Mit Beginn der Weimarer Republik setzt sich in den 1920er-Jahren mit der Neuen Typographie bzw. dem funktionalen Grafikdesign eine gestalterische Bewegung durch, die für Optimierung durch Lesbarkeit, durch Klar- und Einfachheit und Standardisierung eintritt und zur Illustration Bildelemente der «neusachlichen» Fotografie nutzt. Serifenlose Schriften werden nun immer mehr verwendet. Diese Bewegung entsteht bzw. wirkt zuerst vor allem in Deutschland, der Schweiz, der Tschechoslowakei und nicht zuletzt der Sowjetunion.
Als Quellen gelten unter anderem der Konstruktivismusund sogar Dada. Wichtige Akteure sind Jan Tschichold, Kurt Schwitters, László Moholy-Nagy, Walter Dexelund andere, später dann auch John Heartfield. Das Bauhaus wirkt als ein organisatorischer und kommunikativer Katalysator. Tschichold kanonisiert die Bewegung bereits 1925 in dem von ihm herausgegebenen Sonderheft der Zeitschrift «Typographischen Mitteilungen».
Die elf Kapitel des Bandes sind jeweils zu Beginn mit einem kurzen Text auf Deutsch und Englisch versehen, danach folgen die über 500 Bildbeispiele, die durchweg in Farbe und wertig dokumentiert sind. Rössler schildert einleitend, wie dieses Grafikdesign «erfunden» wird, und wie diese Innovation dann in Verwaltung und Industrie hinein diffundiert. Angewendet wird sie auf Druckerzeugnisse aller Art, das zeigt dieser Band deutlich: Bücher, Werbemittel, Periodika, Plakate, Firmendrucksachen, Anzeigen. Rössler kommt dabei immer wieder auch auf institutionelle und organisatorische Zusammenhänge zu sprechen, vor allem das bauhaus, und den 1928 gegründeten «Ring neuer Werbegestalter», oder fortschrittliche Stadtverwaltungen wie die in Frankfurt/Main oder Magdeburg, die ihre Städte professionell vermarkten und dabei mit den progressiven Gestaltern kooperieren.
Im letzten Kapitel widmet sich Rössler dem Verhältnis des Nationalsozialismus zu diesem gestalterischen Prinzip. Er weist darauf hin, dass die neuen Machthaber der funktionalen Gestaltung gegenüber sehr wohl aufgeschlossen waren und es bis Ende der 1930er Jahre (prominente) Gestalter aus den 20er Jahren gab, die im NS-Deutschland weiterarbeiten und sogar Aufträge von Regierungsstellen ausführen. Der bekannte Bauhaus-Dozent Herbert Bayer (er emigriert erst 1938), ist da nur das bekannteste Beispiel.
Die Publikation kann zu Recht als Grundlagenwerk zum Thema gelten und löst damit das 2000 erschienene Buch von Jeremy Aynsley ab. Sie präsentiert eindrücklich die Revolution in der Buch- und Reklamegestaltung, die die Gestaltung und die Sehgewohnheiten bis heute prägt, und ist damit ein sehr anschaulicher Beitrag zur Kulturgeschichte Deutschlands, wenn nicht Europas.
Der Band, der auch einen Personenindex enthält, ist im Zusammenhang einer Ausstellung erschienen. Diese war bereits in der Universitätsbibliothek Erfurt zu sehen, und ist dann ab 1. März bis 12. Mai 2019 im Kunstforum in Gotha.
Patrick Rössler: Neue Typographien / New Typographies. 100 Jahre funktionales Grafikdesign in Deutschland; Wallstein Verlag, Göttingen 2018, 232 Seiten, geb., 38 EUR