Nachricht | Parteien / Wahlanalysen - Osteuropa Ein Comedian wird Präsident der Ukraine – warum nicht?

Kommentar von Ivo Georgiev

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Ivo Georgiev,

Wahlsieger Volodymyr Selenskyi bei der Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen. Foto: GENYA SAVILOV / AFP

Volodymyr Selenskyi hat die Stichwahl am 21. April 2019 haushoch gewonnen (73,22 Prozent) und den noch amtierenden Präsidenten Petro Poroschenko (24,45 Prozent der Wählerstimmen) deklassiert. Der Medienunternehmer, erfolgreiche Schauspieler und TV-Star Selenskyi ist 41 Jahre jung, unverbraucht und hat keinerlei Erfahrungen in der Politik – in wenigen Wochen übernimmt er das Amt des Präsidenten in der krisengeplagten Ukraine, im derzeit ärmsten Land Europas.

Seine Wahl weckt Hoffnungen (vor allem in der Ukraine), aber auch Befremden und Zweifel (vor allem im westlichen Ausland). Der Wahlkampf von Selenskyi spielte sich jenseits der klassischen öffentlichen Kampagnen und Wahlveranstaltungen ab, fast ausschließlich in den neuen sozialen  Medien wie Instagram und in der TV-Unterhaltungssendung «Diener des Volkes». Hier spielt der talentierte Satiriker einen fiktiven ukrainischen Präsidenten, der die Träume der Bevölkerung erfüllt und erfolgreich gegen Oligarchen, Korruption und Misswirtschaft vorgeht. Diese Strategie, in der die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen, war viel erfolgreicher als Poroschenkos Fokussierung auf die Themen «Armee, Sprache, Glaube» und sein Versuch, die Präsidentschaftswahl als eine Schicksalsentscheidung «Entweder gewinne ich oder Putin» darzustellen.

Der neugewählte Staatschef hat also keine ideologische Plattform und gilt als Antipolitiker, sein Erfolg kann durchaus auch als Zeichen der inhaltlichen Entleerung von Politik in einem postsowjetischen Land gedeutet werden. Er hat wenig konkrete Reformvorstellungen angekündigt, das alte System von korrupter und ineffizienter Wirtschaft will er beseitigen und den Krieg im Osten des Landes beenden.

Auf dem ersten Blick passt die Wahl von Selenskyi in den globalen Trend der erfolgreichen Anti-System-Bewegungen, von denen die meisten als ultra-nationalistisch, rechtskonservativ oder rechtspopulistisch gelten. Hier gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied – dem Satiriker gelang es, sehr unterschiedliche Wählergruppen in allen Teilen des Landes für sich zu gewinnen, indem er auf nationalistische Rhetorik und Hassbotschaften gegen interne oder externe Feinde des Landes völlig verzichtete. So konnte er im Wahlkampf sein Image als «saubere» Alternative zum Amtsinhaber glaubwürdig vertreten und weite Teile der desillusionierten, kriegsmüden ukrainischen Gesellschaft überzeugen – trotz fehlender Expertise und Erfahrungen in der Politik.

Seine politische Leistung besteht gerade darin, dass er sich als Brückenbauer und Identifikationsfigur für eine Mehrheit der Ukrainer sowohl im überwiegend russischsprachigen Südosten als auch in den zentralen und westlichen Teilen des Landes empfahl. Man sollte den ukrainischen Wählerinnen und Wählern daher nicht vorwerfen, dass sie bei der Wahl für Selenskyi politische Befähigung mit schauspielerischem Talent verwechselten. Sie haben sich vielmehr für jemanden entschieden, der zumindest glaubhaft suggeriert, dass er das gespaltene Land vereinen und die akutesten Probleme ohne ideologisches Pathos, sondern pragmatisch und sachlich lösen könnte.

Die Stichwahl vom 21. April war jedoch vor allem ein Referendum über Petro Poroschenko und alles, was seine Präsidentschaft verkörpert: eine unreformierbar erscheinende, von Korruption und Oligarchen dominierte Wirtschaft, fehlende ökonomische Perspektiven für die Masse der Bevölkerung, einen aggressiven Nationalismus und autoritäre Angriffe auf demokratische Rechte und Freiheiten. Die Wahl des Schauspielers Selenskyi war in der Tat die Quittung für das Scheitern dieses Politikmodells. Überraschend war daher weniger die Niederlage des Amtsinhabers als vielmehr der überdeutliche Sieg seines Herausforderers.

Sicher wären zu hohe Erwartungen an Selenskyi auch fehl am Platz. Ein neues, unverbrauchtes Gesicht an der Spitze des Staates ohne klare Vision für die Zukunft genügt nicht, um das Land aus der Krise zu führen und zu reformieren. Sein Versuch, die ukrainische Gesellschaft ein Stück weit von der nationalistisch aufgeladenen Polarisierung weg zu bewegen, verdient trotzdem Anerkennung.

Der neue Präsident wird ganz sicher an der Westanbindung der Ukraine nichts ändern – zum einen, weil er sich mehrfach zu ihr bekannt hat, zum anderen, weil sie in der Verfassung festgeschrieben ist. Im Wahlkampf kündigte er an, er sei bereit, mit seinem russischen Kollegen im Kreml über ein Ende des Krieges im Osten zu verhandeln. Das sind Zeichen, die Hoffnung auf einen Wandel machen.

Mit der Wahl am 21. April öffnete sich für die Ukrainer ein Fenster der Möglichkeiten und es entstand eine Dynamik der Erneuerung, die hoffentlich bald zu spürbaren Verbesserungen für die Menschen führt. 

Ivo Georgiev ist Referent für Mittel- und Osteuropa und leitet zukünftig das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kiev.