Frau Fahrni, beim gegenwärtigen Zustand der Beziehungen zwischen dem Westen und Russland entspricht es nicht gerade dem Mainstream, eine solche Veranstaltung zu organisieren. Welche Absicht verfolgen Sie mit der Konferenz?
TF: Chronologische Genauigkeit erfordert hier die Ergänzung, dass wir das KSZE-Jubiläum eigentlich drei Monate zu früh – die Unterzeichnung erfolgte am 1. August – zum Anlass nehmen, um Fragen der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa auf einer Ebene zu diskutieren, die sich über die Tagespolitik erhebt. Dafür eignet sich der Bezug auf die KSZE-Schlussakte: Welche Abmachungen wurden damals getroffen und welche Bedeutung haben sie für die heutige Weltlage?
Von den Unterzeichnerstaaten haben sich drei – die Sowjetunion, Jugoslawien und die Tschechoslowakei – in ihre Bestandteile aufgelöst, die DDR wurde der BRD angeschlossen, anstatt der damals 35 gibt es heute 53 Teilnehmerstaaten. Es gibt die Auffassung, dass der sogenannte dritte Korb der Themenbereiche, der sich auf die humanitäre Zusammenarbeit bezieht, mit seinem Schub für die Bildung von Menschenrechts-gruppen in den Staaten des damaligen Ostblocks maßgeblich zu dessen Zusammenbruch beigetragen hat. Die Folgen dieser Fragmentierung dauern bis heute an, dafür ist der Bürgerkrieg in der Ukraine der jüngste traurige Beweis. Mit den Entwicklungen, die zu diesem Krieg geführt haben und die sich weiter auf das gesamte weltpolitische Gefüge auswirken, hängt auch die Absicht unserer Veranstaltung zusammen.
Die Idee, eine «neue Sicherheitspolitik von unten» in Moskau mit internationaler Beteiligung zu diskutieren, kam von Reiner Braun, Ko-Präsident des «International Peace Bureau», das Mitorganisator der Konferenz ist, zusammen mit dem Europa-Institut der RAW. Die Ausarbeitung dieser Idee führte dazu, die KSZE-Schlussakte als Bezugspunkt auszuwählen, da sie in zwei essentiellen Belangen Symbolfunktion hat: Der Abwesenheit von doppelten bzw. Mehrfach-Standards und der Reichweite in ganz unterschiedliche Ebenen und Bereiche der internationalen Beziehungen, die sonst meist getrennt voneinander betrachtet werden.
Gerade die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit der Zusammenarbeit in Wissenschaft, Kultur, Bildung oder Wirtschaft machen deutlich, was heute mit dem umfassenden Sicherheitsbegriff gemeint ist. Frieden ist viel mehr als die Abwesenheit von Krieg.
In der Schlussakte gibt es Aussagen zu allen gesellschaftlichen Bereichen – zur Sicherheit und territorialen Integrität der Staaten, zur Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und auch zur Wahrung der Menschenrechte. Das sind alles Themen mit einem derzeit großen Potenzial für konträre Auffassungen. In welcher Form wird Diskussionen dazu Raum gegeben?
TF: Ich hoffe sehr auf konstruktive, in die Zukunft gerichtete Diskussionen. Am zweiten Konferenztag gibt es Raum für ganz konkrete Gesprächsrunden zur Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur, Bildung, Umwelt sowie Wissenschaft und Technik, in denen die diesbezüglichen Abmachungen aus dem zweiten und dritten Korb der Schlussakte auf ihre Aktualität, die Ziele auf den Stand ihrer Erreichung abgeklopft werden sollen.
Was die von Ihnen zitierten Schlagworte betrifft – ja, mit deren Hilfe kann jedes offene Gespräch heute blitzartig zugespitzt werden. Aber es gibt im ersten Teil der Schlussakte auch weniger prominente Formulierungen. So ist festgehalten, dass die Teilnehmerstaaten «der Auffassung [sind], dass ihre Grenzen, in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht, durch friedliche Mittel und durch Vereinbarung verändert werden können.» Zur Achtung der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker gehört auch «das Recht, ihren inneren und äußeren Status ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu verfolgen». Inwiefern widerspricht diesem Grundsatz heute die Unterstützung bestimmter Kräfte durch jeweils ausländische Akteure? Streitfälle sollen mit friedlichen Mitteln so geregelt werden «dass der internationale Frieden und die internationale Sicherheit sowie die Gerechtigkeit nicht gefährdet werden». Was bedeutet hier «Gerechtigkeit»? Soziale Gerechtigkeit etwa? Oder wie gerecht ist es, sich strukturell gleichende Phänomene unterschiedlich zu bewerten, in Abhängigkeit davon, wer ihre Akteure sind?
Ich denke hier zum Beispiel an den Majdan und den Antimajdan. Es können also verschiedene Positionen mit der Schlussakte unterlegt werden, und ich hoffe, dass dies sowohl in den Beiträgen als auch in den Diskussionen zur Geltung kommt, im Sinne einer Grundlage, die für alle Beurteilungen gleichermaßen gilt.
In wieweit eine solche Konferenz auch Zeichen setzen kann, hängt nicht zuletzt von der Autorität der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ab. Wen erwarten Sie zu der Veranstaltung?
TF: Eine der wichtigsten Aufgaben der Konferenz ist es, Impulse für ein Verständnis eines umfassenden Sicherheitsbegriffs im Sinne der «Volksdiplomatie» zu geben. Wir haben denn auch neben Personen aus Politik und Wissenschaft Menschen eingeladen, die auf den Gebieten Bildung, Kultur, Tourismus, Umwelt usw. Aspekte der Zusammenarbeit im Sinne der KSZE-Schlussakte einbringen. Ich hoffe, dass die Eingangsworte von Valentin Falin und Egon Bahr, der uns eine halbstündige Videobotschaft geschickte hat, sowie die Teilnahme der Mitglieder des Bundestages Wolfang Gehrcke und Alexander Neu, der Duma-Abgeordneten Dmitrij Lichatschow und Oleg Smolin, des Europa-Abgeordneten Helmut Scholz, der Kandidatin um das Amt des Bundespräsidenten 2010 Luc Jochimsen sowie der Vertreterinnen und Vertreter des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften und des International Peace Bureau dazu beitragen werden, dass unsere Konferenz auch in der Öffentlichkeit auf Interesse stößt.
Grundsätzlich bin ich aber der Meinung, dass jeder einzelne Teilnehmer und jede einzelne Teilnehmerin dadurch, dass sie ganz unterschiedliche Perspektiven in Beziehung zueinander setzen, gleichermaßen zum Erfolg einer Konferenz beitragen können.
Neben dem Helsinki-Jubiläum steht in Kürze mit dem 70. Jahrestag der Befreiung Deutschlands und Europas vom Faschismus das nächste geschichtsprägende Datum an. Welche Rolle wird dieses Ereignis bei der Konferenz spielen?
TF: Der Jahrestag spielt insofern eine sehr wichtige Rolle, als die Erinnerung an die Befreiung vom Faschismus durch die Rote Armee heute gefährdet ist, von Souveränitätswahn zersetzt und durch Antikommunismus überschrieben zu werden. Es waren Sowjetbürger, die in der Roten Armee kämpften – nicht Russen, Ukrainer, Belarussen, Georgier usw., auch wenn ihre Nachkommen heute bestrebt sind, sich ihre eigene nationale Geschichte zusammenzustellen. Zu Souveränität gehört auch, einen differenzierten Blick auf Geschichte auszuhalten. Eine solche Grundposition zu aktualisieren ist im Grunde auch das Leitmotiv unserer Konferenz.
Das Gespräch führte Hartmut Hübner/russland.RU
Das Interview erschien zuerst auf russland.RU.
Siehe auch Konferenzbericht «Helsinki war nur eine Zwischenetappe.»