Das Ziel des und die Sehnsucht nach dem Neuen Menschen wird landläufig – nicht zu Unrecht – in erster Linie mit marxistischen und kommunistischen Debatten und Entwicklungen in Verbindung gebracht. Dass diese Fokussierung dem vielfältigen Gesamtbild nicht gerecht wird, macht der vorliegende, auf eine Tagung in Wien 2017 zurückgehende Sammelband deutlich. Vor dem Hintergrund der Novemberrevolution 1918 werden in vierzehn Beiträgen, nebst einer orientierungsgebenden Einleitung durch die Herausgeber, heute weitestgehend vergessene oder völlig an den Rand der (wissenschaftlichen) Aufmerksamkeit gedrängte Zugänge und Perspektiven zu dieser Thematik ans Tageslicht gebracht.
Das thematische Spektrum reicht von Ferdinand Tönnies (Alexander Wierzock) über den Neukantianismus (Karl-Heinz Lembeck, sowie Albert Dikovich über Paul Natorps Sozialidealismus), Rudolf Goldscheid (Katharina Neef) bis hin zum ungarischen Aktivismus (Annamária Biró; insgesamt sprachlich wie inhaltlich, da es an einer klaren Systematik fehlt, der schwächste Beitrag) und den Überlegungen (heute) unbekannter Persönlichkeiten wie Paul Kammerer (Christoffer Leber), Rudolf Orten (Sebastian Schäfer) und Eugen Rosenstock-Huessey (Michael Gormann-Thelen).
Besonders gelungen, da erkenntnisfördernd und lückenfüllend, sind die Beiträge von Detlef Siegfried über den Kieler Rätekommunisten Adolf Dethmann, Clemens Reichholds‘ Ausführungen über den Zusammenhang von Romantik und Revolution im Werk von Walther Rathenau sowie Verenas Wirtz‘ Artikel über die Ethik und Ästhetik revolutionärer Politik um 1918, wobei vor allem auf Ernst Toller fokussiert wird. Aufschlussreich ist auch die Rekonstruktion der gehässigen Kritik Max Webers‘ an der Münchener Räterepublik und deren wichtigster Akteure durch Christian Marty. Hier spielt vor allem Webers Persönlichkeitsideal eine wichtige Rolle, in dem es um menschliche Größe geht.
Dass Forschungslücken verbleiben, die auch dieser Band nicht schließt (insbesondere über die politische Teilnahme der Frauen sowie außereuropäische Perspektiven), wird von den Herausgebern offen ausgesprochen. Zu begrüßen wäre die forcierte Weiterforschung in diese Richtungen, am besten wohl über den Weg einer weiteren Tagung.
Sprachlich wie inhaltlich und konzeptionell ist der in der Reihe Weimarer Schriften zur Republik erschienene Band weitestgehend gelungen. Systematisch unklar bleibt, weshalb es im Untertitel das Imaginäre benötigt; nur gelegentlich wird hierauf wieder Bezug genommen. Es ist den Beteiligten zu wünschen, dass die hier zusammengetragenen Forschungsergebnisse und -perspektiven auf Resonanz stoßen und die aktuellen Reflektionen und Forschungen über die Novemberrevolution, den gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Forderungen bereichern – das hier vorgelegte Material bietet mehr als genügend inspirierende Anknüpfungspunkte.
Albert Dikovich, Alexander Wierzock (Hrsg.): Von der Revolution zum Neuen Menschen. Das politische Imaginäre in Mitteleuropa 1918/19: Philosophie, Humanwissenschaften und Literatur, Franz Steiner Verlag 2018, 49 EUR