Europa, so versprach es Claudio Machado, der sich als «Konsul des Europäischen Konsulats» vorstellte, werde «zehnmal mehr in Brasilien investieren», sollte der rechtsextreme Jair Bolsonaro die Präsidentschaftswahl gewinnen. Die Meldung machte über WhatsApp die Runde, der Messenger hat in dem südamerikanischen Land rund 120 Millionen aktive Nutzer, mehr als die Hälfte der Einwohnerzahl.
Das Problem: Es gibt gar kein «Europäisches Konsulat» in Brasilien, die Meldung gehörte zu dem breiten Strom von Lügen, der bei der Wahl im Oktober 2018 nach Ansicht vieler eine mitentscheidende Rolle gespielt hat. Laut Zahlen der Agência Lupa, einer Organisation, die Fakten im Internet prüft, liefen unter den 50 am meisten geteilten Postings im brasilianischen Wahlkampf nur vier mit einem Inhalt, der als «komplett wahr» eingestuft werden konnte. Medien enthüllten, dass hinter den Falschmeldungen auch zahlreiche Unternehmen standen, die einen Sieg des Kandidaten der Arbeiterpartei, Fernando Haddad, verhindern wollten. Mehrere Millionen seien dafür geflossen.
Fabrício Benevenuto von der Universität UFMG in Belo Horizonte hat die Abstimmung denn auch als «WhatsApp-Wahlen» beschrieben: Lügen-Kampagnen, gezielte Desinformation, Unglaubwürdigmachen der Konkurrenz, Verschwörungstheorien, Emotionalisierung – und das auch in anderen Netzwerken. Laut dem Umfrageinstitut Datafolha hatten 81 Prozent der Anhänger von Bolsonaro ein Social-Media-Konto, bei den Anhängern des linken Kontrahenten Haddad waren es nur 59 Prozent.
«Studien zeigen, dass ein Großteil der Brasilianer*innen seine politischen Inhalte ausschließlich über WhatsApp bezieht», sagt der Brasilienkenner Niklas Franzen. Und: «Für die Rechten ist WhatsApp zur wichtigsten Waffe geworden.» Wenn es dabei wie in den meisten Fällen zu Falschinformationen oder Manipulationen kommt, zeigen sich die zuständigen Aufsichtsbehörden überfordert, wie es auch Tai Nalon bestätigt, Expertin von der brasilianischen Faktencheck-Plattform Aos Fatos.
WhatsApp ist dafür auch deshalb besonders geeignet, weil das Vertrauen in klassische Medien und politische Institutionen in Brasilien stark gelitten hat. Wenn dann Bekannte oder Freunde Informationen in Chat-Gruppen weiterleiten, erscheinen diese glaubwürdiger und relevanter. Die Tendenz, sich in sozialen Netzwerken mit Gleichgesinnten zusammenzuschließen, hat die Fragmentierung der Öffentlichkeit beschleunigt, es bilden sich politische Echokammern.
Brasilien steht da keineswegs allein auf weiter Flur. Der dortige Wahlkampf 2018 ist beispielhaft für einen weltweiten Trend, der nicht weniger bedeutet als die völlige Umkehrung einer früheren Hoffnung: Das Internet und soziale Netzwerke galten, nicht zuletzt dank ihrer Rolle bei den Ende 2010 beginnenden Protesten, Aufständen und Revolutionen in der arabischen Welt, als Instrumente der Demokratisierung. Nicht nur sollten damit Mitbestimmung, Diskurs und Informationen leichter zugänglich werden; auch glaubte man zunächst, dass die Technik autoritäre Regime unter Druck setzen würde.
«Die sozialen Medien werden nicht mehr nur von einer Seite genutzt», kritisieren Niklas Kossow und Ilyas Saliba den Mythos von der Demokratiemaschine Internet. «Sie sind kein reiner Katalysator für revolutionäre Bewegungen, sondern können inzwischen ebenso als Werkzeug von Sicherheitsbehörden und Staatspropaganda instrumentalisiert werden.»
Zwar greifen autoritäre Regime wie das in der Türkei auch heute noch zu Internetsperren. Anderswo, wie in China, sind bestimmte Netzwerke gar nicht erst erreichbar. Der dominante Modus aber besteht nicht mehr in Kontrolle und Sperrung, sondern in der Nutzbarmachung der Technik für autoritäre oder populistische Potenziale. Ein Beispiel dafür ist Donald Trump, und es ist kein Zufall, wenn der sich mit Vorwürfen auseinandersetzen muss, seine Kampagnen würden ausgerechnet von russischer Seite unterstützt.
Eine weitere Facette weist über den Einzelfall Brasilien hinaus: Der Aufstieg neuer autoritärer Politikformen wurde überall von «Fake News» mitgetragen. Immer mehr Akteure bedienten sich «alternativer Wahrheiten», spielten mit Emotionen und Aufmerksamkeitseffekten. So konnten bereits existierende Zweifel an demokratischen Institutionen verstärkt werden – in der Absicht, das Bedürfnis nach autoritären, nationalistischen, rassistischen «Lösungen» zu befeuern.
Auch dafür steht der 2018er Wahlkampf von Bolsonaro exemplarisch. «Es geht ausschließlich um Emotionen und subjektive Wahrnehmungen statt um Fakten oder Argumente», so Franzen in einer Analyse für die Rosa-Luxemburg-Stiftung. Wahrheit werde radikal subjektiv definiert, Ästhetik habe Ethik verdrängt; Inhalte zählten nicht mehr, sondern nur noch die Art und Weise, wie etwas gesagt werde.
Dieser Text ist zuerst erschienen in maldekstra #4, Juni 2019.
Anmerkung der Redaktion:
Inzwischen hat Facebook-Tochter WhatsApp auf die Kritik reagiert und ihre Nutzungsbedingungen verschärft: «Unsere Produkte sind nicht für Massen- oder automatisierte Nachrichten bestimmt, die beide schon immer einen Verstoß gegen unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen darstellten.» Ab Dezember sollen solche Verstöße laut dem Messenger-Betreiber auch rechtlich verfolgt werden. Konten, von denen Massenversendungen rausgehen, werden gesperrt: «Darüber hinaus wird WhatsApp ab dem 7. Dezember 2019 rechtliche Schritte gegen diejenigen einleiten, von denen wir feststellen, dass sie an einem Missbrauch beteiligt sind oder andere dabei unterstützen, der gegen unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen verstößt, wie z.B. automatisierte oder Massennachrichten oder nicht persönliche Nutzung, selbst wenn diese Bestimmung auf Informationen basiert, die uns ausschließlich von unserer Plattform aus zugänglich sind.» (Quelle: meedia.de)