Nachricht | International / Transnational - Krieg / Frieden - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus Transformation unter erschwerten Bedingungen

Die Situation in Rojava/Nordostsyrien nach dem Sieg über den IS

Information

Autor*innen

Ismail Küpeli, Anja Flach,

Die Kantone von Rojava/Nordostsyrien
Die Kantone und das Emblem der «Autonomen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien» (Rojava)

Interview mit Anja Flach, Ethnologin und Ko-Autorin von «Revolution in Rojava» (2014, aktualisiert 2018). Die Autorin beteiligte sich 2018/19 an einer viermonatigen Frauendelegation nach Rojava/Nordostsyrien und berichtete im Rahmen der Speakerstour der Rosa-Luxemburg-Stiftung «Kampf um Rojava, Kampf um die Türkei» über ihre Beobachtungen, wie in Rojava der gesellschaftliche Transformationsprozess weiter voranschreiten – trotz der großen Belastungen und den andauernden Drohkulisse eines türkischen Angriffskrieges.

Das Interview führte Ismail Küpeli, Moderator der Speakerstour.
  

Ismail Küpeli: In der deutschen Öffentlichkeit ist das Thema Rojava weitgehend in den Hintergrund gerückt, nachdem der Anti-IS-Kampf vorbei zu sein scheint. Was sind die wichtigsten Themen in Rojava selbst?

Anja Flach: Der Begriff Rojava ist eigentlich schon Geschichte, das Gebiet der demokratischen Selbstverwaltung umfasst inzwischen auch große überwiegend arabisch bewohnte Regionen. In der Region ist momentan das wichtigste Thema die Vorbereitung auf einen möglichen Angriffskrieg durch die Türkei. Während unseres viermonatigen Aufenthalts haben wir erlebt, dass jede Struktur in Nordostsyrien sich dafür wappnet. Vereinzelte Angriffe entlang der türkisch-syrischen Grenze gibt es immer wieder, deren Opfer vor allem Zivilist*innen sind. Stellungen werden ausgebaut, Menschen jeder Altersklasse zur Selbstverteidigung ausgebildet, es werden umfangreiche Planungen zu den Bereichen Medizin, Verwaltung in einer Kriegssituation usw. durchgeführt. Noch immer gibt es fast täglich Anschläge durch IS-Schläferzellen. Die Besatzung Efrîns ist eine blutende Wunde. Jeden Tag müssen die Menschen Nachrichten über Folter und Morde durch die Jihadisten in Efrîn erdulden.

Eine der Hauptforderungen der Menschen vor Ort und der Autonomen Selbstverwaltung ist, wegen der anhaltenden Drohungen Erdoğans, die Errichtung einer Flugverbotszone für das gesamte Gebiet. Im Angriffskrieg gegen Efrîn waren es vor allem die Luftangriffe, teilweise auch durch unbemannte Drohnen, die kriegsentscheidend waren, da Rojava/Nordostsyrien nicht über eine Luftabwehr verfügt. Russland hatte den Luftraum für Erdoğans Angriffskrieg geöffnet. Auf diese Niederträchtigkeit war Efrîn nicht vorbereitet. Momentan wird eine «Sicherheitszone» diskutiert, an der auch die Bundeswehr beteiligt sein soll. Rojava soll sowohl vor der Türkei als auch vor dem Zugriff des Assad-Regimes geschützt werden. Dabei erkennt ja keines der Länder die Demokratische Autonomie an. Die autonome Selbstverwaltung hat sich noch nicht dazu geäußert.

Ein weiteres wichtiges Thema in Nordostsyrien ist Bildung. Überall werden Akademien eröffnet, um die Bevölkerung in Nordostsyrien zu befähigen sich selbst zu verwalten, damit die vielfältigen Aufgaben bewältigt werden können. Dabei spielen vor allem Frauenakademien eine große Rolle.

Wie werden die befreiten Gebiete mit hauptsächlich arabisch-sunnitischer Bevölkerung (z.B. Raqqa) politisch und gesellschaftlich verwaltet?

Minbij, Raqqa, Tabqa, Deir ez-Zor und kleinere Städte wie Hol oder Şaddadi wurden durch die QSD (Syrisch Demokratische Kräfte) teilweise nach fünf Jahren IS-Herrschaft unter großen Verlusten befreit. Gründungsräte wurden aufgebaut, die die Verwüstungen durch den IS und den Krieg mit den begrenzten Mitteln versuchen zu beseitigen. So mussten in Raqqa 15.000 Sprengfallen entschärft und endlose Schuttberge weggeräumt werden. Die Einwohner*innen der Städte nahmen freiwillig an diesen Arbeiten teil. Immer noch sind große Teile der Städte zerstört, die Strom- und Wasserversorgung ist nicht dauerhaft gewährleistet, auch weil z.B. wichtige Ersatzteile für die Turbinen des Tabqa Staudammes nicht aus Russland geliefert werden. Die Kanalisationen der Städte hatten durch die Bombardierungen und durch die vom IS ausgehobenen Schützengräben und unterirdischen Militäreinrichtungen schwere Schäden erfahren, der IS hatte Wasserverteilstationen gesprengt.

Nach der Gründung von Zivilräten für die Regionen Minbij, Tabqa, Raqqa und Deir ez-Zor begann die Organisierung in lokalen Räten und Kommunen. Innerhalb von vier Monaten bildeten sich z.B. in Tabqa 180 lokale Räte. Volkshäuser (Mala Gel) wurden eröffnet und unter dem Dach der Räte Dienstleistungskomitees aufgebaut. Neben den lokalen Räten wurden themenspezifische Büros eingerichtet, die regionsübergreifend für Außenkontakte, Medien, Verteidigung, Öl und unterirdische Rohstoffe, Planung und humanitäre Hilfe sowie Kommunikation zuständig sind.

Parallel dazu wurden Fraueneinrichtungen aufgebaut. Der Aufbau der Kommunen, demokratischen Institutionen und Frauenstrukturen läuft überall an. Allein in Raqqa wurden innerhalb von eineinhalb Jahren 80 Frauenräte aufgebaut in denen sich 3000 Frauen organisiert haben.

Fast überall war die Schulbildung für Jahre komplett zum Erliegen gekommen. Lehrer*innen begannen auf freiwilliger Basis mit dem Unterricht in ihren Häusern und in Zelten, während die Reparatur und Minenräumungsarbeiten in den Schulen beschleunigt wurden. Krankenhäuser waren zerstört, nach und nach wurden Gesundheitsstationen und Krankenhäuser vom Kurdischen Roten Halbmond (HSK) wiedereröffnet, meist von ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen. Ein Problem ist, dass ausländische NGOs wie zum Beispiel «Ärzte ohne Grenzen» Ärzt*innen abwerben, indem sie den zehnfachen Lohn zahlen, der in Nordostsyrien üblich ist. Problematisch ist auch, dass NGOs und Hilfsorganisationen meist nicht mit der Selbstverwaltung zusammenarbeiteten. Für das Auswärtige Amt ist z.B. eine Bedingung, um Projekte in Rojava/Nordostsyrien zu unterstützen, dass sie nicht mit der Autonomen Selbstverwaltung kooperieren. Diese Politik spielt also dem Regime in die Hand.

Der andauernde Versuch auswärtiger Kräfte die neu befreiten Gebiete abzuspalten, machten die Schaffung einer Koordinierungsstruktur «Autonome Selbstverwaltung Nord- und Ostsyrien» (NES) umso dringender, die im November 2018 ausgerufen wurde. Sie hat ihren Sitz in Ain Issa. Ko-Vorsitzende sind eine Kurdin und ein Araber, Vertreterinnen eine Suryoye und eine Turko-Albanerin. Auch auf dieser obersten Koordinierungsebene gibt es einen autonomen Frauen- und Jugendrat.

Natürlich ist die große Zerstörung, die Sicherheitslage und vor allem das von staatlicher Sozialisation geprägte Bewusstsein der Bevölkerung eine Herausforderung. Die Selbstverwaltung braucht Zeit, um sich zu etablieren. Der dauernde Druck von außen ist eine Bedrohung, sie könnte dazu führen, dass sich Teile der Bevölkerung nach dem vermeintlich starken Staat sehen. Insbesondere aber die Frauen, welche unter dem Islamischen Staat kaum eine Rolle im öffentlichen Leben spielten, treiben die demokratische Selbstverwaltung voran. Viele haben sehnsüchtig die Befreiung erwartet, sie organisieren sich mit großer Begeisterung in den Räten.

Ist der Anti-IS-Kampf tatsächlich vorbei oder welche Schritte werden in naher Zukunft folgen?

Die Türkei und die anderen imperialistischen Staaten wollen den Mittleren Osten in ständigen Kriegen gefangen halten, um zu verhindern, dass die demokratischen Aufbauprozesse weitergehen. Der IS ist eine erfahrene Untergrundkraft und wird weiter Anschläge durchführen, um den Paten Türkei zu unterstützen. Er wurde aber auch zu einem beinahe weltweiten Phänomen, denn er ist als eine Antwort auf das kapitalistische System, seinen Werteverfall und seine räuberische Geschichte anzusehen. Er ist das Produkt einer 5000 Jahre alten Geschichte, die Ausbeutung, Macht und Gewalt als gottgegeben, biologisches Schicksal, als logische Konsequenz der Wahrheit des Staates versteht. Insofern er ist nur der extreme Ausdruck eines unterdrückerischen und überall akzeptierten Systems, der Staats- und Herrschaftsmentalität, des Systems des Patriarchats zu verstehen. Und von daher ist der Kampf gegen den IS nicht nur ein militärischer, sondern besonders ein gesellschaftlicher und ideologischer Kampf. Diese Mentalität, die eine Organisierung wie den IS erschaffen hat, ist die gleiche Mentalität, die die Welt in Herrscher und Beherrschte aufteilt, die Frauen in sie erstickende Rollen zwängt und der Willkür der Tradition und tödlichen Regeln ausliefert.

Noch immer finden fast täglich Angriffe durch sogenannte Schläferzellen statt. In den letzten Wochen wurden durch den IS große Ackerflächen angezündet, um die Weizenernte in Nordostsyrien zu vernichten. Nach Angaben der Autonomieverwaltung brannten in Raqqa 1400 Hektar Anbaufläche ab. In Tabqa waren es 1750 Hektar, in Deir ez-Zor weitere 400, in Minbic 150, in der Cizîrê-Region 550 und in der Euphrat-Region sogar 16.000 Hektar Ackerflächen, die den Flammen zum Opfer fielen. Der Gesamtverlust beträgt rund zwei Milliarden syrische Pfund. Bombenangriffe werden mit Motorrädern durchgeführt und dabei kommen immer wieder auch Kämpfer*innen der QSD oder Zivilist*innen ums Leben. Viele ISler kämpfen im Namen anderer Organisationen in Efrîn oder Idlib.

Im Kamp Hol sind etwa 70.000 Menschen aus Deir ez-Zor untergebracht, diese Stadt war die letzte Zuflucht des IS, viele von ihnen sind überzeugte Jihadisten. Das Areal mit den rund 9000 Kämpfern ist zwar abgezäunt, aber die Spannungen zwischen denen, die dem Kalifat loyal sind, und Zivilist*innen, die verzweifelt nach Sicherheit suchen, sind sehr problematisch. Internationale humanitäre Hilfe, gibt es so gut wie gar nicht. Die Demokratische Selbstverwaltung bemüht sich um die Errichtung eines Internationalen Gerichtshofes in Qamişlo, der Hauptstadt Nordostsyriens. Ein UN Tribunal wird es nicht geben, Russland blockiert eine solche Entscheidung im UN Sicherheitsrat. Schweden und andere europäische Länder setzen sich dafür ein, eine Lösung für einen solchen Gerichtshof zu finden.

Der IS hat das Leben eines großen Teils der Bevölkerung in den neu befreiten Gebieten jahrelang ideologisch indoktriniert. Die vielen meist ausländischen Jihadisten und ihre Familien sind eine Belastung für Nordostsyrien. Überall im Land wurden Akademien eingerichtet, um den Menschen demokratische Werte zu vermitteln, was auch sehr erfolgreich ist, allerdings ist die Masse kaum zu bewältigen, zumal wie gesagt, keine ausländische Hilfe für diese Projekte bewilligt wird. Man darf nicht vergessen, das Nordsyrien klein ist, so leben alleine in der türkischen Metropole Istanbul mehr Kurd*innen als in ganz Nordostsyrien.

Die Afrin-Region ist seit mehr als ein Jahr besetzt. Gibt es Äußerungen der Selbstverwaltung in Rojava darüber, welche konkreten Schritte zur Beendigung der Besatzung unternommen werden sollen?

Der Schmerz über den Verlust Efrîns, in welchem das System der Demokratischen Nation und des Demokratischen Konföderalismus in vielen Bereichen (Frauenstrukturen, Universität etc.) am weitesten fortgeschritten war, ist überall zu spüren. Die Menschen, die aus der Region vor den türkischen und jihadistischen Truppen flüchten mussten, sind derzeit auf das ganze Gebiet Rojavas verstreut, haben aber vor allem im Gebiet Şahba erneut basisdemokratische Strukturen aufgebaut. Für sie ist Efrîn ist keineswegs aufgegeben. Die Bedingungen in Şahba sind jedoch äußerst prekär und ständig durch eine türkische Invasion bedroht.

Die Türkei hat keinerlei Legitimation in Nordsyrien zu bleiben und wird sich dort nicht langfristig halten können. Nachdem die Jihadisten aus Idlib gedrängt werden, gibt es auch keine Basis mehr für die Türkei dort zu bleiben. Früher oder später muss sie abziehen. Auf internationaler Ebene wird darüber diskutiert, daher halten sich Momentan die HRE (Befreiungskräfte Efrîns), die viele Angriffe gegen die Besatzer durchgeführt haben, zurück. Nach dem Sieg über den IS in Baghouz hatten auch die QSD (Syrisch Demokratische Kräfte) erklärt, sich in der Zukunft an der Befreiung Efrîns zu beteiligen.

Das Projekt Rojava hat international viel Anerkennung durch die demokratische Öffentlichkeit erfahren. Es geht in Nordostsyrien auch um unserer aller Hoffnung auf eine Zukunft. Die Revolution dort zu verteidigen ist genau jetzt notwendig. Die Alternative für die wir alle einstehen wird in Rojava/Nordostsyrien schon aufgebaut, wird dieses Projekt zunichte gemacht, wirft uns das alle zurück. Der Kampf um Efrîn Widerstand muss sichtbar und international bekannt gemacht werden. Um den Kampf der Frauen aus Efrîn mit Frauenkämpfen in anderen Ländern zu verknüpfen, wurde mit Kongra Star und anderen Frauenorganisationen in Rojava die internationale Solidaritätskampagne «WomenRiseUpForAfrin» initiiert, die mit neuen Aktionsformen und Mobilisierungen weitergeht.