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Regina Hansda über die innere Zerrissenheit der indischen Urbevölkerung

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Regina Hansda
Regina Hansda Foto: Privat

Regina Hansda forscht als Humangeografin an der Newcastle Universität in England. Sie gehört der indigenen Bevölkerungsgruppe der Santal an. Auf der internationalen Konferenz «Food Sovereignty and Indigenous Food Systems» (sinngemäß: Ernährungssouveränität und indigene Nahrungsmittel), die kürzlich im ostindischen Bhubaneswar vom Projektpartner Living Farms der Rosa-Luxemburg-Stiftung organisiert wurde, sprach sie mit Antje Stiebitz über indigene Landwirtschaft, Religion und die Rolle der Frauen.
 

Antje Stiebitz: Die indigenen Gemeinschaften in Indien vollführen einen Spagat zwischen ihrer Tradition und dem modernen Leben der Mehrheitsgesellschaft. Welchen Spannungen sind die Adivasi (sinngemäß: erste Bewohner) ausgesetzt?

Regina Hansda: Die gegenwärtige aggressive neoliberale Agenda führt zu großem Unbehagen. Die Gewinnung von Nahrung und die landwirtschaftlichen Methoden, etwa die Verbreitung von Monokulturen, steht mit den Realitäten und Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung nicht im Einklang. Ich habe gerade das Gebiet um die Kleinstadt Muniguda im östlichen Bundesstaat Odisha besucht. Dort leben vor allem Adivasi und es gibt gewaltige Baumwoll- und Eukalyptusplantagen – das sind Cash Crops. Diese kommerziellen Pflanzen haben für die lokalen Bauern keinen Nährwert und schwächen noch dazu den Boden. Ein anderer Aspekt ist, dass nach der christlichen Missionierung in der Kolonialzeit jetzt radikale Hindunationalisten geltend machen, dass Adivasi ursprünglichen Hindus waren. Aber das stimmt nicht. Ungeachtet dessen verhalten sie sich inzwischen genauso, wie es früher die Missionare taten.

Sie heißen Regina mit Vornamen. Wurden Sie von Christen missioniert?

Ja, ich bin Christin, mein Großvater war Christ, meine Mutter ebenfalls. Und das stelle ich jetzt sehr stark in Frage. Als die Briten das Bahnsystem bauten, schufen sie kleine Jobs und mein Vater arbeitete, wie viele Indigene, für die Eisenbahn. Also zog unsere Familie aus der Dorfgemeinschaft weg und wir verloren unsere Nahrungsgewohnheiten, unsere Sprache. In meiner Kindheit musste ich die Scham erkennen, die mit unserer Ernährung verbunden ist. Denn brachte meine Mutter traditionelle Nahrung nach Hause, hat sie es immer heimlich gegessen. Da ist auch der Einfluss der Religion: Etwa die Hälfte der Adivasi konvertierte zum Christentum. Jetzt wollen uns die Hindus zum Hinduismus bekehren. Wieder andere sind Animisten und verehren die Natur. Die Hindus sagen: Esst kein Rindfleisch, esst kein Fleisch! Die Christen sagen uns: Verehrt keine falschen Götter! Diese religiösen Differenzen führen natürlich zu Spannungen.

Wie kommt es zu der Verdrängung der Indigenen, wo sie doch durchaus Landrechte geltend machen können?

Kürzlich habe ich die Stadt Ranchi im Bundesstaat Jharkhand besucht. Ich hatte erwartet, dass dieses Gebiet vorwiegend von Indigenen bewohnt wird. Aber ich habe dort vor allem Einkaufszentren gesehen und mich gefragt: Wo ist die indigene Bevölkerung? Sie arbeiten beispielsweise als Rikscha-Fahrer. Dieses Land sollte eigentlich ein geschütztes Gebiet sein. Und ich habe mich gefragt, wie das Land, das ehemals den Adivasi gehörte, verloren gegangen ist: Manche Indigene werden betrogen, anderen werden von der Moderne vereinnahmt, verkaufen ihr Land, weil sie sich Hoffnungen machen und am Wohlstand teilhaben wollen.

Indigene Frauen versammeln sich in einem Dorf im ostindischen Bundesstaat Odisha Foto: Antje Stiebitz

Ist die Beteiligung der Adivasi an der Moderne erzwungen?

Genau das ist die Frage: Schaffe ich Bedingungen, die keine andere Wahl lassen? Oder machen die Menschen von sich aus langsam mit? Sie werden sowohl geschoben als auch gezogen und tendenziell ahmen wir die «überlegene» Kultur nach.  Denn das indische Ausbildungssystem lässt uns glauben, dass  unsere Kultur minderwertig ist. Wer das einmal gelernt hat, will nicht mehr zurück.

Auch die Kirche hat die indigene Lebensweise nicht respektiert. Wie betrachten sie das Wirken der christlichen Missionare? 

Bei mir zu Hause sind alle ziemlich religiös, nur ich stehe der Kirche sehr kritisch gegenüber. Gut, die Kirche hat es mir ermöglicht zu studieren, aber gleichzeitig bin ich nicht damit einverstanden, was die Kirche tut. Sie haben meine eigene Kultur untergraben.

Die Kirche hat bei der Mission vor allem auch ihre eigenen Interessen vertreten ...

Das versuche ich gerade meiner Familie zu erklären. Wobei ich auch die Haltung meiner Familie verstehe. Als ich vier Monate alt war, wurde meine Mutter Witwe. Sie lebte in einem Dorf, konnte weder lesen noch schreiben und hatte fünf Töchter. Da war die Unterstützung der Kirche sehr hilfreich.

Indigene Gemeinschaften werden was Genderfragen betrifft immer wieder als besonders egalitär beschrieben. Stimmt das?

Vergleicht man das Geschlechterverhältnis in indigenen Gemeinschaften mit anderen Gemeinschaften in Indien, sind Frauen relativ gleichberechtigt. Dennoch werden auch bei uns Frauen bestraft, beispielsweise, wenn sie Land beanspruchen. So habe ich das in meiner Familie erlebt. In unseren Gemeinschaften besteht keine Gleichheit und diese unbequemen Fragen müssen auch gestellt werden. Es ist sinnlos über Ernährungssicherheit zu sprechen, und dann die Ungleichheiten innerhalb der Haushalte nicht zu Hinterfragen.

Sie gehören selbst zur indigenen Gruppe der Santal. Betrachten Sie das als einen Vorteil für Ihre Arbeit?

Ich habe mich bewusst dafür entschieden Akademikerin zu werden. Ich möchte, dass Indigene Teil der Wissensgewinnung werden. Genug damit, dass wir von jedermann erforscht worden sind! Allerdings muss ich dann auch damit rechnen, dass Anschuldigungen aus unseren Reihen kommen. Aus meiner Sicht ist es für unsere Gemeinschaften entscheidend, dass wir unser Leben selbst bestimmen können. Da möchte ich ansetzen.

Antje Stiebitz berichtet als Hörfunk- und Printjournalistin über die Region Südasien. Das Interview entstand im Auftrag des Regionalbüros Neu Delhi der Rosa-Luxemburg-Stiftung.