Nachricht | Radikalenerlass, Berufsverbote und was von ihnen geblieben ist; Köln 2019

11.000 Verfahren - Blaupause zur autoritären Formierung der Gesellschaft

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Autor

Florian Grams,

Cover des Buches, Ausriss

Mit der Veröffentlichung des so genannten «Radikalenerlasses» im Jahr 1972 begann in der Bundesrepublik eine Welle der Repression gegen Kommunist*innen, Sozialist*innen und Demokrat*innen. In der Folge wurden 3,5 Millionen Menschen per Regelanfrage beim Verfassungsschutz darauf hin überprüft, ob sie die Gewähr dafür bieten, jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzustehen. In 11.000 Fällen kam es zu Berufsverbotsverfahren und 1.500 Menschen im öffentlichen Dienst wurden tatsächlich Berufsverbote ausgesprochen. Für die Betroffenen bedeuteten diese Maßnahmen Stigmatisierung, den Abbruch der beruflichen Laufbahn und nicht zuletzt empfindliche Einbußen bei der Altersversorgung. Nicht zu unterschätzen ist dabei aber auch die disziplinierende Wirkung der angedrohten Ausgrenzung auf das Engagement von Menschen, die fürchten mussten, aufgrund von politischer Aktivität die eigenen Zukunftspläne zu gefährden. Trotz der faktischen Schwäche der politischen Linken in der Bundesrepublik wurde sie mit ganzer Kraft von der staatlichen Repression getroffen. Mit den Worten Franz Mehringsvon 1903 kann formuliert werden, dass sich die Regierung zwar keine Illusionen über die praktische Schwäche der Linken machte, aber «[…] das Schreckgespenst einer unheimlichen Verschwörung [brauchte F.G.], um die letzten Reste von Widerstand in der bürgerlichen Klasse zu lähmen.»

Florian Grams ist Mitglied des Gesprächskreises Geschichte der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Mehr als 40 Jahre nach der Einführung des «Radikalenerlasses» gehört er noch immer zur juristischen Realität. In einigen Bundesländern ist er noch in Kraft, in anderen wird er zurzeit nicht angewendet, existiert aber dennoch fort. Rehabilitiert sind seine Opfer zudem noch in keinem Bundesland. Grund genug, den «Radikalenerlass» und die Berufsverbote in den Blick zu nehmen und der Frage nachzugehen, was von ihnen geblieben ist. Dieser Aufgabe hat sich nun eine Redaktion im Auftrag der Heinz-Jung-Stiftung gestellt. Sie hat Autor*innen gewonnen, die sich den bundesdeutschen Berufsverboten aus historiographischer, politikwissenschaftlicher und juristischer Perspektive nähern. Einen Schwerpunkt bildet zudem die Darstellung der Vorgänge aus der Sicht der Betroffenen, um ihre individuellen Biographien sichtbar zu machen. Bei allen Beiträgen des Buches wird indes deutlich, dass es ihnen auch darum ging – wie es in der Einleitung des Buches heißt - «[…] die omnipräsente Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik insgesamt zu irritieren, indem grundsätzliche Demokratiedefizite enttarnt und zur öffentlichen Diskussion gestellt werden. » (21)

In seinem einleitenden Aufsatz beschreibt Georg Fülberth die bundesdeutschen Berufsverbote als ein Instrument mit drei unterschiedlichen Funktionen. Sie seien die Fortsetzung einer deutschen Tradition, die bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht, sie sei ein Manöver zur Absicherung der seinerzeitigen sozialliberalen Koalition. Schließlich sind sie aber auch ein «gegenwärtiges und zukünftiges Herrschaftsinstrument» (33). Patrick Ölkrug zeichnet die Geschichte der Verfolgung von Linken in Deutschland vom Wiener Kongress bis zur Befreiung vom Faschismus nach. André Leisewitz ordnet den «Radikalenerlass» in die politische Situation seiner Entstehung ein und charakterisiert ihn dabei als Staatsschutz unterhalb des Parteienverbotes – mithin als eine Vorverlegung der Verteidigungslinie der Staatsmacht. Weitere Aufsätze widmen sich der antitotalitären Ideologie und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zu den Berufsverboten. Nach der Darstellung ausgewählter Berufsverbotsfälle werden die Bewegung gegen die Berufsverbote und die internationale Solidarität mit den Betroffenen in Blick genommen, aber auch die ambivalente Reaktion der bundesdeutschen Gewerkschaften.

Im letzten Abschnitt des Buches geht es um die Aktualität des «Radikalenerlasses». Anhand der fortgesetzten Beobachtung von Silvia Gingold und Michael Csaszkóczy durch den Verfassungsschutz und des angedrohten Berufsverbotes für Kerem Schamberger wird deutlich, dass dieses Instrument nach wie vor als Damoklesschwert über den Köpfen von Linken, Antifaschist*innen und Demokrat*innen hängt. Es wirkt auf diese Weise als Blaupause zur autoritären Formierung der Gesellschaft. Es zu beseitigen, bedarf es auch einer gesetzlichen Regelung zur Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer. «Für die hierzu erforderlichen Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag muss allerdings noch gesorgt werden.» (111) Einen Beitrag in diesem Kampf geleistet zu haben, kann als Verdienst des vorliegenden Buches gelten.

Florian Grams

Heinz-Jung-Stiftung (Hg.), Wer ist denn hier der Verfassungsfeind! Radikalenerlass, Berufsverbote und was von ihnen geblieben ist. PapyRossa-Verlag, Köln 2019, 230 S., 18 EUR, ISBN 978-3-89438-720-4