Nachricht | Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Staat / Demokratie - Partizipation / Bürgerrechte - Asien - Südostasien Wenn Armsein kriminell ist

Widerstand gegen diskriminierende Gesetzgebung in Indien

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Autorin

Judith Fetsch,

Kriminell? Straßenkind in Indien
Kriminell? Straßenkind in Indien Quelle: aamiraimer (pixabay.com)

Auf der Ambedkar Summer School im Mai 2019, die vom Südasien-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung zusammen mit dem indischen Partner Indian Institute for Dalit Studies (IIDS) organisiert wurde, sprach der Aktivist Tarique Mohd über die unerträgliche Situation von Menschen, die ihren Lebensunterhalt erbetteln müssen. Viele Inder*innen wissen nicht, dass Betteln in großen Teilen des Landes nicht nur unerwünscht, sondern auch illegal ist. Es drohen sogar Haftstrafen.
 

Die Autorin Judith Fetsch ist Kulturwissenschaftlerin und war bis Sommer 2019 Mitarbeiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Neu-Delhi.

Während an den roten Ampeln indischer Großstädte Autos, Motorräder und Rikschas warten, drängeln sich Kinder und Erwachsene zwischen den Fahrzeugen. Sie klopfen an Scheiben, winken, bitten um ein wenig Geld oder bieten ihre Waren feil – Landkarten, Zuckerwatte, Rosen, Bücher, billiges Spielzeug. Die Alltäglichkeit dieser Begegnungen lässt nicht vermuten, dass viele dieser Menschen eine Straftat begehen und ihre Freiheit riskieren.

Das Verständnis, dass Betteln ein zu bestrafendes Verhalten sei, wurde durch die britischen Kolonialmachthaber in Indien verbreitet. Im 19. Jahrhundert wurden auf dem Subkontinent die ersten Gesetze erlassen, die Betteln unter Strafe stellten. Seit 1959 regelt der Bombay Prevention of Begging Act, ein Gesetz zur Vermeidung des Bettelns, dies in 22 der 29 indischen Bundesstaaten und Unionsterritorien. Eine nationale Gesetzgebung gibt es nicht. Als Höchststrafe für das Bitten von Almosen gilt die Inhaftierung in Begging Homes (Bettelheime). Diese verfügen meist über noch schlechtere Ressourcen als reguläre Gefängnisse, was sich in den Zuständen der Einrichtungen zeigt. Die Insass*innen würden sowohl ihrer Freiheit, als auch ihrer Würde beraubt, sagt der Aktivist Tarique Mohd. Er berichtet von fehlenden Sanitäranlagen, Ungeziefer und mangelhafter Betreuung der dort untergebrachten Personen.

Tarique Mohd hat Sozialarbeit in der westindischen Hafenmetropole Mumbai studiert. Während dieser Zeit engagierte er sich ehrenamtlich in Bettelheimen und konnte die zum Teil menschenunwürdigen Zustände selbst beobachten. Deswegen wurde er aktiv und gründete die Nichtregierungsorganisation Koshish. Das bedeutet «sich bemühen» und genau das tut der Aktivist seit mehr als zehn Jahren.

Ziel seiner Arbeit ist es, die bestehenden Gesetze abzuschaffen, die Armut kriminalisieren. Denn darin steht: Als Bettler*in gilt, wer über keine finanziellen Mittel für die eigenen Lebensgrundlage verfügt. Außerdem fällt der Straßenverkauf kleiner Waren in vielen Bundesstaaten unter Betteln. Dabei ist gerade das für viele Menschen die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen. Wenn sie dabei von der Polizei aufgegriffen werden, kommen Bettler*innen vor ein eigens dafür eingerichtetes Gericht. Die Strafen reichen von einer Verwarnung bis hin zu zehnjähriger Inhaftierung.

Bei der Ambedkar Summer School berichtete Tarique Mohd, dass viele Bettler*innen nicht wegen ihrer Taten, sondern wegen ihrer Identität bestraft würden. «Oft werden die Menschen allein wegen ihres Erscheinungsbildes verhaftet.» In der Praxis wird vom Staat angestrebt, Armut aus dem öffentlichen Raum zu verbannen – und nicht, Wege aus der Armut in ein würdiges Leben zu ermöglichen.

Für den Leiter von Koshish ist die größte Herausforderung, die Kriminalisierung von Armut gesellschaftlich sichtbar zu machen und einen Dialog darüber anzustoßen. Die Untätigkeit der Politik bei der Armutsbekämpfung spiegelt sich für ihn in der generellen Apathie der indischen Gesellschaft gegenüber Armut wider. «Täglich schlafen Menschen im Freien, riskieren ihre Leben und sind verschiedenstem Missbrauch ausgesetzt. Sie sind unter uns, doch trotzdem sehen wir sie nicht, sie sind die sichtbarsten und gleichzeitig die unsichtbarsten Menschen in der Gesellschaft», fasst er zusammen.

Aus diesem Widerspruch ergibt sich der Arbeitsansatz von Koshish: Den an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen soll Gehör verschafft werden. Die Arbeit der Nichtregierungsorganisation besteht nicht nur in der politischen Arbeit, sondern vor allem darin, Menschen in Not zu helfen und ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Gemeinsam mit der Regierung des ostindischen Bundesstaats Bihar hat Koshish ein neues Programm entwickelt. Menschen, die auf Betteln angewiesen sind, sollen Zukunftsperspektiven geboten werden, um sie in die Gesellschaft zu integrieren. Polizei und Gericht sind nicht länger involviert. Vielmehr gibt es Anlaufstellen, die freiwillig aufgesucht werden können. Es werden Beratungen und medizinische Unterstützung angeboten, außerdem gibt es Unterstützung bei der Vermittlung von Ausbildungsplätzen und Weiterbildungen.

Inzwischen interessieren sich auch andere Bundesstaaten für das Programm. «Die Veränderung von einem bestrafenden Ansatz hin zu einem Integrationsansatz ist einer der größten Beiträge, den Koshish geleistet hat», davon ist Tarique Mohd überzeugt. Für ihn ist klar, Bestrafung hilft Menschen nicht, eine gute Lebensgrundlage zu schaffen. Vielmehr müssen Zukunftsperspektiven durch gesellschaftliche Integration, Arbeit und ein entsprechendes Einkommen geschaffen werden. Langfristiges Ziel der Organisation ist die Verabschiedung eines landesweiten Gesetzes, das eben diesen Ansatz verfolgt.

Im August 2018 hat das Oberste Gericht, das für das Hauptstadtgebiet Delhi zuständig ist, festgestellt: Die Annahme, dass Menschen freiwillig betteln würden, ist falsch. Vielmehr sei dies für viele Personen die letzte Möglichkeit der Existenzsicherung. Mit der Kriminalisierung von Bettler*innen könne der Staat daher das Armutsproblem nicht aus dem Weg räumen. Stattdessen solle er seinen Einwohner*innen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Dass es Bettler*innen gibt, zeige nur, dass der indische Staat hier bislang versagt hat.

Anlass dieses Urteils war eine Petition, die unter anderem der Menschenrechtsaktivist und RLS-Partner Harsh Mander vom Delhier Centre for Equity Studies initiiert hatte. Seit dem Urteil werden bettelnde Menschen nicht mehr verhaftet und somit wird das Fragen nach Almosen nicht länger kriminalisiert. Die Landesregierung Delhi plant nun, die Bettelheime in Einrichtungen nach dem Vorbild in Bihar umzuwandeln. Es ist noch ein weiter Weg hin zur vollständigen Entkriminalisierung von Armut, doch die Verkündigung dieses Urteils hat gezeigt: Die Arbeit von Tarique Mohd zeigt Wirkung.