Seit dem Aufstieg des Islamischen Staates liegt der Fokus der internationalen Geber*innen im Irak und der Autonomen Region Kurdistan verstärkt auf Traumatherapie und Resilienz-Maßnahmen. Die Psychologin Dr. Karin Mlodoch von Haukari e.V. erklärt im Interview, warum dieser Ansatz zu kurz greift und wie Ihr Verein stattdessen lokale Strukturen unterstützt.
Karin Mlodoch ist Vorstandsmitglied von Haukari e.V., einer deutschen NGO, die seit über zwanzig Jahren in der Kurdischen Region Irak tätig ist. Haukari unterstützt dort vor allem Frauenrechtsorganisationen wie das Frauenzentrum Khanzad in Sulaimania. Es bietet Rechtsberatung und Schutz für Frauen an, die aufgrund ihrer Gewalterfahrung aus dem sozialen Kontext herausfallen oder fliehen. Haukari finanziert diese Projekte durch Fördergelder vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), deutscher Stiftungen und Organisationen sowie Spenden.
Mit ihr sprach Anna-Theresa Bachmann. Sie ist freie Journalistin und hat in Marburg, Lund und Kairo Nahostwissenschaften studiert. Ihre Texte über Politik und Gesellschaft in Nordafrika, Westasien und Europa erschienen bisher vor allem in taz Tageszeitung, dem zenith Magazin und bei dis:orient.
Anna-Theresa Bachmann: Der Irak und die Kurdische Region Irak haben seit dem Vormarsch des Islamischen Staates (IS) und seinen Gräueltaten viel internationale Aufmerksamkeit erfahren. Nicht nur medial, auch durch internationale Hilfsgelder und Projekte in der Entwicklungszusammenarbeit. Was wird dort aktuell gefördert?
Karin Mlodoch: In der Region gibt es historisch gesehen viele übereinanderliegende Konflikte. Die internationalen Geber*innen fokussieren sich hauptsächlich auf die aktuellen. Während es früher um nachhaltige Entwicklung in Konfliktregionen und den Wiederaufbau ging, gibt es jetzt einen sehr starken Fokus auf Trauma und kurzfristig stabilisierende Resilienz-Maßnahmen.
Sie kritisieren diesen Ansatz. Warum?
Die Geldgeber*innen arbeiten hauptsächlich mit den Überlebenden von IS Gewalt, Massakern und Versklavung. Das ist gut und richtig: Viele Projekte sind in der Situation dieser Menschen die einzigen, in denen sie Ansprechpartner*innen und Trost finden. Aber das führt oft dazu, dass andere Konfliktbereiche und Gewalterfahrungen vernachlässigt werden und dadurch lokale Konflikte geschürt werden.
Außerdem sehen wir, dass Trauma immer mehr als ein Art Werkzeug inmitten von Krisen und Gewaltsituationen gesehen wird. Wir sind aber der Meinung, dass individuelle Traumaarbeit begrenzt bleibt, wenn die Menschen in instabilen Lebenssituationen bleiben und man nicht gleichzeitig auch die Ursachen von Gewalt und Konflikten, sowie die gesellschaftliche Bearbeitung von Konflikten in den Mittelpunkt stellt.
Sie sprechen in diesem Zusammenhang von einer Bedeutungsverschiebung von Trauma und Resilienz durch das internationale Hilfsgeldersystem. Was meinen Sie damit?
Trauma ist ein Konzept, das unter anderem in der Arbeit mit Holocaust Überlebenden, Überlebenden von Folter und Gefangenschaft in Lateinamerika und Überlebenden von geschlechtsspezifischer Gewalt entwickelt wurde. Das Traumakonzept sollte dazu führen, dass die psychologischen oder psychischen Wunden von Überlebenden Anerkennung finden und sie Zugang zu Entschädigung bekommen, Täter*innen strafrechtlich verfolgt und das Leid der Überlebenden anerkennt wird. Auch Resilienz war ursprünglich ein emanzipatorischer Begriff in der psychologischen Traumaforschung.
Inwiefern?
Das Resilienz-Konzept hat den Blick von der Defizitorientierung, Symptomorientierung und Pathologisierung auf Ressourcen und Empowerment von Überlebenden verschoben. Wenn man aber diese Begriffe in Kriegs- und Krisensituationen anwendet, in denen mitnichten physische, ökonomische Sicherheit, Perspektive, familiäre und soziale Unterstützung gegeben sind und man z.B. Traumatherapie in Binnengeflüchteten-Camps anbietet, wo die Leute nicht wissen, was mit ihnen morgen passiert, dann wirkt das, als sollten da Menschen einfach fit gemacht und psychisch gestärkt werden, um in diesen katastrophalen Lebensbedingungen auszuharren.
Wie kommt es zu dieser ständigen Fokusverschiebung vonseiten der Geldgeber*innen?
Das ist sehr schwierig zu beantworten. Ein Punkt ist sicherlich, dass mit zunehmenden Krisen auf dieser Welt, mit komplexen ethnischen und religiösen Konflikten, aber auch mit der Tatsache, dass sich immer mehr Menschen nach Europa aufmachen, es ein Interesse daran gibt, dass die Leute vor Ort bleiben. Wir sehen das gerade sehr gut in Syrien und im Irak. Im Moment ist keine politische Lösung in Sicht. Also versucht man Krisenmanagement vor Ort zu machen, Gemeinden, Familien und Individuen resilient zu machen, um dort auszuhalten.
Wie gehen die lokalen Partner*innen damit um, dass sie den Fokus ihrer Arbeit angesichts der wechselnden Agenden der internationalen Geber*innen ständig anpassen müssen?
Viele kurdische Frauenorganisationen zum Beispiel., die seit Jahren überlebende Frauen von Gewalt unterstützen, haben in diesem Kontext nachhaltige und langfristige Schutz- und Beratungsstrukturen für Frauen aufgebaut. Mit diesen Strukturen leisten sie natürlich in der aktuellen Krisensituation, in der allein in der Kurdischen Region an die drei Millionen Binnengeflüchtete aus dem Irak Zuflucht suchen, auch Hilfe für Frauen in Geflüchtetencamps. Gerade in akuten Krisensituationen sind internationale Hilfsprojekte aber eher auf Nothilfe und kurzfristige Projekte angelegt. Kurze Laufzeiten verstärken den Stress der lokalen Projektpartner*innen, die ohnehin in belastenden Situationen arbeiten. Das steht der Entwicklung von nachhaltigen Strukturen vor Ort entgegen. Ein anderer Punkt ist, welche Art von Wissen im Rahmen des aktuellen Fokus auf Traumaarbeit vermittelt wird.
Und zwar?
In den letzten Jahren haben Frauenorganisationen in Kurdistan einen unglaublich reichen Erfahrungsschatz gesammelt, wie man inmitten von Krisensituationen mit Frauen arbeitet, die aus ihren Familien verstoßen werden, die stigmatisiert oder von Ehrenmord bedroht sind, und die nicht wie in Europa einfach in ein Frauenhaus gehen oder in einer anderen Stadt eine neue Existenz aufbauen können. Es gibt da viele interessante Wege, von Familien- und gemeindenaher Mediation, von einer Mischung aus rechtlichem und polizeilichem Druck.
Diese Ansätze kommen vielleicht nicht als akademischer Diskurs daher. Aber neben der Vermittlung von westlichem Traumawissen, das in sehr individuell organisierten Gesellschaften entstanden ist, sollte auch darauf geschaut werden, lokale Ansätze zu systematisieren und dass die Kolleginnen dort ihre eigenen Sachen selbstbewusster artikulieren und in die Debatte einbringen.
Haukari nimmt dabei eine Doppelfunktion ein: Als Empfängerorganisation von öffentlichen Geldern und als Geber an die lokalen Partner*innen im Irak und Kurdistan, denen Sie auf Augenhöhe begegnen wollen. Wie kann das gelingen?
Es geht darum, wie man die lokale Zusammenarbeit mit den Partner*innen gestaltet. Dass so viel über NGOisierung gesprochen wird, hat auch damit zu tun, dass die Bedingungen internationale Förderrichtlinien einzuhalten unglaublich komplex sind. Dass sie immer schon Zugang zu Sprache und Bildung voraussetzen und somit viele Gruppen schon vorherein herausfallen. Wenn also in einer kleinen Jugendkulturgruppe in Kifri, wie wir sie unterstützen, niemand Englisch spricht, hat sie im Grunde keinen Zugang.
Man kann sich aber als internationale NGO auch so verstehen, dass man vor allem Räume schafft, damit Partner*innen die von ihnen selbst formulierten Bedarfe auch umsetzen können. Dass man sich als Brücke versteht zwischen den Bedingungen vor Ort, den von Aktiven vor Ort entwickelten Projektideen und den hiesigen Gebern. Warum sollen sie sich jedes Jahr mit wechselnden Antrags- und Berichtsformaten von internationalen Geber*innen auseinandersetzen, wenn wir hier total viel Erfahrung damit haben? Da können wir ihnen helfen, Zugang zu bekommen.
Aber ist das nicht schwierig? Immerhin sind die lokalen Partner*innen von Ihren Geldern abhängig und Haukari muss wiederum ihren Geber*innen Rechenschaft ablegen?
Es wäre Quatsch zu behaupten, dass es keine Hierarchien gibt. Unser Anliegen ist, dass wir dieses «wir hier und die da» überwinden und wir stattdessen darüber sprechen, was unsere gemeinsamen Themen sind. Natürlich ist die internationale Hilfsindustrie in vielen Regionen dieser Welt Teil des Problems anstatt der Lösung. Aber es geht nicht darum, dass wir keine internationalen Fördergelder mehr annehmen. Es ist wichtig, dass wir die Perspektiven unserer lokalen Partner*innen an die internationalen Geldgeber bringen. Also dass wir Foren schaffen, in denen unsere Partner*innen formulieren können, was sie selbst wirklich brauchen.
Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Im Oktober 2018 haben wir in Frankfurt zusammen mit verschiedenen Organisationen wie medico international und der Bundesarbeitsgemeinschaft psychosozialer Zentren für Folteropfer und Flüchtlinge eine Konferenz organisiert. Wir hatten Kolleg*innen aus elf Ländern eingeladen, aus Polen und Italien, aus dem Nahen Osten und Afrika. Dort haben wir darüber diskutiert, wie wir mit dem Schwerpunkt auf Trauma und Resilienz in der aktuellen Förderpraxis internationaler Geldgeber*innen umgehen. Das hat natürlich eine ganz andere Wirkung, wenn diese Diskussion nicht nur im akademischen Diskurs hier in Deutschland, sondern zusammen mit den Partner*innen geführt wird. Wir können der Entpolitisierung von Konflikten durch internationale Hilfe nur transnational entgegenwirken.