Nachricht | Migration / Flucht - Südasien Verantwortung oder Solidarität?

Ranabir Samaddar hinterfragt Prinzip staatlicher Verantwortlichkeit für Flüchtlinge

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Autorin

Antje Stiebitz,

Ranabir Samaddar bei der Konferenz «The State of the Global Protection System for Refugees and Migrants»


Ranabir Samaddar war viele Jahre lang Direktor der indischen Mahanirban Calcutta Research Group. Mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung arbeitet der Think Tank eng zu Themen wie Migration und Flüchtlingen zusammen. Bei einer internationalen Konferenz plädiert er für einen solidarischen Umgang mit Geflüchteten.

Professor Samaddar ist etwas außer Atem als er sich auf seinem Stuhl niederlässt. Die Teilnehmer*innen der internationale Konferenz «The State of the Global Protection System for Refugees and Migrants» (sinngemäß: Wie es um den globalen Schutz für Flüchtlinge und Migrant*innen steht) machen gerade Mittagspause. Auf der Terrasse des Tagungshotels in der ostindischen Millionenmetropole Kolkata herrscht deshalb reges Kommen und Gehen. Ranabir Samaddar ist Gründungsdirektor und Spiritus Rector der Mahanirban Calcutta Research Group (MCRG), einer Organisation, die gemeinsam mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung und weiteren Partnern diese mehrtägige Konferenz organisiert.

MCRG analysiert und diskutiert Fragen rund um Demokratie, Menschenrechte, Frieden und Gerechtigkeit. Ranabir Samaddar setzt sich seit langem intensiv mit Konflikten in Südasien, Fluchtbewegungen sowie Begriffen wie Nation und Postkolonialismus auseinander. Gleich am ersten Konferenztag steht bei einer Podiumsdiskussion die Frage von Macht und Verantwortung im Flüchtlingsschutz im Mittelpunkt. Die Teilnehmer*innen diskutieren darüber, dass die Verantwortlichkeit des Schutzes neu definiert werden müsse. Der Sozialwissenschaftler stellt in seinem Vortrag provokant die Idee der Verantwortlichkeit für Flüchtlinge in Frage.

Nach der Pause ist es auf der tropisch-grünen Terrasse ruhiger. «Aus postkolonialer Sicht ist die Verantwortlichkeit zum Schutz von Flüchtlingen verdächtig», glaubt Samaddar. «Das Problem mit dem Begriff ist, dass er, wie etwa im Falle von Afghanistan, Irak oder Syrien für eine militärische Intervention genutzt wird.» Zu häufig schon, fügt er hinzu, hätten die globalen Mächte liberale Normen für intolerantes Vorgehen genutzt. Die Geschichte zeige, dass mit Hilfe des Begriffs «Verantwortung» oft mit verschiedenen Maßstäben gemessen wird. Werde etwa die sudanesische Regierung in Darfur dafür verantwortlich gemacht, dass sie Flüchtlingsströme verursache, müssten die US-Regierung oder die Europäische Union für ihre Bombardements keine Verantwortung übernehmen. «Daran lässt sich erkennen, dass Verantwortung ein diskriminierendes Prinzip sein kann, weil es bei gleichen Ereignissen nicht im selben Maße eingesetzt wird.»

Der Professor geht noch weiter: Verantwortlichkeit habe zudem eine gönnerhafte Konnotation. Das liberale Wertesystem ginge immer von aufgeklärten Individuen aus, die die volle Verantwortung für sich selbst übernehmen könnten. Es ließe sich von der Idee leiten, dass man sich nicht unverantwortlich verhalten dürfe. «Warum hat Indien so lange auf Selbstbestimmung warten müssen?», fragt er und gibt auch gleich die Antwort: «Weil wir erst erwachsen werden und die Demokratie lernen mussten.» Auf dem Prinzip der Verantwortlichkeit fuße auch der mittlerweile inaktive Treuhandrat der Vereinten Nationen, weil er davon ausgeht, dass Länder für ihre Selbstverwaltung eine Ausbildung brauchen und sich sowohl verantwortlich als auch parlamentarisch organisieren müssten.

«Der Haken daran ist, dass man natürlich auch nicht sagen kann, dass wir unverantwortlich handeln sollen», ergänzt er lachend. Sobald wir das Wort Verantwortung verwendeten, steckten wir in einem Dilemma, das der Philosoph Michel Foucault als die Erpressung der Aufklärung bezeichnet habe. «Die Erpressung besteht darin, dass wir verantwortlich sein müssen, weil wir ansonsten unverantwortlich sind.» Aus diesem Grund plädiert Samaddar für das Wort Solidarität. Der Begriff sei offener, weniger ethisch und zwingend. «Wenn wir etwas für unseren Nachbarn tun, dann tun wir es nicht wegen einer christlichen Pflicht oder eines theologischen Prinzips, sondern – wieder mit Foucault – weil wir uns damit gleichzeitig um uns selbst kümmern und ein Gemeinschaftsgefühl nähren. Kommunisten sprechen von internationaler Solidarität.»

Doch worin liegt der Unterschied, ob man einen Flüchtling aus Verantwortungsgefühl oder aus Solidarität unterstützt hat? Zählen am Ende nicht schlicht Schutz und Unterstützung? Professor Samaddar überlegt einen Moment und beobachtet dabei die Raben, die auf der Terrasse herumspringen. «Der Schutz, der aus der Verantwortung erwächst, ist ein institutionalisierter Schutz», antwortet er dann. Das Problem mit der Verantwortlichkeit, sei nicht nur ihr kolonialer Kontext, sondern dass sie staatlich sei, dem Gesetz und den Autoritäten zugewandt. «Damit gebärdet sich Verantwortung also auch hierarchisch und gönnerhaft.» Die Verantwortung gehöre einer ethischen Sprache an, die gefährlich sei, weil sie missbraucht werden könne. Sie verstecke eigene Interessen hinter der Fassade von Ethik, wie etwa im Falle der Bombardements in Libyen.

Sollte die indische Regierung im Falle der rund 60.000 ins Land geflüchteten Rohingya aus Myanmar Solidarität zeigen? Im Falle der Rohingya mache Neu-Delhi vor allem seine Verantwortung für die Sicherheit des Landes geltend, glaubt Samaddar. Hier zeige sich, wie gefährlich es sei, Politik und ethische Prinzipien miteinander zu vermischen. Plötzlich wird Politik mit Hilfe von Werten oder Prinzipien verteidigt, die mit Politik überhaupt nichts zu tun haben.

Aber was müsste die Regierung tun, würde sie sich den geflüchteten Rohingya in Indien gegenüber solidarisch zeigen? Diesmal muss Samaddar nicht lange nachdenken. «Die Autoritäten müssten sofort die Abschiebungen stoppen und den Menschen erlauben zu arbeiten», findet er und unterstreicht seine Forderung mit einem energischen Schlag auf die Armlehne seines Stuhles. «Außerdem sollte Indiens Regierung damit aufhören die Flüchtlinge durch ihre Sicherheitssprache zu bedrohen. Solange es keine Beweise (für eine terroristische Bedrohung durch diese Menschen) gibt, dürfen sie den Flüchtlingsschutz nicht mit Sicherheitsfragen vermischen.» Zudem müsse Indien sich mit den anderen Staaten in Süd- und Südostasien zusammenschließen, um den Druck auf die Regierung im Nachbarland Myanmar zu erhöhen, damit die Rohingya als Staatsbürger*innen anerkannt würden und dort ein Zukunft hätten.

Zur Autorin: Antje Stiebitz berichtet als Hörfunk- und Printjournalistin über die Region Südasien. Das Interview entstand im Auftrag des Regionalbüros Neu-Delhi (Link: www.rosalux.in) der Rosa-Luxemburg-Stiftung.