Nachricht | International / Transnational - Westasien - Golfstaaten - Autoritarismus - Westasien im Fokus Gesellschaftliche Öffnung in Saudi-Arabien?

Progressive und kritische Strömungen hatten es im Königreich schon immer schwer – mit Kronprinz Muhammad bin Salman werden die Handlungsräume nun noch kleiner

Information

Die Abraj Al Bait Towers in Mekka von der Großen Moschee aus gesehen
Die Abraj Al Bait Towers in Mekka von der Großen Moschee aus gesehen

Es war im Frühjahr 2018, als sich das Bild Saudi-Arabiens zu wandeln schien – zum Positiven: Das erste Kino seit 35 Jahren öffnete, ab Juni durften Frauen endlich selbst Auto fahren und im Rahmen der «Vision 2030» sollte sich das ganze Land schrittweise öffnen. Die Pläne des neuen starken Mannes im Staat, Kronprinz Muhammad bin Salman, gemeinhin MbS genannt, klangen vielversprechend, doch alle Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Frühling wurden zerstört, als im Herbst der Journalist Jamal Khashoggi brutal in Istanbul ermordet wurde. Dass die Attentäter mutmaßlich Verbindungen bis in oberste Regierungskreise hatten, sendet ein deutliches Signal an alle oppositionellen Kräfte in Saudi-Arabien – und kein gutes.

Das Land auf der arabischen Halbinsel spielt im geopolitischen Gefüge der Region eine wichtige Rolle. Zentral dafür ist bis heute eine schon Mitte des 18. Jahrhunderts geschmiedete Allianz zwischen dem Stamm der Sauds und den Wahhabit*innen, der Gruppe um den Prediger Abd al-Wahhab, letzterer hatte die religiös-spirituelle Führung inne, die Sauds herrschten militärisch. Damit legitimierten sich zwei starke Machtfaktoren gegenseitig – eine Allianz, die 1932 zur Gründung des heutigen Königreichs Saudi-Arabien führte und bis heute besteht. Am Leben gehalten wird die saudische Macht auch durch Lieferungen westlicher Waffen und anderer Rüstungsgüter: Trotz vordergründiger Kritik an der Situation der Menschenrechte in Saudi-Arabien machten und machen westliche Staaten, darunter auch Deutschland, einträgliche Geschäfte mit der Regierung.

Dass sich in diesem sich nach außen verschlossen gebenden Land durchaus herrschaftskritische Strömungen bilden konnten, zeigte sich zum ersten Mal bei der blutigen Geiselnahme in der Großen Moschee von Mekka im Jahr 1979. Der Anschlag mit fast 1000 Toten war direkt gegen das Königshaus der Saud gerichtet und gilt als zentral für die Entstehung islamistischen Terrors. Die Attentäter entstammten der sunnitisch-islamistischen Richtung, die bis heute die größte oppositionelle Strömung in Saudi-Arabien ist. Sie ist für das Herrscherhaus am gefährlichsten, denn sie zielt auf dessen religiös-spirituelle Legitimation. Das Selbstverständnis des saudischen Königs als «Hüter der heiligen Stätten» Mekka und Medina ermöglicht es dem Regime, sich im globalen muslimischen Kontext als alternativlos darzustellen.

Wie progressive Akteur*innen trotz Einschüchterung und Repression versuchen, an der gesellschaftlichen Öffnung des Landes mitzuwirken, will die mit diesem Text beginnende lose Artikelreihe zu Saudi-Arabien beschreiben.

Historischer Ursprung für die heutige islamistische Opposition war die Sahwa-Bewegung, die ab den 1980er - und verstärkt in den 1990er-Jahren - religiös untermauerte Kritik an der saudischen Politik übte. Diese Bewegung bestand aus einem kleinen, aber im Bildungssektor gut vernetzten Zirkel aus Intellektuellen, der einen Reformdiskurs auf streng sunnitisch-islamistischer Grundlage anstoßen wollte. 2009 und im Zuge des Arabischen Frühlings 2011 organisierten Vertreter*innen der Sahwa-Bewegung Petitionen an das Herrscherhaus, in denen sie etwa ein gewähltes Parlament und die Freilassung politischer Gefangener forderten. Heute wird die islamistische Opposition stark beschränkt – das Regime fürchtet die Mobilisierung einer kritischen Masse unter seinen Bürger*innen.

Zahlenmäßig weniger bedeutsam ist die schiitische Opposition. Im Osten des Landes gehört in manchen Städten teils die Hälfte der Bevölkerung der schiitischen Glaubensrichtung an, im ganzen Land sind es etwa zehn Prozent. Auf kritische Stimmen aus dieser Richtung reagiert das Regime aus drei Gründen allergisch: Zum einen gelten Schiit*innen für wahhabitische Hardliner*innen nicht als wirkliche Muslime. Wichtiger aber ist die strategische Komponente: Der Osten des Landes ist Kerngebiet der saudischen Ölproduktion. Der Staatskonzern Aramco kontrolliert die weltweit zweitgrößten Ölreserven und hat seinen Sitz in der Ostprovinz, in Dhahran am Persischen Golf. Der dritte Grund: Weil die saudischen Herrscher den Schiit*innen per se unterstellen, sie seien empfänglich für iranische Propaganda und eine Art fünfte Kolonne des ungeliebten Nachbarn, fahren sie eine Null-Toleranz-Politik gegen – auch nur vermutete – schiitische Kritik. Belege für eine tatsächliche Iran-Nähe der schiitischen Bevölkerung in der Ostprovinz gibt es laut Forschung jedoch nicht. Schiitisch-iranischen Einfluss vermutet Saudi-Arabien auch im Jemen, wo es seit 2015 einen Krieg führt, der sich zu einer der weltweit größten humanitären Katastrophen ausgewachsen hat.

Die dritte oppositionelle Strömung im Land bündelt die nicht-religiös argumentierenden Kräfte, zu denen auch progressive linke Bewegungen gehören. Sie ist eher klein, unorganisiert und wird dem Regime kaum gefährlich, macht aber zugleich bis ins westliche Ausland von sich reden: Denn hier sammeln sich Aktivist*innen für die allgemeinen Menschenrechte, für Frauenrechte, für die Rechte von Minderheiten wie Schiit*innen und Atheist*innen oder auch die Rechte von Arbeitsmigrant*innen. Bis zum Antritt Muhammad bin Salmans war Kritik aus dieser Richtung in Maßen möglich – Proteste gegen das Fahrverbot für Frauen etwa wurden zwar verfolgt und verurteilt, aber mit weniger drakonischen Strafen belegt als Kritik etwa von schiitischen oder sunnitischen Oppositionellen.

Erst mit der Machtübernahme Muhammad bin Salmans zog das Regime die Daumenschrauben an. Zwar plante er mit der «Vision 2030» eine Öffnung des Landes auch in gesellschaftlicher Hinsicht, doch sind alle Reformen ausschließlich von oben bestimmt, politische Teilhabe ist und bleibt ein Fremdwort. Seit Muhammad bin Salman das Sagen hat, wird der wahhabitische Klerus massiv eingeschränkt. Erst jüngst wurden Medienberichten zufolge Todesurteile gegen die prominenten muslimischen Gelehrten Salman al-Auda und Awad al-Qarni verhängt. Solche Hinrichtungen sollen immer auch als Machtdemonstration und Einschüchterung verstanden werden.

Die saudische Regierung unterdrückt derzeit gewaltsam öffentliche Diskussionen – Beobachter*innen sind sich einig, dass die Repression gegenüber Kritiker*innen noch nie so stark war wie jetzt. Linke, progressive, aktivistische Stimmen sind entweder im Gefängnis, wie etwa die bekannte Frauenrechtlerin Loujain al-Hathloul oder Walid Abu al-Khair, Träger des Alternativen Nobelpreises von 2018 und früherer Anwalt des inhaftierten Bloggers Raif Badawi, oder sie halten sich mit abweichenden Meinungen zurück. Vor allem in der Vergangenheit gelang es der saudischen Regierung zudem, kritische Stimmen durch finanzielle Erleichterungen ruhigzustellen oder gar nicht erst aufkommen zu lassen. Nach seinem Amtsantritt Anfang 2015 hat König Salman großzügig Subventionen an Vereine und Verbände sowie Bonus-Zahlungen an bestimmte Bevölkerungsgruppen verteilt. Einer Mehrheit im Land ging es lange materiell gut, Gesundheitsvorsorge und Sozialversicherung sind für alle Staatsbürger*innen kostenlos – viele Saudis konnten sich so ein vordergründig angenehmes Leben leisten.

Dies ändert sich derzeit: Viele gut ausgebildete saudische Männer und Frauen wollen mehr als nur in einem satten Staat vor sich hin leben, sie drängen auf den Arbeitsmarkt, die Arbeitslosenzahlen steigen und zugleich ist die Wirtschaft noch viel zu stark auf das nicht unendlich verfügbare Öl ausgerichtet. Muhammad bin Salman versucht, im sich schneller als je zuvor wandelnden Staat alle Macht in seiner Hand zu konzentrieren – so sollen etwa die Dividendenerträge des Ölkonzerns Aramco in den Staatsfonds PIF fließen, der direkt von ihm kontrolliert wird. Ob diese Machtfülle dafür sorgt, dass sich auch bisher unterdrückte Gruppen wie Frauen oder Minderheiten eine gesellschaftliche Teilhabe im Land erarbeiten können, darf stark bezweifelt werden.

 
Christopher Resch arbeitet als freier Journalist vor allem zu Themen aus Westasien und Nordafrika und ist Herausgeber des Bandes «Medienfreiheit in Ägypten» (2015). Zuvor war er für das Goethe-Institut in Ägypten und Saudi-Arabien tätig.