbarkeit der Belegschaft in diesen Fällen ohnehin größer ist. Aber es gibt eine ernüchternde Erfahrung: Wenn der Unternehmer schließen will, dann schließt er. So hart ist Kapitalismus. Da kann man nur Abwehrkämpfe führen, um die Kosten für den »Arbeitgeber« so hoch wie möglich zu treiben.
Sind nicht alle gegenwärtigen Kämpfe Abwehrkämpfe? Die Beschäftigten wehren sich, weil es so, wie es ist, nicht weitergehen kann.
Ich würde differenzieren. Wegen der Arbeitsmarktlage ist die Situation von Beschäftigten besser als vor fünf oder zehn Jahren. Das erhöht ihre Chance, Forderungen durchzusetzen. Im Falle des Kampfes in der Druckerei mussten die Beschäftigten sich nicht gegen zukünftige Bedrohungen wehren, sondern erkämpften die Verbesserung ihrer aktuellen Arbeitssituation. Abwehrkämpfe würde ich beispielsweise bei der Handelskette Real sehen. Hier geht es darum, zu verhindern, dass immer mehr Beschäftigte in das besonders schlecht bezahlte Dienstleistungsprekariat abgedrängt werden.
In der Ankündigung der Konferenz zur gewerkschaftlichen Erneuerung heißt es, Gewerkschaften sollen politischer werden. Wie geht das?
Es geht nicht bloß darum, Mitglieder zu gewinnen und Tarifauseinandersetzungen zu führen, sondern darum, Gewerkschaft als gesellschaftliche Kraft wieder zu stärken; zum Beispiel in der Auseinandersetzung um das neue niedersächsische Polizeigesetz. Es ging viel Zeit ins Land, bis sich Verdi und IG Metall kritisch dazu geäußert haben. Aber es war möglich.
Gewerkschaften müssen sich öfter in öffentlichen Belangen positionieren. Ein Beispiel ist die Wohnungsfrage. Es genügt ja nicht, wenn man einen vernünftigen Tarifvertrag ausgehandelt hat, der ein paar Prozent mehr Lohn bedeutet. Gleichzeitig steigen aber die Mieten in einem solchen Tempo, dass von der Gehaltserhöhung nichts übrig bleibt.
Was wäre die ideale Gewerkschaftsarbeit für Sie?
Ich verstehe Gewerkschaftsarbeit als politische Arbeit. Nicht in dem Sinne, dass man immer die rote Fahne schwenken und zum Streik aufrufen muss. Aus meinem Verständnis heraus ist Gewerkschaftsarbeit mehr als Mitgliedergewinnung, Tarifarbeit oder Betriebsbetreuung.
Wir sind für den Teil der Menschen in diesem Lande zuständig, der nicht zu den Vermögenden gehört, sondern auf der anderen Seite steht. Die Debatten von früher müssen weiter geführt werden. Wie ist es denn um die Verteilung in unserem Land bestellt?
Das hängt ja zusammen. Der Reichtum ist auch deshalb so konzentriert, weil den abhängigen Lohnarbeitern vergleichsweise wenig zugestanden wird.
Das ist ein Ausdruck der Schwäche der Lohnabhängigen in ihrer Gesamtheit. Sie waren in den letzten Jahrzehnten nicht in der Lage, den Teil des Kuchens zu holen, der ihnen zusteht.
Es geht immer nur um ein Stück?
Zumindest in unserer Programmatik reden wir nicht über die Bäckerei.
Wäre es nicht auch einmal an der Zeit, angesichts der Vermögensverteilung die Eigentumsfrage zu stellen?
Es reicht aktuell schon, wenn man die Verteilungsfrage stellt. Meine Vision ist eine andere. Aber die radikale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse war in der Einheitsgewerkschaft nicht das erste Ziel.
Was braucht es dann über die Gewerkschaften hinaus? Politische Parteien?
Politische Bewegungen, die emanzipatorisch sind. Es gibt auch Bewegungen, die mir Angst machen, und die sind derzeit leider sehr stark. Emanzipatorische Bewegungen drücken sich meines Erachtens darin aus, dass Menschen sich ihrer eigenen Zukunft bemächtigen. Da kann die Verteilungsfrage eine Rolle spielen, aber auch die Umwelt- oder die Friedensfrage. Das sind emanzipatorische Kämpfe und die Gewerkschaften würde ich gern als Teil davon sehen.
Das Interview erschien in der jungeWelt Sonderbeilage «Gewerkschaften» vom 24.10.2018.