Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Europa - Osteuropa Estland vor dem Regierungswechsel

Zu den Parlamentswahlen am 3. März 2019

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Holger Politt,

Blick über Tallinn, Foto: Holger Politt

Die Parlamentswahlen am 3. März 2019 haben die Tendenz bestätigt, die in den Umfragen bereits abzusehen war: Es wird zu einem Regierungswechsel kommen, die Amtsgeschäfte wird künftig Kaja Kallas führen, die mit ihrer liberalen Reformpartei auf 28,8 Prozent der abgegebenen Stimmen kam, was im 101-Sitze umfassenden Parlament 34 Mandate einbringt – vier mehr als nach den letzten Parlamentswahlen 2015. Die sozialliberale Zentrumspartei des bisherigen Ministerpräsidenten Jürü Ratas kam auf 23,1 Prozent, was 26 Mandate einbringt, eines weniger als 2015. Die beiden bisherigen Koalitionspartner mussten ebenfalls Verluste hinnehmen: Die konservative Vaterlandspartei kam auf 11,4 Prozent, was 12 Mandate bedeutet, zwei Sitze weniger als 2015, und die Sozialdemokratische Partei kommt nur noch auf 9,8 Prozent, was entsprechend 10 Mandate bedeutet, einen Rückgang von fünf Sitzen gegenüber 2015. Als drittstärkste Kraft haben sich nun die rechtspopulistischen Nationalkonservativen etablieren können, die auf 17,8 Prozent der abgegebenen Stimmen und auf 19 Mandate kamen, zwölf mehr als 2015.

In ersten Stellungnahmen hat Wahlsiegerin Kaja Kallas angekündigt, Koalitionsgespräche mit den drei bisherigen Regierungsparteien zu führen, wobei ihr Ziel ein Koalitionsvertrag sei, der vier Jahre halten werde. Wahrscheinlich ist eher eine künftige Regierung aus Reformpartei, Vaterlandspartei und Sozialdemokratischer Partei, aber auch eine große Koalition mit der Zentrumspartei wird von den Beobachtern nicht gänzlich ausgeschlossen. Von Journalisten befragt, ob sie nicht insgeheim befürchte, nach den Koalitionsgesprächen doch wieder auf der harten Oppositionsbank zu landen, antwortete Kallas mit einem entschiedenen Nein.

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden großen, sich liberal verstehenden Parteien – der wirtschaftsliberaler ausgerichteten Reformpartei hier, der sozialliberaler ausgerichteten Zentrumspartei dort – besteht vor allem in der Frage des Umgangs mit der russischsprachigen Minderheit im Land, die etwas mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmacht. So setzt sich die Zentrumspartei für die Beibehaltung eines zweisprachigen Schulsystems bis zum Abitur ein, während Kaja Kallas den Übergang zu einem einheitlichen, auf die estnische Unterrichtssprache ausgerichteten Schulsystem verfolgt, um, wie sie meint, den Abiturienten anschließend die Chancengleichheit einräumen zu können. Ob sie ihre diesbezüglichen Maximalforderungen umsetzen kann, werden die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen schnell zeigen.

Mit einigen Sorgenfalten sollte das Abschneiden der Nationalkonservativen bewertet werden, die den Wahlkampf sowohl gegen einen „EU-Imperialismus“ als auch gegen den „russischen Imperialismus“ ausgerichtet hatten. Sie geben als Ziel vor, das bedrohte Estentum gegen die eine wie die andere Richtung zu verteidigen. Auffallend waren zudem die unmissverständlichen homophoben Äußerungen führender Parteivertreter, die sich gegen jede weitere Stärkung von Rechten sexueller Minderheiten verwahren, weil die allein dem „EU-Imperialismus“ Vorschub leisteten. Die designierte Ministerpräsidentin Kaja Kallas hatte bereits in der Wahlnacht angekündigt, keine Koalitionsgespräche mit den Nationalkonservativen zu führen.

Die relativ hohe Wahlbeteiligung lag bei 63,7 Prozent. Hochburgen der Zentrumspartei sind die nordöstliche Grenzregion zum benachbarten Russland sowie die Hauptstadt Tallinn.