Nachricht | Soziale Bewegungen / Organisierung - Wirtschafts- / Sozialpolitik - Cono Sur «Chile ist aufgewacht»

Der weitgehend friedliche Massenaufstand könnte einen tiefgreifenden Wandel einleiten. Interview mit der Soziologin Pierina Ferretti.

Information

Ein Demonstrantin aus dem Gesundheitswesen in Santiago am 23. Oktober 2019, dem sechsten Tag der inzwischen landesweiten Proteste. Foto: Pablo Vera / AFP

Was mit dem gewaltfreien Widerstand einiger Schüler*innen und Studierenden gegen die Preiserhöhung des Nahverkehrs begann, hat sich in wenigen Tagen zu den größten Protesten ausgewachsen, die Chile seit dem Ende der Pinochet-Diktatur (1973-90) erlebt hat. Trotz Ausnahmezustand und Ausgangssperre widersetzen sich Hunderttausende auf den Straßen den gewaltsamen Repressionen von Militär und Polizei. Was sie fordern? Ein Leben, das sich zu leben lohnt.

«Sehen wir uns inmitten dieses aufgewühlten Lateinamerikas Chile an», hatte Präsident, Unternehmer und Multimillionär Sebastián Piñera noch am 8. Oktober in einem Fernsehinterview geschwärmt, «es ist eine wahre Oase mit einer stabilen Demokratie. Das Land wächst, wir schaffen 17o.000 Arbeitsplätze im Jahr, die Löhne verbessern sich».

Die Revolte, die nun ganz Lateinamerika in Atem hält, hatte Anfang letzter Woche mit friedlichen Protesten von Schüler*innen und Studierenden begonnen, nachdem der Preis für ein U-Bahn-Ticket umgerechnet um vier Cent auf 1,06 Euro verteuert worden war. Massenweise und tagelang sprangen Jugendlichen über die U-Bahndrehkreuze.

Am Freitag kam schritt die Polizei ein, blitzschnell eskalierte die Situation. In der Nacht auf den vergangen Samstag verhängte der Staatschef für den Großraum Santiago den Ausnahmezustand und eine nächtliche Ausgangsperre, die seither auf das halbe Land ausgeweitet wurden. Am Sonntagabend beschwor er gar einen «Krieg gegen einen mächtigen Feind, der nichts und niemanden respektiert». Am Dienstag ruderte er zurück, entschuldigte sich und kündigte die Erhöhung des Mindestlohns und niedriger Renten, Steuererhöhungen und die Aussetzung der letzten Strompreiserhöhung an.

Mehrere Tage lang begleiteten Bilder von brennenden Barrikaden, Tränengasschwaden, geplünderten Supermärkten, ausgebrannten Bussen und Bahnen, bisweilen auch von Schlagstockeinsätzen von Polizei und Militär und Panzern auf den Straßen der großen Städte die Fernsehnachrichten aus Chile.  18 Tote gab es bis Mittwoch, die meisten von ihnen bei Plünderungen. Menschenrechtsorganisationen prangern Polizeigewalt bis hin zur sexuellen Demütigung von Frauen an.

Am Mittwoch und Donnerstag, als der Gewerkschaftsdachverband CUT zu einem Generalstreik aufgerufen hatte, kam es zu weitgehend friedlichen Massendemonstrationen und Nachbarschaftsversammlungen im ganzen Land. Angeführt wurden sie von der Plattform «Soziale Einheit» mit der CUT, dem Rentenreformbündnis «No más AFP», Studentenverbänden, der feministischen Koordination 8-M sowie anderen Netzwerken und Basisgruppen.

Im Parlament gibt es plötzlich eine breite Mehrheit für den Gesetzesentwurf der kommunistischen Abgeordneten Karol Cariola und Camila Vallejo für die 40-Stunden-Woche (derzeit sind es 45).

Die Regierung setzt auf «Normalisierung» und darauf, dass das Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) Mitte November und der Klimagipfel (COP-25) in den ersten beiden Dezemberwochen, auf denen Piñera als strahlender Gastgeber glänzen will, in der geplanten Form stattfinden werden. Am heutigen Freitagnachmittag soll in Santiago die bislang größte Massenkundgebung stattfinden.

Für eine neue Verfassung

Ein Ende des Ausnahmezustands, die Einberufung eines Verfassungskonvents, der einen Bruch mit dem neoliberalen Modell herbeiführen soll ­− so lauten die Forderungen der politischen Linken, vor allem der Kommunistischen Partei (PC), dem Linksbündnis «Breite Front», der sozialen Bewegungen und aus dem Kreis der RLS-Partner.

«Wir erleben wunderbare und chaotische Momente», sagt die Journalistin Lucía Sepúlveda. In und nach der Allendezeit vor knapp 50 Jahren war sie in der Partei «Revolutionäre Bewegung der Linken» (MIR) aktiv, heute tritt sie vor allem als Sprecherin des Bündnisses «Chile besser ohne Freihandelsabkommen» (Chile mejor sin TLC) in Erscheinung. «Ich  bin glücklich, das hier erleben zu dürfen und zu den Anstrengungen des Volkes beizutragen, um endlich das Erbe der Diktatur abzuschütteln».

Lucio Cuenca von der linken Öko-Organisation OLCA («Lateinamerikanisches Observatorium für Umweltkonflikte») baut darauf, dass «dass wir die Mauer des Neoliberalismus einreißen können». Er freut sich über eine Radikalisierung der Sozialistischen Partei und der PC und unerwartete Annäherungen in der oft zerstrittenen Linken, räumt aber ein, dass die sozialen Organisationen von der Dynamik des Aufstands ebenso überrascht waren wie die Regierung. «Viele Berufspolitiker auf allen Seiten haben den Kontakt zur sozialen Realität verloren».

Für César Bunster vom kommunistischen Bildungszentrum ICAL (Wissenschaftsinstitut Alejandro Lipschutz) ist es jetzt «das Wichtigste, dass wir tatsächlich einen Qualitätssprung schaffen, hinter den es kein Zurück gibt».

Eine Generation ohne Angst

Einen exzellenten Überblick der derzeitigen, von Hoffnung, Spannungen und Ungewissheit geprägten Lage gibt die junge Soziologin Pierina Ferretti von der NodoXXI-Stiftung im folgenden Interview:

RLS: Wie kam es zu dieser Explosion der Proteste? Was bringt die Menschen dazu, seit Tagen auf der Straße zu sein?

Pierina Ferretti: Das, was gerade in Chile passiert, ist ein Ausdruck eines sozialen Unbehagens, das sich seit langer Zeit in den verschiedenen sozialen Schichten aufgestaut hat. Daher diese enormen Proteste, die sich gerade über das ganze Land ausbreiten. Jetzt sind in jeder Stadt und in jedem Dorf, auch dort, wo es noch nie Proteste gegeben hat, Leute auf der Straße. Das spiegelt einen großen Unmut wider, die Erschöpfung, den Druck, den viele hier spüren.

Vielleicht ist es schwierig zu verstehen, dass in einem Land wie Chile eine derartige Explosion auf der Straße stattfindet. Ein Land, das sich nach außen und innen ein Image als stabiles Land geschaffen hat, in dem die Wirtschaft funktioniert, das systematisch die Armut reduziert, das im Überfluss konsumiert. Aber was das alles erklärbarer macht, sind die extrem prekären Arbeits- und Lebensbedingungen und die Unsicherheit, die viele von uns in diesem Land ständig spüren.

Wir haben Angst, krank zu werden, Angst vor dem Alter, weil die Renten miserabel sind. Unsere Arbeit ist extrem flexibilisiert und prekär, einen festen Job zu finden, schwierig, die Lebenshaltungskosten sind hoch und soziale Rechte gibt es nicht. Bildung z.B. ist teuer, die Studiengebühren für eine öffentliche Uni des chilenischen Staats kann locker umgerechnet 500 Euro monatlich kosten. Der Durchschnittslohn in Chile beträgt etwa 640 Euro; 50 Prozent verdient noch weniger, bis etwa 370 Euro. Die Renten liegen bei 260 Euro. Mit solchen Löhnen und Renten ist es unmöglich zu leben. Die Menschen haben diese Realität und diese Lebensbedingungen gründlich satt und das ist das, was gerade explodiert. 

Gegen wen richtet sich dieser Ausbruch?

Es gibt ein wachsendes Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen, politischen Parteien, dem Parlament, den Unternehmen. Das vorherrschende Gefühl ist, dass alle Institutionen von Eliten geleitet werden, die nur für ihre eigenen Interessen und Vorteile regieren und Gesetze machen – alles auf Kosten der Bevölkerung. Es gab sehr viele Fälle von Korruption im Militär, bei der Polizei, im Innern des Staates. Fälle, in denen der Staat großen Unternehmen Millionen an Steuerschulden erlassen hat, während er zugleich die kleinen Schuldner, die normale Bevölkerung verfolgt und bestraft.

Es hat sich das Gefühl breitgemacht, dass das System nur den Mächtigen nutzt und der Mehrheit der Leute schadet, denen, die von ihrer Arbeit leben und sich dafür sehr anstrengen müssen. Es gibt ein immer größeres Bewusstsein darüber, dass sich bestimmte Teile der gesellschaftlichen Elite permanent auf Kosten der breiten Bevölkerung bereichern.

Warum kommt es gerade jetzt zu diesem Ausbruch der Proteste?

Auch wenn das Ausmaß überraschend ist, kommt es nicht total unerwartet, wie einige Medien glauben machen wollen. Viele von uns waren sich bewusst darüber, dass dieses Land ein Druckkochtopf ist, der früher oder später explodieren würde.

Die Erhöhung der U-Bahnpreise war der Tropfen, der letzte Woche das Fass zum Überlaufen gebracht hat, in einem Meer aus Unzufriedenheit, Beklemmung und Druck, den viele Familien in Chile fühlen. Hinzu kommt, dass die jetzige rechte Regierung von Präsident Piñera die Wahlen mit einem Diskurs über Reaktivierung der Wirtschaft, Schaffung von Arbeitsplätzen, Verbesserung der Lebensbedingungen und Zugang zu Konsum gewonnen hat. Der Slogan war: «Es kommen bessere Zeiten.» Dieses Versprechen wurde nicht eingehalten, im Gegenteil. Piñera repräsentiert die Unternehmerklasse und symbolisiert jene Elite, die sich auf Kosten der Bevölkerung bereichert.

Daher auch der Demospruch: «Es sind nicht 30 Pesos, sondern 30 Jahre», in Anspielung auf den Auslöser der Proteste, die Erhöhung des Nahverkehrs, aber die eigentlichen Ursachen …

Das ist eine der wichtigsten der vielen Parolen, die gut zusammenfassen, was auf der Straße passiert. Der Neoliberalismus in Chile ist nicht der der 90er Jahre wie anderswo in Lateinamerika, sondern stammt aus einer Phase, die mit der Diktatur beginnt. Dieses Modell findet also seit Ende der 1970er Jahre Anwendung, und nach 40 Jahren Neoliberalismus werden die sozialen Auswirkungen immer spürbarer und radikaler. Das ist die materielle Basis dieses Ausbruchs. Es ist der Unmut des neoliberalen Chile.

Chile ist ein Land, das sich selbst als «neoliberales Paradies» versteht, mit einer Arbeiterklasse, die bereit ist, sehr harte flexible Arbeitsbedingungen auszuhalten, ohne Rechte –  unter Ausbeutungsbedingungen letztlich. Überhaupt gibt es in Chile gibt keine sozialen Rechte, die durch den Staat gewährleistet werden. Bildung, Rente, Wohnraum – alles wird von privaten Unternehmen geleistet, die aber gleichzeitig riesige Zuschüsse vom Staat erhalten.

Der Mythos, dass der Neoliberalismus den Staatshaushalt verkleinert, ist eine Lüge. Die öffentlichen Ausgaben sind enorm angestiegen, aber der Großteil geht an private Unternehmen, die mit sozialen Dienstleistungen Profit machen. Ein anderer Spruch ist: «Chile ist aufgewacht.» So heißt es überall. Es geht um das Ende des Missbrauchs und um Würde. Chile ist aufgewacht, und wir werden so lange auf der Straße sein, bis es sich zu leben lohnt.

Wer sind die Menschen, die jetzt auf die Straße sind?

Es ist eine massenhafte Bewegung von unten, die die chilenische Bevölkerung in ihrer Verschiedenheit repräsentiert. Eine der Konsequenzen aus 40 Jahren Neoliberalismus ist die stark segmentierte Bevölkerung, es ist keine homogene Gruppe, im Gegenteil. Es sind prekäre, ungelernte Arbeiter*innen, aber auch viele junge ausgebildete Leute, mit Uniabschluss, vielleicht die ersten in ihrer Familie, die zur Uni gegangen sind, aber deren Lohn nicht zum Leben reicht. Die nach Feierabend noch Uber fahren müssen, um bis zum Monatsende durchzukommen. Leute aus einer prekarisierten Mittelklasse, die zwar Zugang zu Konsum haben, aber ständig überarbeitet sind. Und daher immer wieder in die Schuldenfalle geraten.

Auch ein Teil der Menschen aus den reichen Vierteln machen cacerolazos, Kochtopfproteste. Das ist sehr beeindruckend, sie auf der Straße zu sehen, viele haben wahrscheinlich das Bild im Kopf, wie die gleichen Leute vor mehr als 40 Jahren gegen Salvador Allende auf Kochtöpfe getrommelt haben. Auch sie greifen die Slogans mit Forderungen nach einem lebenswerten Leben auf, obwohl sie nicht unter der Prekarisierung des Alltags leiden, obwohl sie selbst Teil der Elite sind, die in Frage gestellt wird.

Warum protestieren sie?

Das verbindende Element zwischen diesen Protestierenden ist die Empörung über die Korruption, über die nicht funktionierenden Institutionen, die katholische Kirche, die Kinder missbraucht, Polizei und Militär, die Kassen leeren. Es ist eine sehr breite Masse, die diese Proteste trägt, die ganze Breite der chilenischen Bevölkerung. All diese Leute sind auf der Straße.

Der Aufruhr ist so groß und repräsentiert so viele verschiedene Bereiche der Bevölkerung. Das ist eine Mobilisierung, die man unmöglich in eine Logik von rechts und links einordnen kann, die alle üblichen Kategorien der Analyse sprengt, mit denen man das Gefüge der sozialen Konflikte verstehen kann.

Gibt es Organisationen oder Gruppen, die die Proteste organisieren? 

Obwohl die Proteste so ein großes Ausmaß haben, handelt es sich um einen spontanen Ausbruch. Das sagt viel über die Subjekte aus, die auf der Straße sind. Natürlich sind wir alle, die in Chile irgendwie politisch organisiert und aktiv sind, Teil der Proteste: Gewerkschaften, Parteien, soziale Organisationen. Aber wir haben das nicht initiiert. Wir, die organisierte Gesellschaft, führen nicht diesen Protest an, und es ist unmöglich, ihn zu steuern. Das ist eine Gesellschaft, die sich selbst spontan zusammengefunden hat. 

In den ersten Tagen waren keine Fahnen von Parteien oder Organisationen auf den Plätzen zu sehen, die Leute waren da, aber nicht, um ihre Organisationen zu repräsentieren. Es gab keine Sprecher, keine Bühnen, nur spontane selbstbestimmte Zusammenkünfte. Die Leute sind alleine gekommen, mit Freunden oder mit der Familie. Das sagt viel über die chilenische Gesellschaft heute aus, bei diesen Protesten sind nicht nur die politisch Aktiven, die immer bei allen Protesten sind, diese Proteste überschreiten alle Grenzen und folgen daher weder der Logik noch den Diskursen noch der Leitung der Organisationen. Das ist die größte Reaktion auf einen Aufruf, die wir in diesem Land je gesehen haben, der Aufruf kam von niemandem und gleichzeitig von allen zusammen. Die Leute, die da draußen sind, haben wahrscheinlich noch nie in ihrem Leben demonstriert, jetzt sind wir alle da. Das Spontane, das jede Organisierung übersteigt, ist beeindruckend.

Kannst du beschreiben, was in diesen Tagen auf den Straßen passiert?

In Santiago hat sich die Dynamik entwickelt, zur Plaza Italia, dem wichtigsten Platz der Stadt zu gehen und den Tag dort zu verbringen, bis die Sperrstunde beginnt. Dieser Tage waren es bestimmt 500 000 Menschen. Es ist eine Mischung aus Fiesta, Protest und Repression. Leute mit Kochtöpfen, Leute, die tanzen, die Choreografien machen, die schreien, die klatschen, die drum herumstehen und Bier trinken. Und gleichzeitig die Polizei, die unterdrückt, die versucht, die Leute auseinanderzutreiben, aber die Leute bleiben. Abends gehen die Leute in ihren Vierteln massenweise mit Kochtöpfen auf die Straße – eine generelle Widersetzung gegen die Sperrstunde.

Es ist das erste Mal seit der Diktatur, dass es wieder eine Sperrstunde gibt, die älteren Generationen, die das erlebt haben, hatten Angst, dass die Leute drinnen bleiben würden. Aber im Gegenteil, die Leute gehen massenhaft nach draußen, um cacerolazos zu machen. Aber wir sehen auch die Militärs parieren. Das Militär auf den Straßen ist kein Spiel, sondern eine Lebensgefahr, die zielen auf uns mit ihren Gewehren. Und trotzdem gehen die Leute weiter raus und widersetzen sich sehr eindrucksvoll der Sperrstunde. Es ist eine Generation, die keine Angst hat. Sondern die Kraft, den Autoritarismus herauszufordern! Nicht nach Hause zu gehen, trotz der Brutalität und der schrecklichen Bilder, die rumgehen. Sie protestieren weiter und sind immer noch auf der Straße. 

Chile ist eins der Länder mit einer der stärksten feministischen Bewegung in den letzten Jahren. Glaubst Du, dies hat einen Einfluss auf den jetzigen Ausbruch gehabt? Wie seht Ihr die Situation aus feministischer Perspektive?

Zum einen ist da die Sensibilität, die der Feminismus in der Gesellschaft geschaffen hat. Und, was sehr klar wird, ist, dass die Müdigkeit, Erschöpfung und Überforderung im Privaten, hinter verschlossenen Türen durchlebt wird, zuhause in Einsamkeit, unterstützt nur durch familiäre und persönliche Netzwerke. Dieser Ausbruch hat dieses Leiden, was drinnen stattfindet, raus aus den Häusern auf die Plätze geholt, aus dem Privaten raus auf die Straße ins Öffentliche. Oft haben sich die Leute selbst die Schuld für diese Situationen der Überforderung gegeben, gedacht, nicht gut genug zu sein, nicht auszureichen, dass individuelle Unzulänglichkeiten Schuld seien.

Diese Beklemmung kommt nun raus aus dem Verschlossenen in den öffentlichen Raum. Es wird klar, dass es sich um strukturelle Bedingungen handelt, soziale Gründe des Systems, die nichts mit individuellem Anstrengen zu tun haben. Das ist ein zentrales Element unserer feministischen Perspektive auf Gewalt oder Schulden zum Beispiel: Raus aus dem Zwang der vier Wände, raus aus dem Privaten und Öffnung ins Kollektive. Kollektive Lösungen für die Situationen suchen, die Unsicherheit produzieren. Der gesellschaftliche Ausbruch jetzt folgt der gleichen Richtung, vom Privaten ins Öffentliche.

Wie wird es jetzt weitergehen? Welchen Ausweg kann es aus dieser Situation geben?

Es ist alles sehr offen. Manche setzen darauf, die Bevölkerung komplett zu zermürben, damit Chaos entsteht, damit die Regierung weiter Gewalt anwenden kann ­− das ist eine der Strategien. Wenn es soweit kommen sollte, dass die Proteste anfangen zu bröckeln, wird es schwierig sein. Aber wenn die Proteste und Aktionen sich diversifizieren und weiterwachsen, wenn es weiter Leute gibt, die Versammlungen machen, kulturelle Aktionen, in den Unis, Schulen, an den Arbeitsplätzen, eröffnen sich mehr Möglichkeiten für einen demokratischen Ausweg ­− eine Lösung, die einen wirklichen Fortschritt für soziale Rechte und einen wirklichen Rückschritt für den Neoliberalismus in Chile bedeuten könnte.