Nachricht | Schlott (Hg.): Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie; Göttingen 2019

Band 35 der «Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus» erschienen

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Raul Hilberg (1926-2007) war, zusammen mit z.B. Joseph Wulf oder Léon Poliakov einer der ersten Wissenschaftler weltweit, der sich systematisch mit dem Völkermord an den Juden und Jüdinnen Europas beschäftigte. In seiner 1955 abgeschlossenen Dissertation «The Destruction of the European Jews», die erstmals 1961 in englischer Sprache publiziert wurde, analysierte er das Verfolgungsgeschehen als einen komplexen administrativen Prozess. Hilbergs stets quellenreiche Forschung kreiste sein ganzes Leben um die Vorstellung von Bürokratie, ja einer bürokratischen Maschine und der dazugehörigen Sprache. Der Holocaust war für Hilberg und die von ihm beeinflussten ForscherInnen ein dezentraler, arbeitsteiliger, prozesshafter und komplexer Vorgang. Hilberg lebte in den USA, arbeitete an der kleinen University of Vermont in Burlington, und konnte dort selbst keine Dissertationen abnehmen, so dass die direkte Bildung einer «Schule» erschwert war. Die Dissertation erschien erst 1982 auf Deutsch im kleinen trotzkistischen Verlag Olle & Wolter. Größere Resonanz fand sie erst ab 1990, als «Die Vernichtung der europäischen Juden» in mehreren Auflagen in einer preiswerten Taschenbuchausgabe bei Fischer erschien.

Die insgesamt 18 Beiträge des hier vorliegenden Bandes resultieren aus Vorträgen der Konferenz «Raul Hilberg (1926-2007) und die Holocaust-Historiographie», die aus Anlass des 10. Todestages von Hilberg im Oktober 2017 in Berlin stattfand. Sie umreißen Bedeutung und Schranken des Werkes von Hilberg, untersuchen seine Rezeption, ja sogar Hilbergs Schreibstil. Hilberg war Muttersprachler, da er bis 1939 in Wien gelebt hatte. Über ihn wurde gesagt, er schreibe so nüchtern und effektiv wie die Sprache der Dokumente der von ihm untersuchten Täter.

Im Band finden sich Texte u.a. von Nikolas Berg, Christopher Browning, Norbert Frei, Alfons Söllner oder Sybille Steinbacher, der Direktorin des Fritz-Bauer-Instituts. Er bringt den LeserInnen sowohl den Menschen Hilberg näher, eingebunden in die jeweilige Gegenwart; als auch den lange unerkannten Innovationsgehalt wie die Grenzen seiner Forschung. Hilbergs Doktorvater war Franz L. Neumann, dessen Standardwerk «Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933 - 1944» auch erst 1977, über 30 Jahre nach seinem Erscheinen in den USA auf Deutsch veröffentlicht wurde (und 1994 dann als Taschenbuch), sehr ähnlich wie Hilbergs Opus Magnum.

Die Zeitschrift «Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus» erscheint seit 1985 (jährlich) in Buchform, bis zur Nummer 15 mit einem «sozialrevolutionären» Ansatz als «Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik», ab Nummer 16 dann mit neuer Redaktion und seit dem Jahr 2002 beim renommierten Wallstein Verlag unter dem aktuellen Titel.

René Schlott (Hg.): Raul Hilberg und die Holocaust-Historiographie (Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus, Band 35), Wallstein Verlag, Göttingen 2019, 288 Seiten, 20 EUR