Nachricht | Parteien- / Bewegungsgeschichte - Südasien - Globale Solidarität Ho Chi Minhs Gedanken über internationale Solidarität

Ein Interview mit Tran Tuan Phong vom Institut für Philosophie der Vietnam Academy of Social Sciences

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Ho Chi Minh Büste in einem Konferenzraum der Nationalversammlung
Ho Chi Minh Büste in einem Konferenzraum der Nationalversammlung Foto: Philip Degenhardt

Der 2. September markiert in verschiedener Hinsicht einen nationalen Feiertag in Vietnam. Am 2. September 1945 ruf Ho Chi Minh die Republik Vietnams und damit die Unabhängigkeit aus. 24 Jahre später im Jahr 1969 starb er an selbigem Tag in Hanoi. Sein Todestag jährt sich dieses Jahr zum 50. Mal. Neben seiner großen Bedeutung für Vietnam wurde er auch im geteilten Deutschland zur Schlüsselfigur der Proteste der 68er-Bewegung gegen den Stellvertreterkrieg in Vietnam und der Forderung nach internationaler Solidarität.

Was können wir in einer sich schnell verändernden und globalisierten Welt noch von seinen Gedanken zur internationalen Solidarität lernen, wo entscheidende Probleme nicht mehr nur von einzelnen Staaten gelöst werden können sondern internationale Zusammenarbeit wichtiger zu sein scheint als je zuvor?

Darüber sprach Christian Süper mit Dr. Tran Tuan Phong, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Philosophie der Vietnam Academy of Social Sciences.
 

Christian Süper: Dr. Phong erst einmal vielen Dank, dass sie die Zeit gefunden haben mit uns über Präsident Ho Chi Minh zu sprechen. Der 2. September 2019 stellt einen besonderen Nationalfeiertag für Vietnam dar. Zum Einen jährt sich der Tag an dem Ho Chi Minh die Unabhängigkeit erklärte zum 74. Mal. Zum Zweiten markiert er aber auch den 50. Todestag von Ho Chi Minh. Können Sie uns etwas näher bringen, welche Rolle er auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod in der vietnamesischen Gesellschaft inne hat?

Dr. Phong: Zunächst einmal vielen Dank für Ihr Interesse an unserem Präsidenten Ho Chi Minh. Um Ihre Frage zu beantworten, möchte ich ganz zu Anfang sagen, dass Präsident Ho Chi Minh für die vietnamesische Gesellschaft etwas ganz Besonderes ist. Für die Vietnames*innen ist Präsident Ho Chi Minh nicht nur der Gründer der Kommunistischen Partei Vietnams und der Erste Präsident Vietnams. Er wird darüber hinaus auch als eine Art Verwandter der Familie angesehen. Die Leute nennen ihn Bác Hồ (Onkel Ho) oder einfach Bác (Onkel).

Heute stellen die Ideen von Ho Chi Minh zusammen mit dem Marxismus und Leninismus die Grundlage für Gedanken, Leitlinien und Handeln der Kommunistischen Partei dar. Die Partei bestätigt das, wenn sie sagt: «Die Gedanken Ho Chi Minh’s waren ein System tiefgreifender Standpunkte zu grundlegenden Fragen der vietnamesischen Revolution. Sie waren die kreative Anwendung und Entwicklung marxistisch-leninistischer Theorien auf die spezifischen Bedingungen Vietnams. Diese Ansichten übernahmen und entwickelten die Traditionen dieser Nation und bildeten so die Quintessenz der menschlichen Kultur aus.» Ho Chi Minh war der Ansicht, dass die nationale Befreiung die grundlegende Voraussetzung für die Entwicklung des Landes ist, die nationale Unabhängigkeit dabei gleichzeitig mit dem Sozialismus in Einklang zu bringen ist. Durch die Erlernung und das Befolgen dieser Gedanken Ho Chi Minhs, konnte die vietnamesische Revolution große Erfolge im Kampf um die nationale Erlösung in der Vergangenheit und im laufenden Prozess der nationalen Erneuerung, dem Aufbau und der Verteidigung erzielen. Für seinen herausragenden Beitrag zur Nation und dem Fortschritt der Menschheit wurde Präsident Ho Chi Minh 1987 außerdem von der UNESCO als «vietnamesischer Held der nationalen Befreiung und großer Mann der Kultur» ausgezeichnet. Mit seinen tiefen Gedanken und großen Beiträgen zur Revolution und für sein Lebensmodell zeichnete sie ihn 1987 außerdem aus als «vietnamesischer Held der Befreiung und herausragende kulturelle Persönlichkeit.»

Und hat sich an dieser Wertschätzung Ho Chi Minh’s und seiner Rolle in den vergangen Jahren etwas geändert?

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und der sozialistischen Länder Osteuropas in den neunziger Jahren zwang unsere Partei, über das Entwicklungsmodell Vietnams nachzudenken. Wir erkannten, dass der Zusammenbruch das Scheitern eines bestimmten Modells des Sozialismus war — das des sowjetischen Sozialismus — nicht aber der Zusammenbruch des Sozialismus als sozioökonomische Formation, an welcher sich die Menschen orientierten. Der reale Zerfall des Sozialismus in der Sowjetunion und dem Osten Europas erforderte daher, dass sich die übrigen sozialistischen Länder, einschließlich Vietnam, aktiv umstrukturieren und reformieren. Als das sowjetische Sozialismusmodell in Vietnam nicht mehr funktionierte und unser Land den Bedrohungen einer ernsten Krise ausgesetzt war, erkannten wir also, dass es für Vietnam notwendig war, gemäß den neuen historischen Bedingungen einen eigenen Weg zum Sozialismus zu finden. Diese Zeit um das Jahr 1986 in der Vietnam mit dem Erneuerungsprozess begann, war so auch die Zeit, in der unsere Partei mehr und Tiefergehendes über Ho Chi Minh’s Gedanken lernte. Denn in Ho Chi Minh’s Gedanken finden sich viele wertvolle Ideen über den Sozialismus wieder, die im Hinblick auf den Kontext der Entwicklung angemessen erscheinen. Er war der Erste, der marxistisch-leninistische Theorien kreativ entwickelte und auf die speziellen Bedingungen Vietnams angewendet hat. Die traditionellen Werte der Nation übernehmen und weiterentwickeln, die Essenz der menschlichen Kultur mit aufnehmen und ein System umfassender und tiefgreifender Standpunkte zur vietnamesischen Revolution schaffen.

Ho Chi Minhs Wahl des Sozialismus hängt mit seinem revolutionären Zweck zusammen. Das Streben nach Glück für die Menschen, für die Gesellschaft und für die Nation war das höchste Ziel des revolutionären Lebens von Ho Chi Minh. Ausgehend von seiner Liebe zu seinem Land erkannte er, dass der Kommunismus der richtige und angemessene Weg war um das Land zu befreien, die Unabhängigkeit des Volkes wiederherzustellen und vom Joch des Kolonialismus und Feudalismus zu befreien. «Auf der dritten Internationalen war es zuerst der Patriotismus, noch nicht der Kommunismus, der mich dazu brachte, Vertrauen in Lenin zu haben. In der schwierigen Situation in der ich den Marxismus und Leninismus parallel zu anderen praktischen Aktivitäten studieren musste, kam ich Schritt für Schritt auf die Tatsache, dass nur der Sozialismus und Kommunismus die unterdrückten Nationen und arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt aus der Sklaverei befreien können.» Ho Chi Minh hat durchaus seine eigene Art über Sozialismus zu sprechen. Für ihn sorgt «Sozialismus dafür, dass sich alle Menschen wohl fühlen und zufrieden sind.» «Das Ziel des Sozialismus ist es, den Lebensstandard der Menschen ständig zu verbessern.»

Kurz und klar gesagt, besteht Sozialismus darin, die arbeitenden aus der Armut zu befreien und ihnen neben Arbeit auch Wohlstand und Glück zu bringen.

Die Kommunistische Partei Vietnams hat die Ansichten von Ho Chi Minh zum Sozialismus übernommen und kreativ weiterentwickelt. Das übergeordnete Ziel in Sachen sozialistischer Aufbau in unserem Land lautete: «Reiche Menschen, starkes Land, demokratische, gerechte und zivilisierte Gesellschaft.» Die Menschen sind nicht nur die direkten Führer, die die Kreativität und Autonomie bei der Verwirklichung dieses Ziels zum Ausdruck bringen, sondern auch die Führer der Macht. Sie sind außerdem diejenigen,  die profitieren von den Errungenschaften und der Entwicklung. Solidarität, Kreativität und die aktive Teilhabe der Menschen werden so Synergien schaffen, um die Entwicklungsziele des Landes zu erreichen. Ho Chi Minh ging davon aus, dass seine Moral und sein Stil alle Bereiche des sozialen Lebens der Menschen in Vietnam durchdringen und so zu nationalen kulturellen Werten werden würden. Und heute ruft unsere Partei dazu auf, Ho Chi Minhs Gedanken, Moral und Stil zu einer festen Grundlage für das soziale Leben und die vietnamesische Kultur zu machen. Alle Vietnamesen sollten sich also dieses großen Wertes bewusster sein.

Ho Chi Minh ist eng Verknüpft mit der deutschen 68er-Bewegung und der Forderung nach internationaler Solidarität. Was waren seine Gedanken zu diesem speziellen Thema?

Die deutsche Bewegung von 1968 sowie die Proteste gegen die aggressive Vorgehensweise der Amerikaner in Vietnam in den USA und vielen anderen Ländern der Welt in den 60er und 70er Jahren hat maßgeblich zum Sieg des vietnamesischen Volkes im Krieg gegen den amerikanischen Imperialismus beigetragen. Ho Chi Minh hatte die sehr wichtige Rolle der internationalen Solidarität für die Vietnames*innen in unserem Kampf für die nationale Vereinigung erkannt.

Ho Chi Minh sagte 1964 in Hanoi auf einem internationalen Kongress für mehr Solidarität mit den Menschen in Südvietnam und ihrem Kampf gegen die amerikanischen Aggressoren: «Ich glaube fest daran, dass unsere Landsleute im Süden durch die starke Unterstützung der Menschen in den sozialistischen Ländern, der Menschen in den Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas sowie den weiter entwickelten Vereinigten Staaten und anderer Länder, nur noch stärker gegen die amerikanischen Imperialisten und ihrer Handlanger kämpfen werden. Südvietnam wird definitiv befreit werden. Der ehrwürdige Kampf zur Realisierung von Frieden sowie der Einheit des Landes für unser vietnamesisches Volk wird vollständig siegreich sein.»

In vielerlei Hinsicht ist der Sieg Vietnams über den amerikanischen Imperialismus nicht nur ein Sieg für die revolutionären Kräfte Vietnams, sondern gleichzeitig auch für die progressiven Kräfte der ganzen Welt. So sagte Ho Chi Minh dazu: «Alle Erfolge unserer Partei und unseres Volkes sind untrennbar verbunden mit der brüderlichen Unterstützung der Sowjetunion, der chinesischen Volksrepublik sowie den weiteren sozialistischen Ländern, der internationalen Bewegungen der Kommunist*innen und Arbeiter*innen, der nationalen Befreiungs- sowie der internationalen Friedensbewegung. Wenn es uns gelungen ist, alle Schwierigkeiten zu überwinden und unsere arbeitende Klasse sowie unser Volk zu den großen Siegen geführt zu haben, dann deshalb, weil die Partei die revolutionären Bewegungen unseres Landes mit den internationalen Bewegungen der Unterdrückten sowie der Arbeiter*innenbewegung verknüpft hat.» Ho Chi Minh war sich darüber im Klaren, dass «die Stärke, Größe und Ausdauer Vietnams in erster Linie aus der Solidarität und Unterstützung der Völker weltweit herrührt. (...) Internationale Solidarität ist für uns von enormer Bedeutung. Es ist natürlich richtig, das wir uns zu aller erst auf uns selbst verlassen müssen. Glücklicherweise haben wir die physische und mentale Unterstützung anderer Länder. Unsere Stärke kommt jetzt also sowohl von innen als auch von außen.»

Der Sieg Vietnams ist auch der Sieg der internationalen Solidarität, der Solidarität für den Frieden und den Fortschritt der Menschheit. Generalleutnant Wiktor Iwanowitsch Filippow, ehemaliger russischer Militärspezialist, äußerte sich dazu folgendermaßen: «Der Kampf Vietnams um Freiheit und Unabhängigkeit vom US-Imperialismus war gerechtfertigt und hat auf der ganzen Welt viel Unterstützung erfahren. Auch in den USA selbst. Anhänger*innen der Friedensbewegung auf der ganzen Welt zeigten ihre Unterstützung für die Soldat*innen der Befreiung im Kampf gegen die USA und demonstrierten gegen die US-Interventionen und Bombardements im Norden des Landes. Die wirtschaftliche Unterstützung aus Russland, China und anderen trug ebenfalls zum Sieg bei. Vietnam wird zum Symbol für andere Länder die um ihre Unabhängigkeit kämpfen und ein gutes Beispiel für andere Länder den Kriegen um Unabhängigkeit zu folgen.»

Und welche Bedeutung haben diese Gedanken heute noch? Für die vietnamesische Gesellschaft aber auch für Menschen in anderen Ländern, wie Deutschland?

Ho Chi Minhs Gedanken zu Solidarität sind für unsere Partei und unser Volk von großem Wert. Wie Präsident Ho Chi Minh sagte: «Solidarität, Solidarität, große Solidarität; Erfolg, Erfolg, großer Erfolg». Sein Solidaritätsgedanke dient als Grundlage, um alle Landsleute im Kampf um die Unabhängigkeit der Nation zusammenzubringen, allen Menschen Vietnams Freiheit zu verschaffen und allen die Möglichkeit zu eröffnen, ein glückliches Leben zu führen. Während Ho Chi Minh über den Inhalt der Solidarität sprach stellte er einst klar: «Die große Solidarität bedeutet in erster Linie die Solidarität der Mehrheit der Menschen. Die Mehrheit der Menschen, das sind Arbeiterinnen und Arbeiter, Bäuerinnen und Bauern und andere arbeitende Klassen. Das ist die Wurzel der großen Solidarität. Sie ähnelt dabei dem Fundament eines Hauses oder der Wurzel eines Baumes. Nichtsdestotrotz, auch wenn es eine feste Grundlage und gute Wurzeln der Solidarität gibt, ist es notwendig weitere Klassen und Schichten des Volkes zu vereinen». Der Kern der großen nationalen Solidarität ist das Bündnis zwischen Arbeiterinnen und Arbeitern sowie den Bäuerinnen und Bauern. Sie sind die wichtigsten Kräfte für die Festigung und Zusammenführung aller sozialen Schichten und Klassen, aller ethnischen Gruppen, aller Religionen und verschiedener politischer Parteien, auf dem Weg zur Erreichung des Ziels in Form der Befreiung vom Regime der fremden Invasoren. Dies ist eine weitreichende Solidarität, über alle Unterschiede und Spaltungen hinweg, welche die Kräfte im Kampf um nationale Unabhängigkeit sowie das Recht zur Selbstbestimmung des Schicksals und des Glücks jeden und jeder einzelnen ebenso wie der ganzen Nation eint.

Große Solidarität ist daher stets die treibende Kraft für den Kampf um nationale Befreiung und nationale Vereinigung sowie in diesem Falle für den Aufbau eines Vietnams mit «wohlhabenden Menschen, einem starken Land, einer demokratischen, gerechten und zivilisierten Gesellschaft». Und auf unserem heutigen Weg der internationalen Integration hat die Kommunistische Partei Vietnams die Gedanken Ho Chi Minhs zu internationaler Solidarität erfolgreich umgesetzt. Für Ho Chi Minh besteht dabei eine sehr enge Beziehung zwischen der Revolution in Vietnam und der Revolutionsbewegungen weltweit: «Die vietnamesische Revolution ist ein wesentlicher Bestandteil der internationalen Revolution» und «grundsätzlich hängt der gemeinsame Fortschritt von der Entwicklung des Internationalismus ab. Zivilisation ist nur dann von Vorteil, wenn die internationalen Beziehungen ausgebaut und gestärkt werden.» Wie sie sehen können, haben die Kommunistische Partei Vietnams und alle Menschen in Vietnam dank der erfolgreichen und kreativen Gedanken Ho Chi Minhs stets enthusiastische und wertvolle Solidarität und Unterstützung von kommunistischen Anhänge*innen und progressiven Menschen auf der ganzen Welt erhalten. Und wir können durchaus sagen, dass die großen revolutionären Erfolge Vietnams immer mit der Solidarität und Unterstützung der arbeitenden Klasse und der internationalen kommunistischen Kräfte verbunden waren. Die Kommunistische Partei Vietnams erkennt, dass die gegenwärtige Situation eine Kombination aus «nationaler Stärke und den spezifischen Möglichkeiten dieser Zeit ist, eine Kombination aus nationaler und internationaler Stärke. Unter allen Umständen ist es notwendig, den Willen zur Unabhängigkeit und Eigenverantwortung, gleichzeitig aber auch den Geist der internationalen Zusammenarbeit in hohem Masse zu wahren. Die internen Ressourcen zu fördern und gleichzeitig externe zu nutzen, wobei traditionelle und modernen Faktoren kombiniert werden müssen».

Wir können außerdem sehen, dass internationale Solidarität nicht nur für Vietnames*innen eine wichtige Rolle spielt, sondern auch für andere Menschen in der heutigen Welt. Hier sind wir uns einig mit Liliane Danso-Dahmen, der ehemaligen Leiterin des Südostasienbüros der Rosa Luxemburg Stiftung, die einmal sagte, dass die Menschen in den Kämpfen für Frieden, Unabhängigkeit und soziale Gerechtigkeit weltweit zusammenstehen und sich gegenseitig unterstützen müssen.
 

Dr. Phong, vielen Dank dass Sie sich die Zeit für das Interview genommen haben.
 

Übersetzung: Philip Degenhardt, Chritsian Süper