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Interview mit Saleh Hijazi, Leiter des Büros von Amnesty International in Jerusalem

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Saleh Hijazi, Katja Hermann,

Saleh Hijazi (Amnesty International Israel/Palästina)
Saleh Hijazi, Amnesty International Israel/Palästina (Foto: privat)

Mit Saleh Hijazi, Leiter von Amnesty International in Jerusalem (Israel/Palästina) und stellvertretender Regionaldirektor für die MENA-Region, sprach Katja Hermann, Leiterin des Referats Westasien der Rosa-Luxemburg-Stiftung, zur Menschenrechtslage in den besetzten palästinensischen Gebieten.

 
Katja Hermann: Wie würden Sie die aktuelle Menschenrechtssituation in den besetzten palästinensischen Gebieten beschreiben?

Saleh Hijazi: Was wir aktuell in den besetzten palästinensischen Gebieten beobachten können, ist ein israelisches System der institutionalisierten Unterdrückung und Diskriminierung, das seit Beginn der Besatzung 1967 bis heute anhält. Dieses System kommt immer wieder dann zum Vorschein, wenn Menschen durch Sicherheitskräfte ermordet werden, ohne dass jemand dafür zur Rechenschaft gezogen würde, wenn palästinensische Familien vertrieben und die Rechte von Kindern systematisch missachtet werden, zum Beispiel, wenn sie – oft gewaltsam – mitten in der Nacht durch Militärs verhaftet und anschließend vor ein Militärgericht gestellt werden. Doch auch Kinder, die diese schrecklichen Erfahrungen nicht durchmachen mussten, erfahren täglich Gewalt und Angst. Administrativhaft oder die Zerstörung von Wohnhäusern als Strafmaßnahme sind israelische Praxen, die tiefgreifende Auswirkungen auf palästinensische Familien haben. Palästinensische Familien erleben eine kollektive Bestrafung, die sich durch alle Lebensbereiche zieht – ob es der Gang zur Arbeit ist, zur Schule, zur Universität oder ins Krankenhaus. Das ist die aktuelle Situation. Im Mittelpunkt steht dabei der israelische Siedlungsbau. Es gibt dieses System der institutionalisierten Diskriminierung und Unterdrückung, das hauptsächlich dazu dient, das israelische Siedlungsprojekt voranzutreiben. Neben den Menschenrechtsverletzungen gegen Palästinenser*innen besteht also auch das Problem der Siedlungen. Obgleich die Errichtung von Siedlungen gegen humanitäres Völkerrecht verstößt, nach dem Römischen Statut ist das sogar ein Kriegsverbrechen, werden Häuser dort nicht zerstört, sondern aufgebaut, Schulen werden errichtet, nicht abgerissen, die Siedler*innen können sich in den Siedlungen und in Israel frei bewegen, zuweilen auf abgetrennten Straßen, die von Palästinenser*innen nicht benutzt werden dürfen. Sie erhalten finanzielle Unterstützung für den Aufbau ihrer Geschäfte, sie erhalten Zugang zu den natürlichen Ressourcen ihrer Umgebung. Israelische Kinder unterstehen – zu Recht – Zivilrecht statt Militärrecht. Allerdings versagt dieses Zivilrecht, wenn Siedler*innen Palästinenser*innen oder ihr Eigentum angreifen. Es geht also um eine tiefverwurzelte Unterdrückung und Diskriminierung, die dazu dient, einem Kriegsverbrechen den Boden zu bereiten. Das ist der allgemeine Kontext.

Amnesty International stellt Entscheidungsträger*innen, Regierungen und auch der Zivilgesellschaft fortwährend Berichte zur Verfügung. Wie ist die Reaktion von israelischer Seite auf die Berichte?

Es ist Teil unseres Konzepts, dass wir auch israelische Behörden kontaktieren, unsere Bedenken, unsere Ergebnisse mit ihnen teilen und auch Rückfragen stellen. Die israelischen Behörden reagieren darauf nicht. Das letzte offizielle Treffen von Amnesty International mit einer israelischen Amtsperson fand im Jahr 2012 statt. Seitdem scheint es israelische Politik zu sein, nicht mit Amnesty International zu sprechen und uns stattdessen nach der Veröffentlichung eines Berichts anzugreifen. Das war beispielsweise der Fall, als wir am vergangenen 31. Januar einen Bericht dazu veröffentlicht haben, welche Rolle Online-Buchungsportale wie TripAdvisor, AirBnB, Expedia und booking.com beim israelischen Siedlungsvorhaben spielen. Im Anschluss erlebten wir ziemlich aggressive Reaktionen israelischer Minister*innen, die mitunter sogar damit drohten, Amnesty International aus dem Land zu werfen und keine unserer ausländischen Mitarbeiter*innen mehr ins Land zu lassen. Das ist die übliche Reaktion, die wir aber auch von anderen Regierungen kennen, die kritisiert werden. Statt sich in ehrlicher und verantwortungsvoller Weise mit unseren Stellungnahmen und Vorwürfen auseinanderzusetzen, behaupten sie, unser Bericht sei voreingenommen und nicht unabhängig.

Wir hören auch von Menschenrechtsverletzungen von Seiten der palästinensischen Behörden, konkret der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah und der Hamas in Gaza. Wer ist davon hauptsächlich betroffen und wodurch sind diese Menschenrechtsverletzungen gekennzeichnet?

Die Menschenrechtsverletzungen bei den beiden palästinensischen Behörden im Westjordanland und im Gazastreifen betreffen vor allem Verletzungen des Rechts auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie des Rechts auf Schutz vor Folter. Leider mussten wir auch konstatieren, dass Dissident*innen, die die Behörden ablehnen oder kritische Haltungen ihnen gegenüber haben, immer wieder von diesen Menschenrechtsverletzungen betroffen sind. Seit den internen Kämpfen im palästinensischen Lager im Jahr 2007 haben wir uns bei Amnesty International systematisch diesem Themenkomplex gewidmet. Erst vor Kurzem ist es in Gaza zu massiver Repression gegen Menschen gekommen, die sich zum Protest gegen die dortigen Lebensbedingungen versammelt hatten. Dabei hatten sie nicht allein die Hamas kritisiert, sondern auch die palästinensischen Behörden im Westjordanland und auch Israel, das als Besatzungsmacht, die seit zwölf Jahren eine Militärblockade des Gebiets aufrechterhält, hauptsächlich für die Lage der Bevölkerung in Gaza verantwortlich ist. Die Hamas sah die Ansammlung jedoch als potenzielle Bedrohung und ging repressiv gegen die Protestierenden vor. Die Behörden in Gaza wandten dabei willkürliche Festnahmen, übermäßige Gewalt sowie Folter gegen Demonstrant*innen, Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen an, die vor Ort waren, um die Situation zu beobachten und zu dokumentieren.

Wer ist für die Menschenrechtsverletzungen im Westjordanland und dem Gazastreifen verantwortlich?

Israel ist die Besatzungsmacht und trägt daher die primäre Verantwortung für die zwei Gebiete und die darin lebende palästinensische Bevölkerung. Israel ist auch für die Mehrzahl und eine große Bandbreite an Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, unter denen Palästinenser*innen leiden. Aber auch die palästinensischen Behörden sind für Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser*innen verantwortlich. Diese gehen hauptsächlich zulasten der Sicherheitskräfte, im Westjordanland etwa das Amt für präventive Sicherheit – der bewaffnete Geheimdienst der Autonomiebehörde –, und die Polizei an sich. Die Menschenrechtsverletzungen umfassen die Anwendung übermäßiger Gewalt gegen Protestierende, willkürliche Verhaftungen sowie die Anwendung von Folter beim Verhör von Festgenommenen oder direkt bei der Verhaftung. In Gaza konnten wir das Zusammenspiel verschiedener Akteure beobachten: die Polizeikräfte der Hamas, Einsatzkräfte, die zum Innenministerium gehören, aber auch Mitglieder der inneren Sicherheit, die hauptsächlich Festnahmen von Dissident*innen und anderen Personen durchführen. Die Sicherheitskräfte im Westjordanland unterstehen direkt dem Präsidenten, in Gaza unterstehen sie dem dortigen Innenministerium.

Die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland erhalten Unterstützung aus Europa und den USA. Wie reagieren Geberländer auf diese Situation vor Ort, also dass die Sicherheitskräfte Menschenrechte verletzen?

Wir senden ihnen Berichte und wir geben auch Empfehlungen für jene, die die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland finanziell unterstützen. Darin betonen wir, dass sie ihre Unterstützung für diese Sicherheitskräfte überprüfen sollten, bis sie sicherstellen können, dass diese die Menschenrechte respektieren. Verschiedene europäische Staaten haben beispielsweise EUPOL COPPS gegründet, eine Institution, die der palästinensischen Polizei Training und Kapazitätsaufbau, aber auch unterstützende Programme im Menschenrechtsbereich anbietet, die bereits seit vielen Jahren bestehen. Allerdings können wir keinerlei Besserung konstatieren. Im Gegenteil: Die Menschenrechtsverletzungen nehmen zu und werden zunehmend systematischer. Und da geht es auch um eine Frage der Mitschuld, wenn Organisationen finanziert werden, die Menschenrechtsverletzungen begehen. Es obliegt der Verantwortung der Geberländer, insbesondere von EU-Mitgliedern, die Unterstützung der Sicherheitskräfte auf Eis zu legen und den palästinensischen Behörden im Westjordanland ein klares Signal zu senden, wonach sie nicht länger tolerieren werden, dass mit ihren Ressourcen Menschenrechte verletzt werden.

Wir können beobachten, dass Menschenrechtsverteidiger*innen weltweit immer mehr unter Druck geraten. Welche sind die größten Herausforderungen, denen Menschenrechtsverteidiger*innen in den besetzten palästinensischen Gebieten gegenüber stehen?

Da gibt es viele Aspekte. Da geht es darum, die Arbeit vor Ort machen zu können. Da geht es darum, frei von gesetzlichen oder administrativen Einschränkungen unser Mandat ausüben zu können. In dem Zusammenhang kann ich vielleicht zwei Beispiele aus unserer Praxis anführen: Im vergangenen Juni fanden friedliche Demonstrationen statt, bei denen die palästinensischen Behörden im Westjordanland aufgerufen wurden, ihre Sanktionen gegen Gaza aufzuheben. Ein Kollege von mir war vor Ort, um diesen friedlichen Protest zu beobachten. Sobald er jedoch sein Handy rausholte, um jemanden zu fotografieren, der willkürlich verhaftet und dann gewaltsam zusammengeschlagen worden war, wurde er selbst von zwei Männern in Zivil willkürlich festgenommen, die sich nicht ausweisen wollten, ihn schlugen und gewaltsam zu einem Polizeifahrzeug zerrten, wo Polizisten in Uniform weiter auf ihn einschlugen, erst vor und anschließend im Polizeiwagen. Er blieb etwa acht Stunden in Haft, bis er entlassen wurde. Mindestens weitere 52 Menschen mussten dasselbe durchmachen wie er. Der Einsatz vor Ort ist also mit erheblichen Gefahren verbunden. Dasselbe gilt für all jene, die Demonstrationen gegen die israelische Besatzung, ihre Sicherheitskräfte und ihre Siedlungen beobachten wollen. Die Anwendung übermäßiger Gewalt ist an der Tagesordnung, nicht zwingend nur gegen Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen oder andere Menschen, die die Situation dokumentieren wollen, wobei diese Gruppen oft stark davon betroffen sind. Menschenrechtsverteidiger*innen werden verletzt und getötet. Es sind sogar Gesetze der Palästinensischen Autonomiebehörde in Kraft, die die Zahl der zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort beschränken. Beispielsweise sind wir als gemeinnütziges Unternehmen registriert, um Spenden sammeln zu können. Dem Gesetz nach benötigen wir die Erlaubnis vom Wirtschaftsministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde, was wir als grobe Einschränkung unserer Arbeit betrachten. Wir sind also von beiden Seiten unter Druck, der israelischen und der palästinensischen Seite. Ein konkretes Beispiel dafür ist der Menschenrechtsverteidiger Issa Amro, der gleich zwei Gerichtsverfahren auf einmal gegenübersteht. Auf der einen Seite vor einem israelischen Militärgericht, wo er sich in zwölf Fällen wegen gewaltfreier Aktionen zu verantworten hat. Wir meinen übrigens, dass sie allesamt fallen gelassen werden sollten. Und dann ist er auch vor einem palästinensischen Gericht angeklagt, weil er in einer Facebook-Nachricht seine Meinung kundtat und dabei die Behörden kritisierte, weil sie einen Journalisten verhaftet hatten. Issa ist ein hervorragendes Beispiel für einen Menschenrechtsverteidiger, der an gewaltfreie Aktionen glaubt und gleich von zwei Behörden verfolgt wird.

Die Palästinensische Autonomiebehörde hat die wichtigsten internationalen Menschenrechtsabkommen unterzeichnet. Was fordern Sie von der neuen palästinensischen Regierung in Bezug auf die Menschenrechtslage?

Ihre Frage enthält bereits die Antwort. Die Regierung muss einfach ihren aus dem internationalen Recht erwachsenden Verpflichtungen nachkommen. Der palästinensische Staat ist mittlerweile Unterzeichner der meisten Menschenrechtsabkommen, wie etwa dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, und ist nach internationalem Recht dafür verantwortlich, die Menschenrechte zu achten und zu fördern. Daher rufen wir den neuen Premierminister Mohammad Schtajjeh auf, den Negativtrend der letzten Jahre umzudrehen. Als ersten Schritt muss seine Regierung die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einhalten und die Anwendung von Folter vollständig einstellen. Im Dezember 2017 unterschrieb Palästina das Fakultativprotokoll zum Übereinkommen gegen Folter, das die Einrichtung einer landesweiten Stelle zur Beobachtung der Situation in Verwahrungsanstalten vorsieht. Wir denken, dass es dafür viel zu spät ist, diese hätte kurz nach Unterzeichnung des Fakultativprotokolls eingerichtet werden sollen. Das wäre aber in jedem Fall eine der dringlichsten Aufgaben für die neue Regierung. Es ist sehr wichtig, dass sie das nun tut!

 
Übersetzung aus dem Englischen: Sebastian Landsberger