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Ein Monolog über die Folgen deutscher Waffenexporte und die Rolle von Moral und Verantwortung

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Bühnenbild von «Ich, Europa»
Bühnenbild von «Ich, Europa»

Der folgende Bühnentext von Ismail Küpeli ist im Rahmen von «Ich, Europa. Europa in 11 Texten» entstanden. Die Uraufführung fand am 13. Oktober 2018 am Schauspiel Dortmund statt. Der Monolog beschäftigt sich mit den Folgen deutscher Waffenexporte und fragt danach, welche Rolle Moral und Verantwortung für politisches Handeln spielt und spielen sollte. Thematisiert wird auch die staatliche Gewaltpolitik in der Türkei gegen die kurdische Bevölkerung.
 

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er analysiert die Konflikte in der Türkei und im Nahen und Mittleren Osten. Derzeit schreibt er eine Dissertation über die kurdischen Aufstände in der Türkei der 1920er und 30er Jahre. Die Promotion wird durch ein Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert.

Ich, Europa, feierte am 9. November 1989, als die Grenzmauer fiel, die Deutschland und Europa für 28 Jahre gespalten hatte. Viele Menschen starben bei dem Versuch, sie zu überwinden und viele Waffen wurden aufgefahren, um die Mauer und die Spaltung Europas aufrechtzuerhalten. Nun konnte ich endlich auf echten Frieden hoffen und nicht nur darauf, dass die Waffenträger*innen auf beiden Seiten aus Angst vor der gegenseitigen völligen Zerstörung zögerten, ihre Waffen einzusetzen.

Es war eine naive Hoffnung. Weder die Waffen verschwanden, nur weil der Systemfeind verschwunden war, noch kam es zu einem Frieden in Europa, ganz im Gegenteil. In Jugoslawien folgte auf den Kalten Krieg ein brutaler Bürgerkrieg und all die Waffen, die für einen Krieg mit äußeren Feinden produziert und gehortet worden waren, wurden nun gegen Nachbarn und Arbeitskolleg*innen eingesetzt. Jahrelang wurden Menschen niedergemetzelt, gefoltert und vertrieben, bis ein kalter Frieden durchgesetzt war.

In Deutschland schien das alles weit weg zu sein. Das Land war von Freund*innen umgeben, es gab keine feindselige Kraft, die es noch nötig machte, möglichst viele Waffen zu horten. Und schließlich war die Armee des anderen Deutschlands auf der anderen Seite der Mauer aufgelöst worden. Aber ihre Waffen konnte man nicht so einfach entlassen wie die Offiziere und Soldaten einer überflüssigen Armee. Vernichten, verschrotten, unbrauchbar machen dagegen würde gehen. Und das wurde mit einem gewissen Teil gemacht.

Waffen einfach zu vernichten widersprach der funktionalen Logik.

Aber Waffen einfach zu vernichten, ohne dass sie ihrem Zweck dienen können, nämlich Menschen zu verletzten und zu töten, widersprach der funktionalen Logik. Irgendeinen Nutzen, irgendeinen Profit müsste doch dieser Berg an Waffen noch hergeben. Da traf es sich hervorragend, dass woanders solche Waffen händeringend gesucht wurden; nicht um einen äußeren Feind abzuwehren, sondern – so wie Jugoslawien – um gegen die Menschen im eigenen Land eingesetzt zu werden.

Seit 1984 kämpfte die türkische Armee gegen die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Die Türkei war seit drei Jahren bereits ein NATO-Mitgliedstaat, als Deutschland 1955 Teil des militärischen Bündnisses wurde. Die NATO verband die Türkei mit Europa. Sie sorgte einerseits dafür, dass die Türkei östlich von Europa die Interessen des Westens verteidigt. Andererseits sorgte die NATO auch dafür, dass die Türkei in ihren Kampf gegen äußere und innere Feinde vom Westen, von Europa unterstützt wurde. Ganz selbstverständlich galt das auch dann, als die türkische Armee um die PKK zu besiegen, gegen die Zivilbevölkerung im eigenen Land vorging. Genauer gesagt, in den südöstlichen Gebieten des eigenen Landes. Dort, wo seit der Gründung der Türkischen Republik 1923 der türkische Staat den Menschen einprügelte, dass sie Türk*innen seien und keine Kurd*innen, weil es Kurd*innen schlichtweg nicht geben würde. Die Kurd*innen aber beharrten hartnäckig darauf, dass sie Kurd*innen seien. Fünfzehn Jahre führte die Türkei in den kurdischen Gebieten Krieg, um zu beweisen, dass auch der Südosten türkisch sei. Nach den Massentötungen in Dersim 1938 breitete sich Friedhofsruhe in den südöstlichen Gebieten aus und die Kurd*innen sagten nicht mehr öffentlich, dass sie Kurd*innen sind.

Diese Friedhofsruhe wurde immer wieder kurz unterbrochen. Mal veröffentlichten kurdische Autor*innen Texte auf Kurdisch und wurden dafür inhaftiert. Mal versuchten kurdische Politiker*innen öffentlich anzusprechen, dass in der Türkei auch Kurd*innen leben und wurden dafür inhaftiert. Als dies geschah, war die Türkei in die NATO aufgenommen und eine Partnerin des Westens. Als das Schreiben und Reden mit Inhaftierung beantwortet wurde, griff die nächste Generation der Kurd*innen zu den Waffen. Die Antwort des Staates war diesmal nicht Inhaftierung, sondern Krieg.

Seit 1984 wurde also gekämpft. Es war kein Krieg auf gleicher Augenhöhe. Wie auch anderswo, etwa in Vietnam oder in Algerien, war es ein Krieg zwischen einer staatlichen Armee und Guerillaeinheiten. Die Kämpfer*innen der kurdischen Guerillas konnten nicht darauf hoffen, in einer offenen Feldschlacht die Armee zu besiegen, sondern waren darauf angewiesen, schnell zuzuschlagen und anschließend zu verschwinden. Entweder in die Berge, in die Wälder – oder eben in der Bevölkerung. Oder, wie es Mao Zedong, der Begründer des Maoismus und des «bewaffneten Volkskrieges» sagte: «Der Revolutionär schwimmt im Volk wie ein Fisch im Wasser». Wenn die Bevölkerung ein Gewässer ist, in dem Guerillakämpfer*innen verschwinden können, dann ist es nicht überraschend, dass die Gegenseite auch entsprechend handelt. Was aber tun, wenn man den Fisch nicht fangen kann? Dann trocknet man eben die See aus.

Wie fängt man einen Fisch und wie trocknet man einen See aus?

Was bedeuten diese poetischen Formulierungen in der Realität? Wie fängt man einen Fisch und wie trocknet man einen See aus? Schon vor 90 Jahren, bevor Mao Zedong dieses Bild prägte, wusste man in der Türkei wie so etwas funktioniert. Es werden Gebiete auf der Landkarte markiert, die als rebellisch gelten. Es werden Bevölkerungsgruppen markiert, die als illoyal gelten. Anschließend wird die Armee mobilisiert, um die Rebellionen und Illoyalitäten zu beenden. Dörfer werden von Soldaten umstellt, wenn die Bevölkerung sich ohne Widerworte unterordnet, kann sie auf Verschonung und damit auf ein Überleben hoffen. Wenn es jedoch zum Widerstand kommt, noch so leise und so schwach, dann erfolgt die Bestrafung. Die konkrete Bestrafung kann je nach Zeitpunkt oder Laune des kommandierenden Offiziers unterschiedlich ausfallen. Möglicherweise werden nur ein paar Männer, in deren Häuser Waffen gefunden wurden, erschossen und die restliche Bevölkerung kommt mit ein paar Schlägen und Hieben davon. Aber möglicherweise gelten dann alle als Rebell*innen, die es zu vernichten gilt und Menschen werden massenweise umgebracht. So oder so werden die Überlebenden anschließend vertrieben – in die nächste Stadt oder sogar bis in Länder, deren Namen die Geflüchteten zuvor nie gehört hatten.

Neben der «Austrocknung des Gewässers» dienen solche Bestrafungsaktionen dazu, die anderen Dörfer zu warnen. Warnen, vor was? Davor, illoyal gegenüber dem Staat zu sein, davor, auch nur daran zu denken die Guerillakämpfer*innen zu unterstützen und zu verstecken. Aber auch davor, zu glauben, dass sie als Kurd*innen Staatsbürger*innen mit den gleichen Rechten wären wie die Türk*innen im Westen des Landes. «Bestrafe Einen, erziehe Hundert» lautet ein Zitat, das man ebenfalls Mao Zedong zuschreibt. Damit die übrigen Hundert die Bestrafung sehen können, muss sie öffentlich erfolgen. Und auch die Machtdemonstration der staatlichen Gewalt darf nicht versteckt ausgeführt werden, sondern ein jeder und eine jede muss sehen, hören und verstehen: Der Staat kann alles und wird alles unternehmen, um die Illoyalität der Bevölkerung zu brechen, seine Macht zu halten und zu vermehren.

Die deutsche Regierung wusste, was dort geschah.

In diesem Krieg ab 1984 war die staatliche Gewalt deutlich sichtbar. Zehntausende Tote, Millionen vertriebene Menschen, hunderte zerstörte Dörfer – all das war kein Geheimwissen, sondern vielmehr Allgemeinplatz. Und natürlich wussten auch die europäischen Regierung und die politischen Entscheidungsträger*innen in der NATO und anderswo, was es konkret bedeutet, wenn die türkische Armee Erfolge im Anti-Terror-Kampf vermeldete. Die einzelnen Bürger*innen in Europa konnten, wenn sie denn wollten, die Augen verschließen und ignorieren, was im Südosten der Türkei passierte. Die deutsche Regierung hatte die Augen nicht verschlossen und wusste, was dort geschah.

Doch zurück zu den Waffen der zweiten, überflüssigen, deutschen Armee, die es noch zu nutzen galt. Diejenigen Waffen, die ohnehin für einen Krieg gegen eine andere staatliche Armee nichts mehr taugten, weil sie zu veraltet waren, wurden an den NATO-Partner Türkei verschenkt. Kleinwaffen wie Sturmgewehre, die hervorragend für Bürgerkriege und die schnelle Tötung von Zivilist*innen geeignet sind, ebenso wie sowjetische Schützenpanzer, mit denen Soldaten Dorfbevölkerungen in Angst und Schrecken versetzen können. Wie zu erwarten, setzte die türkische Armee diese Schützenpanzer im Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei ein. Und weil dieser Krieg auch ein Krieg gegen die Bevölkerung war, wurden diese Waffen auch gegen Zivilist*innen eingesetzt. Das war nicht überraschend, sondenr völlig im Rahmen der funktionalen Logik des militärischen Einsatzes.

Und es wurden wieder Waffen an die Türkei verschenkt.

Aber eines hatte sich in den letzten 90 Jahren doch geändert. In Europa hatte sich die mediale Öffentlichkeit zu einem relevanten politischen Akteur entwickelt, der nicht gänzlich von der Regierung kontrolliert werden konnte. Die Meldungen über Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen im Südosten der Türkei, die auch mithilfe von deutschen Waffen verübt wurden, erreichten die Medien in Deutschland und der darauf folgende öffentliche Aufschrei zwang die Bundesregierung, die weiteren Waffengeschenke an die Türkei erst einmal auszusetzen. Aber der öffentliche Aufschrei hält nicht lange vor und Regierungen können solche Stimmungswellen durchaus aussitzen. So geschah es auch hier: Die Bundesregierung sprach ein paar kritische Worte mit der türkischen Regierung und ließ sich von der Türkei öffentlich versichern, dass die deutschen Geschenke nicht illegitim eingesetzt würden. Und es wurden wieder Waffen an die Türkei verschenkt.

Özgür Gündem, Ausgabe vom 16. Oktober 1992

Aber natürlich wurden diese Waffen genauso eingesetzt wie zuvor. Am 16. Oktober 1992 veröffentlichte die oppositionelle Tageszeitung Özgür Gündem auf ihre Titelseite eine Bilderserie über einen solchen Waffeneinsatz in der Cizre-Region. Die Brutalität des Vorfalls war nicht einzigartig, aber die vollständige Dokumentation der Tat doch auffällig. Die Tageszeitung taz vom 23. Oktober 1992 beschreibt die Bilder:

«Ein Abschleppkabel wird an ihn angebunden. Der deutsche Schützenpanzer vom Typ BTR-60 schleift den jungen Mann über das Gelände. Zum Schluß wird den kurdischen Bauern des Dorfes Seyh Degirmenci eine Leiche zur Schau gestellt. Die Mörder prahlen mit den toten Opfern. So wird jeder und jede enden, die sich gegen den türkischen Staat erheben.»

Zu diesem Zeitpunkt war allerdings in Deutschland die öffentliche Empörung über die deutschen Waffenschenkungen weitgehend abgeebbt. In der Türkei selbst sorgte die Veröffentlichung der Fotos eher dafür, dass die Tageszeitung Özgür Gündem noch stärker ins Visier des Staates geriet. Noch stärker, weil bereits zuvor vier Redakteure und Autoren der Zeitung getötet worden waren.

Dieses Tat ist inzwischen weitgehend vergessen und über Mesut Dündar, so hieß der junge Kurde, der zur Tode geschleift wurde, gibt eine keinerlei Legenden und Erzählungen. Schließlich ist weder der BTR-60-Schützenpanzer ein griechischer Streitwagen, noch sind der unbekannte türkische Schützenpanzerfahrer und Mesut Dündar die modernen Spiegelbilder von Achill und Hektor. Es ist kein epischer Kampf, sondern nur ein kleiner Ausschnitt daraus, wie staatliche Gewalt sich immer wieder durchsetzt und dabei von mir, von uns, von einem Europa, dass sich vermeintlich dem Humanismus und der Wahrung der Menschenrechte verschrieben hat, unterstützt wird. Wenn die Opfer dieser Gewalt sich Gehör verschaffen wollen, versuchen wir die Augen und die Ohren zu verschließen. Das ist sehr gut nachvollziehbar, denn unsere eigene Rolle in diesem Geschehen zu verstehen, würde unser Selbstbild als gute Menschen ebenso zerstören wie es uns unmöglich machen, weiter untätig zu sein und solche Taten geschehen zu lassen.

Die Geschichte endete nicht im Oktober 1992 genauso wenig wie der Krieg endete. Deutschland, Europa, der Westen, haben weiter Waffen an die Türkei geliefert und weiter diese Taten ermöglicht. Es ist nicht lange her, dass uns wieder Bilder mit deutschen Panzern aus dem türkischen Krieg gegen die Kurd*innen erreichten. Dieses Mal, im Frühjahr 2018, waren es Leopard 2-Panzer, ein weiteres Überbleibsel aus dem Kalten Krieg in Europa, die gegen die autonome kurdische Enklave Afrin in Nordsyrien eingesetzt wurden. Wieder ein Krieg mit hunderten toten Zivilist*innen und hunderttausenden vertriebenen Menschen. Und auch dieses Mal gab es hierzulande nur einen kurzen öffentlichen Aufschrei, Beschwichtigungen der Bundesregierungen, um anschließend weiter zu machen wie bisher.

Die Taten, die Verbrechen, sind ebenso brutal und banal wie unser Wegschauen und Weghören. Mitmachen und geschehen lassen, aber davon nichts wissen wollen.

Das ist Europa, das bin ich, das sind wir.