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Interview mit Nadia Mahmood, Mitglied der Arbeiterkommunistischen Partei des Irak

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Nadia Mahmood
Nadia Mahmood (Foto: privat)

Nadia Mahmood ist Feministin, Aktivistin, Forscherin und Kommunistin. Sie war 1993 eine der Gründer*innen der Kommunistischen Arbeiterpartei des Irak (WCPI) und ist heute Mitglied des Politbüros der Partei. Sie ist Frauenrechtlerin und hat mit anderen Frauen Frauenrechtsorganisationen in Großbritannien und dem Irak gegründet. Während ihres Exils ab 1998 in London hat sie in Sozialpolitik promoviert.

Mit ihr sprachen Ansar Jasim und Schluwa Sama. Ansar Jasim hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak. Schluwa Sama hat in Berlin, Marburg und London, Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert und anschließend in Sulaymaniya, Kurdistan-Irak gearbeitet. Zurzeit promoviert sie zur politischen Ökonomie des Iraks und Kurdistans am Centre for Kurdish Studies, University of Exeter.
 

Ansar Jasim/Schluwa Sama: Nadia, du warst ja schon seit einem sehr jungen Alter und selbst während der politisch repressiven und gefährlichen Zeit von Iraks autokratischen Herrscher Saddam Hussein politisch aktiv. Wie wurdest du schon als 15-Jährige politisiert?

Nadia Mahmood: Ich wurde 1964 in Basra im Süden des Irak geboren. Die erste Sache, die mich angeregt hat, politisch zu denken, war die Tatsache, dass ich in eine traditionelle Familie hineingeboren wurde. Ich habe Diskriminierung erfahren als Mädchen. Das hat bei mir ein Bewusstsein dafür erzeugt, dass diese Behandlung unfair und nicht akzeptabel ist. Ich musste etwas dagegen tun. Zudem komme ich aus einer Familie, die mit der Kommunistischen Partei des Irak (IKP) verbunden war. Meine Onkel waren Mitglieder der Partei. Als sie mein Gefühl für Ungerechtigkeit sahen, haben sie versucht, mich für die Partei zu mobilisieren. Ich war damals 14 oder 15 Jahre alt. Es war mir ernst, mehr darüber zu lesen und mich zu bilden, um zu verstehen, wie man diese unfaire Behandlung beenden könnte.

Als ich dann später direktere Verbindungen zur IKP entwickelte, wurde ich zu einer sogenannten «Freundin der Partei». Ich war damals immer noch sehr jung. Ich verstand dann, dass es nicht nur in meiner Familie Unterdrückung gab, sondern in der gesamten Gesellschaft. Ich verstand, dass nicht nur mein Vater «ein Diktator» zu sein schien, sondern ich begann, verschiedene Diktatoren in meiner weiteren Umgebung zu sehen. Etwa die Polizei auf den Straßen, den Schulleiter und dann eben Saddam Hussein, der damals, 1979,  an die Macht gekommen war. Ich erweiterte mein politisches Verständnis. Als ich eine Freundin der Partei war, habe ich mit der Person, die von Seiten der Partei für mich verantwortlich war, oft nur über die Unterdrückung und die Gewalt seitens des Regimes geredet. Aber ich wusste nicht, welche Alternative die IKP für uns hatte. Ich dachte, sie wollten einfach nur das Regime stürzen, aber was war die Alternative?

Mit der Baathifizierungspolitik in den 1980ern wurden alle Schüler*innen in den Oberschulen und Universitäten dazu gezwungen, Mitglied der Baath-Partei zu werden. Damit stellte sich mir das Problem: sollte ich Mitglied werden, obwohl ich die Baath-Partei ablehnte, oder sollte ich die Schule verlassen?

Ich entschied mich dafür, die Schule zu verlassen. Die nächsten fünf Jahre arbeitete ich heimlich mit der IKP. Es war richtige geheime Untergrundarbeit.

Wie war es während der Zeit von Saddam Hussein im Untergrund zu arbeiten? Es herrscht oft der Eindruck vor, dass er es geschafft hatte, alle Formen organisierter Opposition zu zerstören. Aber was waren die Räume, die ihr noch hattet? Welche Form von Opposition konntet ihr ausüben?

Das wichtigste war, Kontakt mit unseren Mitgliedern zu behalten, da es sehr gefährlich war, neue Leute für die Partei zu gewinnen und wir Leuten, die wir nicht kannten, nicht so einfach vertrauen konnten. Also versuchten wir, uns nur Leuten anzunähern, die wir kannten. Dennoch wurden viele Genoss*innen verhaftet, ihre Häuser gestürmt und getötet. Wenn es um die Verteilung unserer Zeitung «Der Weg des Volkes» (Tareq al-Sha´b) ging, dann war es so, dass wir normalerweise nur eine einzige Kopie bekamen und wir dann per Hand weitere anfertigen mussten.

Wir hatten sehr dünnes Durchschlagpapier und haben anderes sehr dünnes Papier darunter gepackt und dann begonnen, die Zeitung abzuschreiben. Dann haben wir die Zeitung an jene verteilt, denen wir am meisten vertrauten.

Am Gründungstag der Partei, dem 31. März, haben wir politische Slogans auf kleines Papier geschrieben und um kleine Schokoladentafeln gewickelt. Dann sind wir in Busse, aufs zweite Deck und wenn das leer war, dann haben wir begonnen, die Schokolade auf den Sitzen zu verteilen. So haben wir im Stillen Propaganda für die Partei gemacht. Die Leute haben also die Informationen erhalten, aber es gab keinen Weg, uns zu kontaktieren, falls sie Interesse gehabt hätten. Wir konnten nicht öffentlich agitieren.

Wir haben auch in Fabriken gearbeitet, um die Partei finanziell zu unterstützen. Mein Gehalt betrug 70 Dinar, was heute ungefähr 700 Dollar entspricht. Ich habe den gesamten Betrag an die Partei abgegeben.

In den 1990er Jahren wurde in Kurdistan-Irak eine No-fly Zone eingerichtet, und gleichzeitig hast du dich den Ideen des Arbeiterkommunismus zugewandt. Wie hat dieses neue Verständnis deine Analyse der Frage, wie sich das irakische Regime an der Macht hält, beeinflusst?

Unser Kampf war damals gegen das Regime des Diktators Saddam Hussein gerichtet. Seitdem wir aber die Ideen des Arbeiterkommunismus, inspiriert von Mansour Hikmet, kannten, haben wir das Baath-Regime innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft kontextualisiert. Die kapitalistische Klasse hat verschiedene ideologische Linien und zeigt sich in verschiedenen politischen Systemen. Seine Diskurse sind arabischer Nationalismus, Liberalismus und politischer Islam. Wir begangen also eine Klassenanalyse anzuwenden, anstatt eines populistischen Diskurses des «Widerstands gegen die Diktatur».

Du hast den Irak-Krieg 2003 abgelehnt, der einen Wendepunkt für Iraks politisches System bedeutete. Mit Saddam Husseins Sturz begann die Besatzung durch die USA. Wie hat sich dies ökonomisch auf den irakischen Staat und die irakische Gesellschaft ausgewirkt?

Die Privatisierung hatte ja bereits unter Saddam Hussein nach dem Iran-Irak-Krieg von 1980-1988 begonnen. 1987 begann Saddam Fabriken aus Staatsbesitz an führende Mitglieder der Baath-Partei und Familienangehörige zu verkaufen. Dennoch ist nach 2003 die Privatisierung intensiviert worden. Paul Bremer (damaliger Chef der Koalitions-Übergangsverwaltung der Besatzungsmacht im Irak) hat nach einer Konferenz im Mai 2003 in Jordanien bekannt gegeben, dass über 200 staatseigene Firmen verkauft werden sollten. Viele weitere Maßnahmen, die den Irak in einen neuen neoliberalen Staat verwandeln sollten, der ausländischen Investitionen und Investitionen  in  Öl-Felder und anderen Industrien offen ist, wurden bekannt gegeben.

Was war hier die Position der islamischen Parteien?

Rhetorisch haben einige islamische Parteien das gutgeheißen, aber in der Praxis waren sie dagegen. Das lag vor allem daran, dass diese Parteien staatliche Vermögenswerte kontrollieren und dies hieß, dass der Verlust der Kontrolle über die Vermögenswerte ein Verlust ihrer ökonomischen und politischen Vorteile bedeutete.

Das sogenannte Muhassasa-System oder Quotensystem stellt die Strategie des Staates dar, Machtressourcen zwischen den regierenden Parteien durch eine Quote aufzuteilen. Wenn also die Schiit*innen 60 Prozent der politischen Repräsentation haben, dann erhalten sie auch 60 Prozent der Ministerien. Die anderen 40 Prozent sind dann zwischen den Sunnit*innen und Kurd*innen aufgeteilt. Als der schiitische Wahlblock die Wahlen gewonnen hatte, haben sie die Positionen im Staat von oben nach unten verteilt, angefangen bei den Ministerposten. Zusätzlich dazu und da die Korruption so stark ist, haben die Parteien die finanziellen Ressourcen des Staates dafür genutzt, sich selbst, ihre eigenen Projekte, Milizen und affiliierte NGOs zu finanzieren. Sie haben auch Gehälter für «Geisterangestellte» bezahlt, das sind Personen, die nicht dafür da sind, zu arbeiten, sondern nur dafür, Gehälter zu erhalten. Da dies alle machen, wird niemand dafür zur Rechenschaft gezogen. Sie betrügen damit also den Staat und die Regierung, für die sie verantwortlich sind. Und wir Bürger*innen erhalten schließlich keine Dienstleistungen durch den Staat. Diese Parteien haben also ein Interesse daran, dass diese Firmen in der Hand des Staates bleiben und nicht privatisiert werden. Jedes Ministerium ist eine Einkommensquelle. Gleichzeitig gibt es auch politische Vorteile. Die Parteien stellen ihre Unterstützer*innen ein und sichern sich somit neue Stimmen zur Wahl.

Ähnlich wie die IKP waren die islamischen Parteien in starker Opposition zu Saddam Hussein und haben im Iran und anderswo im Exil gelebt, bis sie 2003 zurückgekommen sind. Wie beliebt sind sie?

Seitdem ich 2004 wieder in den Irak zurückgekehrt bin, bin habe ich gesehen, dass die Leute der Meinung sind, dass die islamischen Parteien Diebe seien. Sie haben gesehen, wie unter der Führung der islamischen Parteien Infrastrukturprojekte angefangen und niemals beendet werden. Jeder weiß, dass sie Geld nehmen und dann nichts damit machen. Die Leute begannen sogar die Mentalität der islamischen Parteien mit der der Baath-Partei zu vergleichen. Die sinkende Beliebtheit dieser Parteien zeigt sich in den schlechten Wahlergebnissen. Das Wahlergebnis der Wahlen im letzten Jahr hat das Ausmaß der Frustration unter den Leuten gezeigt. Die Wahlbeteiligung betrug nur 44,52 Prozent.

Auf der anderen Seite haben in den letzten acht Jahren große landesweite Demonstrationen stattgefunden und finden jetzt im Juli 2019 noch statt. Die Menschen sind auf die Straßen gegangen, um Arbeitsplätze, Dienstleistungen zu fordern, und das in Gegenden im Zentral- und Südirak, die normalerweise als «schiitisch» gelten. In den westlichen Gegenden des Irak, die als «sunnitisch» gelten, sind die Menschen frustriert über die schiitisch geführte Regierung. Dies ist einer der Gründe, warum sich einige von ihnen al-Qaeda und ISIS angeschlossen haben. Die Entstehung von ISIS und die Niederlage des Staates in diesen Gegenden ist Beweis für das Scheitern der herrschenden schiitischen Klasse.

Die Befreiung Mosuls von ISIS 2017 und die Wahlen im Mai 2018 haben neue Allianzen entstehen lassen, die die schiitischen islamischen Parteien und jene, denen die Unterstützung von ISIS vorgeworfen wurde, zusammengebracht haben. Dies hat auch Wut gegenüber den schiitisch-islamischen Parteien hervorgerufen. Es war der klare Beweis für jene, die die schiitischen Milizen oder schiitisch politischen Parteien unterstützt hatten, dass es die so oft angeführte Verteidigung einer «schiitischen Doktrin» nicht gab. Es gibt lediglich das pure Interesse der schiitischen politischen Parteien und die Erhaltung ihres Anteils an Macht und Reichtums. Insbesondere junge Leute in der Hashd al-Sha´bi, den Volksmobilisierungskräften, die mit anderen islamischen Parteien gegen ISIS gekämpft hatten, waren sehr verärgert. Sie hatten das Gefühl verraten worden zu sein. Einer von ihnen sagte mir:

Wir sind kämpfen gegangen und wurden umgebracht. Wir haben unsere Freunde verloren und jetzt sitzen die dort und verteilen einfach Positionen und Reichtum. Warum mussten wir dann all das durchmachen?

Weil die Menschen so frustriert waren, haben sie sich den Protesten 2018 angeschlossen und nehmen auch immer noch an Demonstrationen teil. 2015 konnte man in den Straßen den Slogan «Im Namen der Religion haben uns die Diebe bestohlen» [b-ism ad-din bakuna al-haramiya]  hören. Als  2018 die Büros der islamischen Parteien und Milizen niedergebrannt wurden, beschuldigte man die Demonstranten, das getan zu haben. Im Juli 2019 haben die Protestierenden das Gebäude des Stadtrats von Al-Islah, einer kleinen Stadt in Nasriya, angezündet, während die Ratsmitglieder sich noch darin befanden. Die Wut der Leute und der arbeitslosen Jugend spitzt sich gegen die schiitischen politischen Parteien zu.

Der Irak hatte jahrzehntelang die stärkste Arbeiter*innenbewegung in der Region, bis die Baathisten diese in den 1970ern einfach in ein eigenes Werkzeug umwandelten und alle nicht-baathistischen Gewerkschaften verboten haben. Trotz dieser Unterdrückung haben viele Iraker*innen sich nach 2003 wieder in Gewerkschaften organisiert. Was ist ihre Rolle heute - mehr als 15 Jahren nach dem Sturz des Systems von Saddam Hussein?

Nach dem Sturz des Regimes in 2003 haben viele Gewerkschaftsaktivist*innen ihre Gewerkschaften reformiert oder neue gegründet und sich in öffentlichen Sektoren wie Öl und Energie engagiert. Sie haben Sit-ins, Demonstrationen und Proteste abgehalten. 2009 stellten sich die Arbeiter*innen und Gewerkschafter*innen gegen die Etablierung der «Production Sharing Agreements» (PSAs) im Ölsektor. Sie waren der Meinung, dass irakische, staatsgeführte Firmen eher als private Firmen die Kapazität hätten, Öl zu fördern und Ölfelder zu erforschen. Aber um den Widerstand und die Proteste zum Schweigen zu bringen, hat der damalige Ölminister eine neue Politik angewandt. Er bezog sich auf Gesetze aus der Zeit von Saddam Husseins und meinte: «Wir haben kein Gesetz, welches Arbeiter*innen erlauben würde, Gewerkschaften im öffentlichen Sektor zu gründen».

Entsprechend dieser Politik würde jede*r Arbeiter*in oder Gewerkschaftsaktivist*in, der*die die Erdölförderung beeinträchtigt, entsprechend dem Anti-Terror Gesetzes Nr. 4, vor Gericht gestellt werden. Dies hat die Aktivist*innen geschwächt und wir haben in beiden Sektoren, Öl und Strom, Gewerkschaften verloren. Die Arbeiter*innen haben versucht, über die Gründung von Organisationen, die sie als Koordinationskomitees, tansiqiyyat oder lijan, bezeichneten, dem Verbot auszuweichen. Das waren die neuen Organisationsformen, die sie entwickelten, um ihre Forderungen zu verteidigen. Heute agieren die Gewerkschaften außerhalb des öffentlichen Dienstes. Sie üben Druck auf die Regierung aus, neue Gesetze zu erlassen, um ihr Recht zu bewahren, ihre eigenen Organisationen für den öffentlichen Sektor zu gründen.

Iraker*innen gehen immer wieder auf die Straße, um ihrem Unmut über die Situation Luft zu machen. 2011 gab es Proteste im Zentralirak und in Kurdistan-Irak, dann wieder 2015 und 2018. Sie alle waren mit heftiger Gewalt durch den Staat konfrontiert. Wie siehst du das? Was haben diese Proteste gemeinsam und wo unterscheiden sie sich?

Die Hauptforderungen der Leute sind Arbeitsplätze, staatliche Dienstleistungen, sauberes Wasser und Strom sowie unbefristete Jobs im öffentlichen Sektor.

Die Demonstrationen von 2011 wollten Reformen, Arbeitsplätze, Dienstleistungen, ein Ende der Korruption und ein Ende der Vereinbarungen zum Quotensystem. Diese Forderungen wurden auch 2015 fortgesetzt, aber mit einem veränderten Diskurs: Die Demonstrant*innen wollten die islamischen Parteien bloßstellen. Es wurde keiner einzigen islamischen Figur die Teilnahme an den Protesten erlaubt. Wenn ein Imam bei den Protesten erschien, wurde er einfach rausgeschmissen. Das ging über ein Jahr so und hat sich auf anderen Städte ausgeweitet. Jeden Freitag fanden Proteste statt. 2015 gab es aber auch eine neue Entwicklung, die die Proteste spalten sollte. Dies war die Allianz zwischen Muqtada as-Sadr[1]  und der Irakischen Kommunistischen Partei (IKP). As-Sadr hat an den Protesten teilgenommen und erklärt, er sei für die Reformen, hatte aber Forderungen aufgestellt, die komplett unterschiedlich von jenen der Leute war. Linke waren total geschockt. Dies hat zur Spaltung der Bewegung geführt. Einige verließen  die Proteste aufgrund der Präsenz  von as-Sadr innerhalb des Al-Ahrar Blocks, der seit den 2014 Wahlen die zweitgrößte Kraft im Parlament war. Also ist er doch für den Zustand verantwortlich, und wir protestieren gegen ihn. Jene, die sich abspalteten, wurden «madaniyun» (Zivilisten) genannt. Jene die weitermachten, wurden als «mustamirun» (Weitermacher) bezeichnet und gehörten überwiegend der IKP an.

Dennoch begannen die meisten islamischen Parteien ihren Diskurs zu ändern und sich zivile Namen zu geben. Alle sprachen auf einmal von «zivilen Rechten» und dem «zivilen Staat».

Aber das ist doch ein Erfolg?

Die Proteste hatten tatsächlich diesen Einfluss auf die islamischen Parteien. Sie begannen zu sagen, dass sie Iraker*innen seien und gaben den konfessionellen Diskurs auf. Außer diesem Diskurswandel fanden aber keine wirklichen Veränderungen mit Bezug auf die Kernforderungen der Demonstrant*innen nach Arbeitsplätzen und staatlichen Dienstleistungen statt.

2018 ging es nicht mehr einfach nur um Diskurse. Diesmal gingen die Protestierenden zu den Erdölfeldern und umzingelten diese. Sie gingen auch an den Hafen und verlangten von der Marine, die Öltanker nicht auslaufen zu lassen. Sie haben die Grenze zum Iran geschlossen und die Büros der islamischen Parteien wurden in Brand gesetzt. Diese Proteste waren also viel radikaler als die vorherigen.

Wenn man sich anschaut, was die Protestbewegung braucht, dann kann man sehr leicht ihre Schwächen feststellen: Sie braucht eine Führung, eine klare Strategie und einheitliche Forderungen. Wir sollten nicht so viele verschiedene Komitees haben, die nicht miteinander verbunden sind. Die andere sehr wichtige Sache ist, die Massen von der Agenda der islamischen Parteien loszulösen. Wir haben gesehen, wie as-Sadr versucht hat, die Massen an sich zu reißen. Nun wollen das auch die anderen islamischen Parteien tun.

Sie reden vom Kampf gegen Korruption, dem Fehlen staatlicher Dienstleistungen, der Arbeitslosigkeit und dem Quotensystem, als wären sie nicht für all das verantwortlich. Sie spielen mit den Forderungen der Menschen. Wir als Partei der Arbeiterkommunist*innen, haben wiederholt davor gewarnt, dass Leute in diese Fallen tappen. Wir haben in unserer Erklärung im September 2018 dazu aufgerufen, dass sich Leute von unten nach oben organisieren durch die Gründung von Stadtteilkomitees oder Räten. Sodass die Menschen zusammen kommen, ihre Kräfte vereinigen, ihre Vertreter*innen direkt wählen, um so Entscheidungen zu fällen, was die Demonstrationen und andere Aktionsformen angeht. Dies ist der Versuch, der Bewegung einen Organisationsgrad, Führung und eine klare Perspektive zu verleihen. 

Wie organisieren sich die Leute derzeit?

Das sind kleine, auf Freundschaften- oder Nachbarschaften und einer gemeinsamen Geschichte basierende Gruppen. Diese Strukturen sind aber weder stabil, noch entsprechen sie einem organisierten System oder haben strategische Ziele. D.h. sie können sich schnell im Streit verlieren und auflösen.

Der Protest auf Plätzen funktioniert nicht mehr, man muss den Protest zu den Vororten bringen und kontrollieren. Wir müssen Leute auf lokaler Ebene organisieren.

Sind die vorgeschlagenen Bottom-up-Strukturen wirklich so viel passender für eine sozial so gespaltene Gesellschaft. Könnten sie nicht auch Konfessionalismus reproduzieren?

Gerade weil wir eine Gesellschaft sind, die in verschiedene Klassen gespaltet ist, brauchen wir Vertreter*innen, die die Masse der Arbeiter*innen, Arbeitslosen, prekär Beschäftigten, Frauen und Männer basierend auf ihrer Klassenstellung und ihrer Beziehung zu den Produktionsmitteln repräsentieren. Wir wollen politische Repräsentation für jene, die überhaupt nichts besitzen, nicht für jene, die den Reichtum der Gesellschaft kontrollieren. Als Arbeiterkommunist*innen wollen wir einen Staat der politisch und ökonomisch durch die Arbeiter*innenklasse und seine Vertreter*innen geführt wird. Wir brauchen dafür die Räte und eine Vision, dass der kapitalistische Staat keine Lösung für die Probleme der Menschen darstellt.

Gehen wir nochmal zurück zur Unterdrückung der Proteste. Einige Menschen in Basra sind ja auch umgekommen während der Proteste. Was ist die Strategie der Regierung im Umgang mit den Protesten? Und erhalten sie Unterstützung von anderen Staaten?

Wir haben zwei Gruppen, die die Protestierenden unterdrücken. Zum einen sind es Regierungskräfte und zum anderen die Milizen. Die Regierungstruppen verhaften Protestierende und bringen sie vor Gericht oder lassen sie etwas unterschreiben, in dem sie versprechen, nie wieder an Protesten teilzunehmen. Die Regierung benutzt die Nationale Armee, den nationalen Sicherheitsapparat oder Spezialeinheiten, um die Proteste zu kontrollieren. Diese wurden natürlich durch die Amerikaner trainiert, und ihre Waffen sind aus den USA. Einer unserer Genossen hat uns erzählt, wie sie 10 km zu einem Ölfeld marschiert sind, und wie sie dann von den Regierungstruppen angegriffen wurden, um sie davon abzuhalten, die Ölfelder zu erreichen.

Die Milizen wiederum werden vom Iran unterstützt. Sie entführen Männer und Frauen, attackieren die Protestierenden und gehen mit großer Gewalt gegen sie vor. Jetzt, im Juli 2019, wurde wiederholt von Verhaftungen durch Milizen in Basra berichtet. Von daher könnte man annehmen, dass beide Kräfte, die Regierung und die Milizen, sich gegenseitig in der Unterdrückung der Protestierenden unterstützen. Wie dem auch sei, die Proteste scheinen so schnell nicht aufzuhören. Die Leute wollen immer noch staatliche Dienstleistungen und Arbeitsplätze und sie wissen genau, dass der Staat dafür die finanziellen Ressourcen hat. Was die Leute also wirklich wollen, ist eine andere Verteilung der Reichtümer und dass auf ihre Bedürfnissen eingegangen wird.


[1]  Muqtada al-Sadr ist ein irakischer schiitischer Geistlicher, Politiker und Milizenführer. Er ist der Anführer der schiitischen Miliz Saraya al-Salam (gegründet 2014), einer Nachfolgeorganisation der Mahdi-Armee, die bis zu ihrer Auflösung 2008 gegen die US-geführten Besatzungstruppen kämpfte.