Nachricht | Staat / Demokratie - Parteien / Wahlanalysen - Autoritarismus Kasachstans erste Präsidialwahlen nach der Ära Nasarbajew

Kontinuität und Wechsel für ein Land im Wandel

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Qassym-Schomart Toqajew, neuer Präsident von Kasachstan. CC BY-NC-SA 2.0, UN Geneva

Am 19. März 2019 kündigte der erste und bislang einzige Präsident des unabhängigen Kasachstans, Nursultan Nasarbajew, nach fast 30 Jahren an der Macht seinen Rücktritt an. Eine ganze Generation junger Kasach*innen wuchs unter seiner Alleinherrschaft auf und hat zeitlebens noch nie einen Machtwechsel im Präsidialamt erlebt. Doch nun ist dieser historische Moment gekommen, auch wenn Nasarbajew weiterhin die höchsten Ämter des Landes bekleidet: als Leiter des Sicherheitsrats, als Vorsitzender der regierenden Demokratischen Volkspartei Nur Otan (dt. «Leuchtendes Vaterland») und der sogenannten Volksversammlung Kasachstans, einem staatlich bestellten Beratungsgremium. Im Anschluss an seine Rücktrittserklärung wurde zudem ein parallel zur Regierung agierendes Exekutivorgan mit dem Namen «Büro des Ersten Präsidenten» gegründet. Schon lange vor seinem Rücktritt erhielt Nasarbajew der Titel «Führer der Nation» (oder «Elbasy»), der ihm und seiner Familie Immunität verleiht und vor Strafverfolgung schützt. Während Nursultan Nasarbajew also unter altem neuem Namen an der Macht bleibt, übertrug er das Präsidialamt an den Senatsvorsitzenden Qassym-Schomart Toqajew. Am 20. März legte Toqajew den Amtseid ab und wurde damit amtierender Präsident.

Drei Wochen später, am 9. April 2019, gab Toqajew bekannt, dass am 9. Juni vorgezogene Präsidentschaftswahlen stattfinden würden. In den letzten Jahrzehnten sind vorgezogene Präsidial- und Parlamentswahlen zu so etwas wie einer Tradition gewordenein praktisches Mittel, um potentiell abtrünnige Kandidat*innen von der Teilnahme abzuhalten.

Die Kandidat*innen

Die Nominierungsphase für die Kandidat*innen wurde am 10. April eingeleitet und endete am 28. April. Für große Überraschung sorgte der von der Regierungspartei Nur Otan nominierte Kandidat. Einige Expert*innen und oppositionelle Aktivist*innen waren davon ausgegangen, dass die Partei die älteste Tochter Nasarbajews, Darigha Nasarbajewa, nominieren werde. Schließlich war es jedoch Toqajew, der Nasarbajews Rückendeckung erhielt und von Nur Otan nominiert wurde.

Insgesamt reichten neun Bewerber*innen ihre Unterlagen bei der Zentralen Wahlkommission (ZWK) ein, um sich als Kandidat*innen registrieren zu lassen. Talgat Jergalijew zog seine Bewerbung zurück und entschied sich dafür, Danija Jespajewa zu unterstützendie Kandidatin der Partei Ak Zhol («Leuchtender Weg») und die erste weibliche Präsidentschaftskandidatin in der Geschichte Kasachstans. Ein anderer Bewerber, Schumatai Alijew, wurde aufgrund «ungenügender Kenntnis der Staatssprache» nicht als Kandidat zugelassener hatte einen Kasachisch-Sprachtest nicht bestanden. Diese Form von Zulassungstest bleibt umstritten, denn für die Öffentlichkeit gibt es keine Möglichkeit, das Gutachten der Sprachkommission zu überprüfen.

Die ZWK  ließ schließlich sieben Kandidat*innen aus vier politischen Parteien sowie drei Bündnissen bzw. Bewegungen zur Wahl zu:

  • Schambyl Achmetbekow von der Kommunistischen Volkspartei Kasachstans
  • Danija Jespajewa von der Partei Ak Zhol
  • Amirschan Kosanow von der Bewegung Ult Tagdyry («Schicksal der Nation»)
  • Toleutai Rachimbekow von der Partei Auyl («Dorf»)
  • Amangeldy Taspichow von der Föderation der Gewerkschaften
  • Qassym-Schomart Toqajew von Nur Otan
  • Sadybek Tugel von der Bewegung Uly Dala Kyrandary («Die Adler der Großen Steppe»)
Die Wahlkampagnen

Die Wahlkampfperiode wurde offiziell am 11. Mai eingeläutet und die Kandidat*innen stellten ihre Wahlkampagnen und -programme vor. Die meisten davonso monierten Beobachter*innenwaren wenig überzeugend und übermäßig auf Einzelthemen fokussiert, anstatt eine größere Bandbreite an Inhalten abzudecken. Obwohl sämtliche Kandidat*innenaußer dem Favoriten Toqajew und dem «Oppositions»-Kandidaten Kosanowals blass und nicht ernstzunehmend abgetan wurden, ist es aufschlussreich, ihre Kampagnen einer näheren Betrachtung zu unterziehen.  

Der kommunistische Bewerber Schambyl Achmetbekow kandidierte zum zweiten Mal für das Präsidialamt. 2011 hatte er einen Stimmanteil von nur 1,36 Prozent erhalten (während Nasarbajew die Wahl mit 95,5 Prozent für sich entschied). Achmetbekow machte sich dafür stark, den «Einfluss des Westens und seine falschen Werte» zu bekämpfen, indem der Zugriff auf schädliche Online-Inhalte eingeschränkt wird. Zudem sprach er sich für die Beseitigung von Armut und Lohnungleichheit aus. Er befürwortete die Strafverfolgung von Oligarch*innen und warb für eine stärkere ökonomische Kooperation mit Nachbarländern (den Mitgliedstaaten der Eurasischen Wirtschaftsunion und an der «Neuen Seidenstraße» beteiligten Ländern) 

Danija Jespajewa war die erste weibliche Präsidentschaftskandidatin in der Geschichte des unabhängigen Kasachstans. Jespajewa zufolge stieß diese Tatsache auf positive Resonanz innerhalb der Bevölkerungnicht nur bei Frauen, sondern auch bei Jugendlichen. Der Fokus ihrer Kampagne lag größtenteils auf Wirtschaftsthemen, und ihre Partei Ak Zhol stellte sich als Partei der Unternehmer*innen auf. Ihre Kampagne betonte die Prinzipien einer freien Marktwirtschaft, die Bekämpfung von Korruption und Offshore-Geschäften, die Förderung und Verbreitung von Unternehmer*innengeist sowie die Gründung kleiner und mittlerer Unternehmen. Jespajewa kam auch auf die Frage der der nationalen Unabhängigkeit Kasachstans zu sprechen und forderte z.B. die Dekolonisierung des nationalen Bewusstseins; die Umbenennung von Städten und Dörfern, die immer noch russische bzw. sowjetische Namen tragen; sowie den Schutz vor religiösen Sekten. Zugleich befürwortete sie Gleichstellung in Bezug auf Ethnie, Religion und Sprache. 

Einer der Kandidat*innen galt allgemein als Oppositionsführer, nämlich Kosanow. Ihm ging es um politische Freiheit, die er dadurch verwirklicht sehen wollte, dass jegliche Gesetzgebung, die demokratischen Werten widerspricht, revidiert wird (er bezog sich vor allem auf Medien-, Wahl-, Parteien- und Gewerkschaftsrecht). Kosanow plädierte für den Übergang zu einer präsidial-parlamentarischen Republik; für die Stärkung des Gesetzes zur Regelung der Staatssprache und die Festlegung von Berufen, deren Ausübung Kenntnisse der Staatssprache erfordert; und für die Emanzipation des nationalen Bewusstseins von postkolonialen und postsowjetischen Einflüssen. Im Bereich der Außenpolitik kündigte Kosanow eine engere Zusammenarbeit mit EU-Mitgliedsstaaten und anderen westlichen Nationen an. Zudem zeigte er sich besorgt über den unkontrollierten Zuwachs kasachischer Staatsschulden im Ausland und über die grassierende Korruption, die es erfordere, dass alle Staatsangestellten und deren Familienangehörigen ihre Einkommensberichte offenlegten. Kosanow sprach sich für einen Wandel von einer rohstoffbasierten Wirtschaft hin zu einem wissenschaftlich-technologisch gesteuerten Modell wirtschaftlicher Entwicklung aus. Er versprach, die wirtschaftliche Situation der Regionen am Aral-See und bei Semei zu verbessern, sowie alle Betriebe, die nicht ökologisch nachhaltig arbeiteten, entweder umzurüsten oder zu schließen.

Die Kampagne von Toleutai Rachimbekow, dem Kandidaten der Partei Auyl, war überwiegend ländlichen bzw. landwirtschaftlichen Themen gewidmet. Seine Schwerpunkte waren landwirtschaftliche Machtverhältnisse, Ernährungssicherheit und Unabhängigkeitsbestrebungen. Rachimbekow trat für die gesellschaftliche Gleichstellung von Land- und Stadtregionen ein und für eine wirkungsvolle Jugendpolitik, die jungen Menschen mehr Anreize dafür bietet, in ihren Dörfern zu bleiben. Auch Themen wie nationale Identität, Tradition und Spiritualität kamen zur Sprache.

Der Kandidat des Gewerkschaftsbunds, Amangeldy Taspichow, betonte den Schutz der Rechte von Arbeiter*innen. Er thematisierte das Arbeitsmigrationsrecht (indem er betonte, dass kasachische Bürger*innen bei der Stellensuche prioritär behandelt werden sollten) und forderte verbesserte Lebensbedingungen in ländlichen Gebieten. Grundsätzlich war Taspichows Kampagne sehr auf den Schutz der Rechte von Arbeiter*innen und die Verbesserung von Arbeitsbedingungen im ländlichen Raum ausgerichtet. 

Die am breitesten aufgestellte Kampagne war die des amtierenden Präsidenten Qassym-Schomart Toqajew. Sie basierte auf drei Grundpfeilern: Beständigkeit, Gerechtigkeit und Fortschritt. Beständigkeit bedeutete hier die Fortsetzung des vom ersten Präsidenten eingeschlagenen politischen Kurses und die Garantie, dass Kasachstan bis 2050 zu den 30 weltweit am weitesten entwickelten Ländern zählen würde. Unter dem Schlagwort Gerechtigkeit propagierte Toqajew rechtliche Gleichheit unabhängig von Ethnie, Religion oder sozialem Status. Er versprach, die Regierungsinvestitionen im sozialem Bereich um 5% des Bruttoinlandsprodukts zu erhöhen, sowie Reformen auf den Gebieten der Altersvorsorge, des Gesundheits- und Bildungswesens und des Justiz- und Polizeisystems. Außerdem sprach er von der Schaffung produktiver Arbeitsplätze, der Stärkung der Zivilgesellschaft und der Zusammenarbeit mit «gesetzestreuen» Medien. Mit Fortschritt meinte Toqajew ein gleichmäßiges Wirtschaftswachstum, die Entwicklung ländlicher Gebiete, die Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen, die Stärkung des privatwirtschaftlichen Sektors durch eine Begrenzung großer Staatsmonopole sowie eine Förderung der Demokratisierung und der Kooperation von Betrieben und NGOs.  

Kandidat Nummer sieben, Sadybek Tugel, wollte den Status der Staatssprache (durch ein Berufsverbot für nicht-kasachischsprachige Menschen im öffentlichen Dienst) stärken und setzte sich für die Statusfestigung  einheimischer Frauen ein, indem die Sozialleistungen für Frauen mit mehr als fünf Kindern erhöht werden. Außerdem schlug Tugel Sozialleistungen zugunsten von Menschen mit Behinderung und für die Opfer von Umweltkatastrophen vor (etwa jenen, die von den Atomtests im westlichen Kasachstan und bei Semei bzw. dem ehemaligen Semipalatinsk betroffen sind) und versprach Korruptionsbekämpfung (u.a. mittels Einführung der Todesstrafe für korrupte Staatsbedienstete und Pädophile). Er zeigte sich davon überzeugt, dass die Zivilgesellschaft die Regierung kontrollieren müsse und dass das Verpachten von Grundstücken an Ausländer*innen verboten werden sollte. Tugel schlug weitere Maßnahmen vor, darunter die Senkung der Arbeitslosigkeit durch den Neubau von Fabriken, die Einführung zinsfreier Regierungskredite für den Landwirtschaftssektor, die Reform des Polizeiapparats sowie eine stärkere Jugendförderung und das Eintreten für nationale und traditionelle Werte.  

Die Kampagnen der Kandidat*innen sollten zwar den Anschein von Substanz und Vertrauenswürdigkeit vermitteln, doch es mangelte an klaren, schlüssigen und stringenten Konzepten. Die Schlagwörter und Versprechungen waren vage, klischeelastig und populistisch aufgeladen. Dieser Eindruck bestätigte sich dann auch im eigentlichen Wahlkampf.

Der Wahlkampf

Der Wahlkampf der Kandidat*innen stellte sich allgemein als eher schwach und unausgereift heraus. Als visuelle Elemente kamen vorwiegend Plakatwände, Flugblätter und Videoclips zum Einsatz. Auf Massenveranstaltungen und (Freiluft-)Kundgebungen wurde zugunsten persönlicher Treffen mit Angestellten verschiedener Unternehmen und Organisationen verzichtet. Rachimbekow etwa traf sich mit Beschäftigen aus der Landwirtschaft und ihren Interessenverbänden, während Taspichow den Kontakt zu Gewerkschaftspersonal im ganzen Land suchte. Die Kandidat*innen richteten ihren Wahlkampf jeweils auf ihre potentiellen Unterstützer*innen und Genoss*innen aus und versuchten kaum, andere Gruppen von Wähler*innen zu erreichen.

Am 29. Mai wurde eine Fernsehdebatte zwischen den Kandidat*innen ausgestrahlt. Drei von ihnen, darunter der Spitzenkandidat, ließen sich vertreten, weshalb die Sendung nicht wie eine Debatte wirkte, sondern eher wie eine Konferenz. Kontroversen politischen Fragen wich man zudem aus und konzentrierte sich auf sozioökonomische Belange.

Es ist auch bezeichnend, dass der Großteil der Kandidat*innen im Wahlkampf darauf verzichtete, Station in Almaty, der größten Stadt Kasachstans, zu machen. Daran zeigt sich, dass kein ernsthaftes Interesse am Wahlkampf und am Wahlsieg bestand.       

Der Wahltag und das Ergebnis

Der Wahltag wurde von einer Vielzahl willkürlicher Verhaftungen in kasachischen Großstädten überschattet—vor allem in Almaty und Nur-Sultan. Es fanden friedliche Proteste statt, bei denen zum Boykott der Präsidentschaftswahl aufgerufen wurde. Das Recht auf friedliche Versammlung ist in Kasachstan erheblich eingeschränkt, sodass die kasachischen Bürger*innen kaum eine Chance hatten, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Laut offizieller Erklärung des Innenministers wurden kam es in den beiden Städten am Wahltag zu rund 500 Verhaftungen. Weitere Festnahmen erfolgten, als es auch am Tag nach der Wahl zu Protesten kam.

Am Wahltag spielten auch zahlreiche lokale Beobachter*innen, die den Wahlen vor allem in Stadtgebieten im ganzen Land beiwohnten, eine wichtige Rolle. Ihre Beobachtungen wurden vielfach von den sozialen Medien aufgegriffen und Videoaufnahmen von Betrug und Verstößen bei den Wahlen verbreiteten sich großflächig.

Am späten Abend des 10. Juni gab die Zentrale Wahlkommission das offizielle Wahlergebnis bekannt. Schambyl Achmetbekow erhielt 1,82 Prozent der Stimmen; Danija Jespajewa 5,05 Prozent; Amirschan Kosanow 16,23 Prozent; Toleutai Rachimbekow 3,04 Prozent; Amangeldy Taspichow 1,98 Prozent; Qassym-Schomart Toqajew 70,96 Prozent; und Sadybek Tugel 0,92 Prozent. Toqajew gewann somit die Wahl und wurde zum zweiten Präsidenten der Republik Kasachstan gewählt. Seine Amtseinführung erfolgte in großer Eile, nur zwei Tage nach Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses.

Die Wahl führte zu Protesten und politischem Aktivismus, an denen sich die wirklichen Probleme und Bedürfnisse der kasachischen Gesellschaft ablesen lassen. Die politische Führungsriege hat die Forderungen, die sich während Nasarbajews Herrschaft über Jahrzehnte angesammelt haben, weitgehend ignoriert oder unterdrückt. Der neugewählte Präsident steht nun an einer schwierigen Wegscheide: Entweder er verfolgt einen Neuansatz und entwickelt eine konstruktive politische Lösung oder er setzt das Erbe seines Vorgängers fort—dann allerdings mit zunehmend unberechenbaren Konsequenzen.

Daniyar Kussainov arbeitet als Project Manager im neuen Regionalbüro für Zentralasien in Almaty, Kasachstan.