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Ein Interview mit dem syrischen Filmemacher Saeed Al-Batal

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Saeed Al-Batal in Duma
Saeed Al-Batal in Duma Foto: Sam Lenses

Die Dokumentation «Still Recording» (2018) erzählt über eine Zeitspanne von vier Jahren vom täglichen Überlebenskampf im syrischen Ost-Ghouta. Ein Interview mit Saeed Al-Batal, einem der Regisseure des Films, über Kunst in Zeiten des Widerstandes und warum die Situation in Syrien uns alle angeht.

Von Anna-Theresa Bachmann.
 

Saeed, um deine Familie in Syrien zu schützen, verwendest du das Synonym «Al-Batal» – der Held – anstelle deines richtigen Nachnamens. Inwieweit hat dich das vierjährige Filmen in den Kriegswirren Ost-Ghoutas selbst zu einem Helden gemacht?

Saeed Al-Batal war der Name meines Onkels mütterlicherseits, der Teil der palästinensischen Revolution in den 1960er Jahren war und Mitte der 1970er Jahre erschossen wurde. Als ich 2011 anfing Artikel zu schreiben, habe ich seinen Namen übernommen. Allerdings halte ich nichts von der Heroisierung einzelner Personen. Ich glaube an die kollektive, heldenhafte Tat …

… wie sie etwa der zivile Protest gegen den syrischen Präsidenten Bashar Al-Assad im Jahr 2011 darstellte?

Die Menschen waren mutig. Ich würde es jedoch nicht als heldenhaft bezeichnen, wenn man sich für Menschenrechte einsetzt. Vielmehr zeigt ein solches Aufbegehren, dass man noch am Leben ist. Ich verstehe, wenn Menschen Angst haben und sich vor dem Regime fürchten. Die syrischen Machthaber haben die Öffentlichkeit für Jahrzehnte mundtot gemacht. Dann kam der «Arabische Frühling» und hat diese Angst in ihr Gegenteil verkehrt: Die Bevölkerung sollte sich nicht vor ihrer Regierung fürchten. Es ist die Regierung, die vor ihrer Bevölkerung Angst haben sollte.

In einer Szene des Films wirst du von einem ausländischen Reporter interviewt. Du sagst ihm, dass du keine Waffen mit dir herumträgst, sondern nur eine Kamera. Sie selbst sei eine Art Waffe. Wie meinst du das?

Ich bin davon überzeugt, dass die erste Waffe des «Arabischen Frühlings» die Kamera war. Sie kam nicht nur gegen das syrische Regime zum Einsatz, sondern auch gegen andere Diktatoren. Das Regime hat die Medien und seine Bevölkerung für fast 40 Jahre kontrolliert. Deswegen hat al-Assad gezielt Jagd auf Menschen mit Kameras gemacht, noch ehe er sich die Protestierenden selbst vorgenommen hat. Wenn du mit einer Kamera erwischt wurdest, dann konntest du dich auf harte Folter gefasst machen, härter als die der anderen Gefangenen.

Du wurdest selbst für 20 Tage inhaftiert, nachdem du an der ersten Demonstration in Duma im März 2011 teilgenommen und die Ereignisse gefilmt hattest. Offensichtlich hat dich die Haft nicht vom Weitermachen abgehalten. Hat sich deine Arbeitsweise durch die Gefangenschaft trotzdem in irgendeiner Weise verändert? 

Im Zeitraum von 2011 bis 2012 haben die Menschen sich gegenseitig sehr misstraut. Alle hatten Angst, dass jemand für das Regime und den Geheimdienst arbeiten könnte. Die Haft kam mir zugute, weil mir die Menschen danach mehr Vertrauen geschenkt haben, besonders die Revolutionäre. Somit konnte ich ab April 2011 mit den Jugendlichen in Duma arbeiten und Demonstrationen mit ihnen organisieren, die wir filmten und das Material dann im Internet verbreiteten. Ich habe nicht aufgehört, zu filmen, bis ich Syrien im August 2015 verlassen habe.

Hast du dich manchmal gefragt, ob du dem Ganzen gewachsen bist? Zum Beispiel als das Regime 2012 ein Massaker an der Zivilbevölkerung Dumas verübte, wie es in der Dokumentation zu sehen ist?

Durch das Massaker habe ich die Kamera das erste Mal als Schutzschild betrachtet, das mich von den schrecklichen Bildern vor meinen Augen abschirmt. Die Kamera hat mich vor der schlimmsten aller Fragen bewahrt: Was kann ich im Angesicht des Todes überhaupt tun? Seit diesem Tag hat mich die Kamera davor bewahrt, innerlich an all der Gewalt und all dem Blut zu zerbrechen.

Warum wolltest du die Rebellen in Ost-Ghouta ursprünglich filmen?

Zuerst hatte ich die Demonstrationen gefilmt und die Videos als direkte Reaktion auf die Entwicklungen in Syrien ins Internet gestellt. Als die Rebellen im Anschluss an das Massaker des Regimes nach Duma aufbrachen, hatte ich sie bereits seit zwei Jahren begleitet. Wir dachten damals, dass nach Ost-Ghouta auch die Nachbarschaft Jobar und schließlich Damaskus befreit werden könnten. Einer unserer Kameramänner starb während der Befreiung Dumas. Trotzdem glaubten wir vor allem im ersten Jahr daran, dass wir es bis vor die Tore des Präsidentenpalastes im Damaszener Stadtteil Mezzeh schaffen würden. Ich wollte also einen Film über die Befreiung der Stadt machen. Aber dieser Film konnte nie beendet werden, bis der militärische Widerstand gegen das Regime letzten Endes zusammenbrach.

Wo sind die anderen Mitglieder des Filmteams mittlerweile?

Nachdem ich Syrien im August 2015 verließ, hat das Team noch bis zur Evakuierung der Stadt weitergefilmt. Niemand von uns ist heute noch in Ost-Ghouta. Zwei sind in Idlib, drei sind in der Türkei, eine Person ist im Libanon und ich bin in Europa. Wir filmen fast alle immer noch. Es ist zur Gewohnheit geworden, ein Grund um am Leben zu bleiben. Auch deswegen haben wir den Film «Still Recording» genannt. Denn wir sind buchstäblich immer noch dabei zu filmen.

«Still Recording» erzählt die Belagerung Ost-Ghoutas bis zum Jahr 2015. Dabei sind 450 Stunden Material zusammengekommen. Wie legt man sich da auf einzelne Szenen fest?

Das war ein langer und sehr zermürbender Prozess. Ich und Ghiath Ayoub, der andere Regisseur, waren uns darüber im Klaren, dass 450 Stunden Material viel Stoff für verschiedene Arten der Propaganda liefern. Wer kontrolliert das Recht am Bild? Wer hat das Recht zu erzählen, was wirklich passiert ist? Diese ethischen Fragen haben uns umgetrieben. Anschließend haben wir alle Szenen bearbeitet. Mit dem Resultat, dass die erste Fassung 26 Stunden lang war. Die Zweite hatte zehn, die Dritte sieben Stunden. Danach haben wir Stück für Stück Szenen gelöscht, die sich ähnlich waren. Insgesamt haben wir zwei Jahre im Schnittraum verbracht, ehe wir eine zweistündige Fassung zustande gebracht haben. Uns war bewusst, dass diese Methode viel Zeit kosten würde. Aber sie schien uns die beste Methode zu sein, verantwortlich mit dem Material umzugehen.  

Inwieweit stellen die vielschichtigen Szenen der Dokumentation unser bestehendes Bild vom Leben im Kriegsgebiet in Frage?

Meistens beschränkt sich ein Film über Syrien auf einen oder zwei Erzählstränge. Alles andere wird gelöscht, um die Geschichte klarer erzählen zu können. Mit unserem Film wollten wir aber jegliche Stereotype in Frage stellen. Selbst wenn du jemand bist, der sein ganzes Leben in Ost-Ghouta verbracht hat, wirst du im Film Szenen entdecken, die dich überraschen, vielleicht sogar verärgern. Realität bedeutet Chaos. Und wir wollten ein realistisches Bild zeichnen. In sieben Jahren Belagerung hat sich das Leben in Ost-Ghouta nicht nur um den Krieg gedreht. In diesem Zeitraum lebten dort 1,1 Millionen Menschen. Du kannst dich nicht ausschließlich mit Leid und Trauer umgeben. Jede Form von Glück, jede Form von Kunst ist Widerstand gegen die Tötungsmaschinerie, die ununterbrochen läuft.

Wie habt ihr diesen permanenten Gefühlswechsel szenisch umgesetzt?

Man kann nie vorhersagen, was im nächsten Moment geschieht. Das wollten wir im Film zeigen: Gerade kämpfst du noch, aber nach sechs Minuten tanzt du. Nach weiteren sechs Minuten beerdigst du deinen Freund. Sieben Minuten später bemalst du eine Wand. Nach sechs weiteren Minuten wirst du erschossen.

In vielen Dokumentationen, deren Erzählungen mehrere Jahre umspannen, gibt es eine Stimme aus dem Off, die das Publikum begleitet. «Still Recording» verzichtet darauf. Warum?

Wenn ich von Anfang bis Ende erzähle, schafft das ein Gefühl von Sicherheit. Dadurch fühlt sich das Publikum sicher. Das gefällt mir persönlich nicht. Außerdem wollten wir nicht für Andere denken, ihnen fertige Antworten liefern. Vielmehr wollten wir, dass sich die Zuschauer selbst als Teil des Filmes begreifen, dass sie diejenigen hinter der Kamera sind. Während der zwei Jahre, in denen wir am Film arbeiteten, hat sich die politische Landkarte Syriens verändert: Es kam zu einer weiteren Giftgas-Attacke, die Menschen mussten Ost-Ghouta nach massivem Kampf aufgeben und nach Idlib ziehen.

Diese Veränderungen haben uns daran erinnert, dass die Erzählung auch fernab der konkreten Handlung wirkmächtig sein muss. Erst dadurch schafft man eine Dokumentation für die Ewigkeit. Wir haben viele Test-Vorführungen mit Menschen gemacht, die von Syrien keine Ahnung haben. Wir wollten ihre Reaktionen sehen, denn so kamen wir der Realität der nächsten Generation näher.

Wie meinst du das?

Die Bewahrung der Zukunft besteht darin, die Vergangenheit festzuhalten. Wir wollten der nächsten Generation - nicht nur der syrischen, sondern weltweit – erzählen, was in Ost-Ghouta und damit im Syrien jener Zeit wirklich passiert ist. Ich glaube nicht, dass Maschinen, Autos und der technische Fortschritt den Kern des Menschen ausmachen. Es ist die Kunst, die das tut. Deswegen glaube ich, dass Kunst so lange überdauern wird, wie es Menschen auf dieser Erde gibt.

Nachdem «Still Recording» auf zahlreichen Festivals gezeigt und ausgezeichnet wurde – etwa auf der «Venice International Critics’ Week» in Italien, dem «Jihlava International Documentary Film Festival» in Tschechien und dem «Valdivia International Film Festival» in Chile - wird die Dokumentation in Deutschland das erste Mal auf dem «Around the World in 14 Films»- Festival in Berlin am 25. November 2018 zu sehen sein.

Trotzdem wird der Film im Hier und Jetzt gezeigt. Momentan tourt «Still Recording» durch Italien, bald ist er in Deutschland zu sehen**. Während der Konferenz «Connecting Resistances» hast du Verständnis dafür geäußert, dass Menschen in Europa nach acht Jahren keine schlechten Nachrichten aus Syrien mehr hören wollen. Warum sollten sie den Film trotzdem sehen?

Wenn dir etwas an deiner Zukunft und der deiner Kinder liegt, dann sollte dich Syrien etwas angehen. Denn wenn das Regime ungestraft für das davonkommt, was es den Menschen angetan hat, dann werden es ihm Andere gleichtun. Und das passiert bereits: Nachdem das Regime nicht dafür angeklagt wurde, dass es Menschen verbrannt, gefoltert und mit Giftgas übergossen hat, sehen wir andernorts ähnliche Regime immer mächtiger werden. Deutschland verkauft Waffen an Saudi-Arabien, das Kinder im Jemen tötet. Europa unterstützt Abdel Fatah al-Sisi, eine neue Version von Hafez al-Assad. Unter Hafez gab es 30 Jahre Frieden in Syrien. Aber konnte man das wirklich als Frieden bezeichnen? Wir haben gesehen, was dann passiert ist. Wenn man al-Sisi jetzt unterstützt, weil es für kurze Zeit vorteilig erscheint, wird die Zukunft noch viel schlimmer sein.

Wie kann die europäische Linke und die erweiterte Zivilgesellschaft Solidarität mit den Menschen in Syrien und im Exil zeigen, gerade jetzt angesichts der festgefahrenen Situation?

Im Unterschied zur heutigen Linken agiert die Rechte auf einer eigennützigen Ebene, als würden gewisse Themen oder Ereignisse direkten Einfluss auf das eigene Leben ihrer Anhängerschaft haben. Was ich während meiner kurzen Zeit im Libanon und in Europa beobachtet habe, ist, dass sich die Linke nur noch für sich selbst interessiert. Links zu sein ist cool, Ausdruck eines bestimmten Bildungsstandes. Wenn Linke nicht begreifen, was das alles mit ihnen persönlich zu tun hat, wird ihnen morgen vielleicht noch nichts passieren. Aber in der Zukunft trifft es auch sie.

Was schlägst du also vor?

Ich kann niemandem sagen, was zu tun ist. Ich kann nur auf die Realität aufmerksam machen. Aber wenn du mich nach Rat fragst, dann lautet er: Tu alles, was du kannst! Das Nichtstun ist das Problem. Wenn du denkst, dass noch ein Brief an das Parlament nichts bewirkt, irrst du. Schick ihn ab. Wenn du glaubst, dass noch eine Demonstration nichts bringt, geh trotzdem hin. Außerdem darf es keine Ausreden mehr geben. Alle sagen, dass sie nicht wissen, wer auf Assad folgen soll. Ich glaube nicht, dass man sich damals überlegt hat, wer auf Adolf Hitler folgen wird. Es geht zuallererst darum, Schreckliches abzuwenden. Zuallererst sollten wir jedoch die Dinge persönlich nehmen. Es nützt nichts, etwas nur deswegen zu tun, weil es vermeintlich gut für Andere ist. Wenn du dir selbst helfen und nicht zulassen willst, dass dir etwas Ähnliches passiert, dann sei zur Stelle, wenn es Andere trifft.

 
Anna-Theresa Bachmann beschäftigt sich seit ihrem Studium in Marburg, Kairo und Lund in ihrem journalistischen Schaffen intensiv mit Nordafrika und Westasien. Bisher erschienen ihre Texte zu gesellschaftspolitischen und historischen Themen vor allem in der taz Tageszeitung, dem zenith Magazin und bei Alsharq. Aktuell absolviert sie eine Ausbildung an der Zeitenspiegel Reportageschule Günter Dahl in Reutlingen.